Christus begegnen

CHRISTLICHE BERUFUNGCHRISTI TRIUMPH IN SEINER DEMUTDIE EHE, EINE CHRISTLICHE BERUFUNGDIE ERSCHEINUNG DES HERRNIN JOSEFS WERKSTATTDIE BEKEHRUNG DER KINDER GOTTESDER CHRIST UND DIE ACHTUNG DER PERSON UND IHRER FREIHEITDER INNERE KAMPFDIE EUCHARISTIE, GEHEIMNIS DES GLAUBENS UND DER LIEBEDER TOD CHRISTI, DAS LEBEN DES CHRISTENCHRISTI GEGENWART IN DEN CHRISTENCHRISTI HIMMELFAHRTDER GROSSE UNBEKANNTEDURCH MARIA ZU JESUSFRONLEICHNAMCHRISTI HERZ, FRIEDEN DES CHRISTENMARIA, URSACHE UNSERER FREUDECHRISTKÖNIG

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(Homilie, gehalten am 2. Dezember 1951, 1. Adventssonntag.)

1 Das liturgische Jahr beginnt, und der Introitus der heiligen Messe fordert uns auf, eine Wirklichkeit zu bedenken, die eng mit dem Beginn unseres christlichen Lebens zusammenhängt: die Berufung, die wir empfangen haben. Vias tuas, Domine, demonstra mihi, et semitas tuas edoce me [Ps 25,4]; Herr, zeige mir Deine Wege, lehre mich Deine Pfade. Wir bitten den Herrn, Er möge uns führen, Er möge uns seine Wege zeigen, damit wir zu jener Vollendung seiner Gebote gelangen, welche die Liebe ist. [Vgl. Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27].
Wenn ihr an die Umstände denkt, die eure Entscheidung, euch für ein echtes Leben aus dem Glauben einzusetzen, begleitet haben, dann werdet ihr – wie ich – dem Herrn sehr viel danken, in der aufrichtigen Überzeugung ohne falsche Demut –, daß es kein eigenes Verdienst war. In der Regel lernten wir von klein auf, aus dem Mund christlicher Eltern, Gott anzurufen; später haben uns Lehrer, Kollegen, Bekannte tausendfach geholfen, Jesus Christus nicht aus den Augen zu verlieren.
Eines Tages – ich will hier nicht verallgemeinern: öffne du selbst dem Herrn dein Herz und erzähle Ihm deine eigene Geschichte – war es vielleicht ein Freund, ein gewöhnlicher Christ wie du, der dir eine tiefere Sicht erschloß, neu und doch zugleich alt wie das Evangelium. Er zeigte dir die Möglichkeit, dich ernsthaft um die Nachfolge Christi zu bemühen und Apostel von Aposteln zu sein. Vielleicht war es von diesem Augenblick an mit deiner Ruhe vorbei, und du erlangtest sie erst wieder, in Frieden verwandelt, als du freiwillig Gott mit einem Ja geantwortet hattest: weil du – und das ist ein sehr übernatürlicher Grund – es eben so wolltest. Und dann kam die Freude, jene starke und beständige Freude, die nur dann schwindet, wenn du dich von Ihm abwendest.
Ich rede nicht gern von Auserwählten und Privilegierten; aber es ist Christus selbst, der davon spricht und der auserwählt, es ist die Sprache der Heiligen Schrift: elegit nos in ipso ante mundi constitutionem – sagt der heilige Paulus – ut essemus sancti [Eph 1,4]. Er hat uns auserwählt, schon vor Erschaffung der Welt, daß wir heilig seien. Ich weiß, daß dich dies nicht hochmütig macht, und daß du dich deswegen nicht für besser als die anderen Menschen hältst. Diese Auserwählung, die Wurzel der Berufung, soll gerade die Grundlage deiner Demut sein. Ist dem Pinsel eines großen Malers je ein Denkmal gesetzt worden? Er diente dazu, Meisterwerke zu schaffen, aber das Verdienst gehört dem Künstler. Wir Christen sind nur Werkzeuge des Schöpfers der Welt, des Erlösers aller Menschen.

Die Apostel waren gewöhnliche Menschen

2 Es ermutigt mich, ein ganz ähnliches Ereignis zu betrachten, dessen Hergang Schritt für Schritt auf den Seiten des Evangeliums erzählt wird: die Berufung der ersten Zwölf. Wir wollen sie langsam erwägen und dabei diese heiligen Zeugen des Herrn darum bitten, daß wir Christus nachzufolgen verstehen, wie sie es taten.
Jene ersten Apostel, die ich so sehr liebe und verehre, galten, nach menschlichen Maßstäben, recht wenig. Was ihre gesellschaftliche Stellung angeht, waren sie – mit Ausnahme von Matthäus, der sicherlich gut verdiente und dann alles verließ, als Jesus ihn dazu aufforderte – allesamt Fischer. Sie lebten von der Hand in den Mund und arbeiteten nachts für ihren Lebensunterhalt.
Die gesellschaftliche Stellung mag vielleicht am wenigsten zählen. Doch sie waren auch nicht gebildet, nicht einmal sonderlich begabt, wenigstens was die übernatürlichen Dinge betrifft. Selbst die einfachsten Beispiele und Vergleiche wollten ihnen nicht eingehen, sie wandten sich an den Meister: Domine, edissere nobis parabolam [Mt 13,36]. Herr, erkläre uns das Gleichnis. Als Jesus sie einmal in bildlicher Rede vor dem Sauerteig der Pharisäer warnt, denken sie, Er tadele sie, weil sie kein Brot gekauft hätten [Vgl. Mt 16,6-7].
Arm, unwissend. Nicht einmal einfach und schlicht sind sie. Bei aller Beschränktheit sind sie obendrein voll Ehrgeiz. Oft streiten sie darüber, wer der größte von ihnen sein wird, wenn – nach ihren Vorstellungen – Christus endgültig das Reich Israel auf Erden errichtet haben wird. Sie streiten und erhitzen sich während des erhabenen Augenblicks, da Jesus im Begriff ist, sich für die Menschheit zu opfern, beim Letzten Abendmahl [Vgl. Lk 22, 24-27].
Glaube, wenig. Christus selbst sagt es ihnen [Vgl. Mt 14, 31; 16,8; 17,19; 21,21]. Sie sahen Ihn Tote auferwecken, Krankheiten aller Art heilen, Brot und Fische vermehren, Stürme stillen, Teufel austreiben.
Der heilige Petrus, zum Haupt ausersehen, ist der einzige, der ohne Umschweife antworten kann: Du bist Christus, der Sohn des lebendigen Gottes [Mt 16,16]. Doch er interpretiert diesen Glauben auf seine Art und erlaubt sich, Christus Vorhaltungen zu machen, damit Er sich nicht zum Heil der Menschen hingebe. Jesus muß ihm entgegentreten: Weg von mir, Satan! Du bist mir zum Ärgernis. Du hältst es nicht mit Gott, sondern mit den Menschen [Mt 16,23].
Petrus – bemerkt der heilige Johannes Chrysostomus – dachte nach Menschenart und meinte, das alles – Passion und Tod – wäre Christi unwürdig, verwerflich, Darum tadelt ihn Jesus und sagt ihm; nein, Leiden ist meiner nicht unwürdig; du denkst nur so, weil du nach Menschenart urteilst, nach Art des Fleisches [Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae, 54,4 (PG 58, 537)].
Zeichneten sich diese kleingläubigen Männer vielleicht durch ihre Liebe zu Christus aus? Kein Zweifel, daß sie Ihn liebten, zumindest mit Worten. Mitunter werden sie hingerissen von Begeisterung: Laßt uns mitgehen, um mit Ihm zu sterben! [Jo 11,16]Doch in der Stunde der Wahrheit fliehen alle, außer Johannes, der wirklich mit Werken liebte. Nur er, der jüngste unter den Aposteln, bleibt unter dem Kreuz. Die anderen empfanden nicht jene Liebe, die stark ist wie der Tod [Hl 8,6].
Das waren die vom Herrn erwählten Jünger; so sucht sie Christus aus; so traten sie auf, bevor sie, voll des Heiligen Geistes, zu Säulen der Kirche wurden [Vgl. Gal 2,9]. Es sind gewöhnliche Menschen, mit Fehlern und Schwächen, mit Worten, die weiter als ihre Taten reichen. Und dennoch: Jesus ruft sie, um aus ihnen Menschenfischer [Mt 4,19], Miterlöser, Verwalter der Gnade Gottes zu machen.

3 Ähnlich ist es bei uns gewesen. Mühelos ließen sich in unserer Familie, unter unseren Freunden und Kollegen, um nicht vom weiten Panorama der Welt zu reden, viele Menschen mit besseren Voraussetzungen für den Ruf Christi finden: Menschen, die einfacher, klüger, einflußreicher, bedeutender, dankbarer, großherziger sind als wir.
All das beschämt mich, wenn ich darüber nachdenke. Aber ich bin mir auch bewußt, daß unsere menschliche Denkart nicht taugt, um die Wirkungen der Gnade zu erklären.
Gott sucht sich gewöhnlich schwache Werkzeuge aus, damit sich klar zeigt, daß das Werk seines ist. Die Stimme des Apostels Paulus bebt noch bei dem Gedanken an seine eigene Berufung: Zu allerletzt ist Er auch mir erschienen, der ich doch gleichsam eine Mißgeburt war. Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, nicht wert, Apostel zu heißen. Denn ich habe die Kirche Gottes verfolgt [1 Kor 15,8-9]. So schreibt Saulus aus Tarsus, dessen Persönlichkeit und dessen Kraft im Verlauf der Geschichte nur noch größer geworden sind.
Von unserer Seite ohne jegliches Verdienst, sagte ich euch; denn untrennbar verbunden mit unserer Berufung ist die Erkenntnis unserer Armseligkeit und die Überzeugung, daß das Licht, das die Seele erleuchtet – der Glaube – die Liebe, mit der wir lieben – die caritas – und die Sehnsucht, die uns trägt – die Hoffnung – lauter Gaben Gottes sind. Wenn wir also nicht in der Demut wachsen, verlieren wir das Ziel der göttlichen Auserwählung aus den Augen: ut essemus sancti, die persönliche Heiligkeit.
Von dieser Demut her können wir nunmehr die ganze Herrlichkeit des göttlichen Rufes begreifen. Die Hand Christi hat uns vom Weizenfeld aufgelesen. Der Sämann drückt die Weizenkörner in seiner durchbohrten Hand, das Blut Christi durchtränkt sie.
Dann wirft der Herr den getränkten Weizen in den Wind, damit er im Sterben Leben bringe und, einmal in die Erde gesenkt und begraben, sich in goldenen Ähren vervielfältigen kann.

Es ist an der Zeit aufzuwachen

4 Die Lesung der heiligen Messe erinnert uns daran, daß wir diese Verantwortung als Apostel mit erneuertem Geist übernehmen sollen, mutig und wach. Die Stunde ist da, nunmehr aus dem Schlaf zu erwachen. Denn jetzt ist unser Heil näher als damals, da wir gläubig geworden sind. Die Nacht ist vorgeschritten, der Tag herangekommen. So laßt uns ablegen die Werke der Finsternis und anziehen die Waffen des Lichtes [Röm 13,11-12].
Ihr werdet mir sagen, das sei nicht leicht. Und es stimmt. Die Feinde des Menschen, die Feinde seiner Heiligkeit, versuchen, dieses neue Leben, das Anziehen des Geistes Christi, zu vereiteln. Ich kenne keine bessere Aufzählung der Hindernisse für die christliche Treue als die des heiligen Johannes: concupiscentia carnis, concupiscentia oculorum et superbia vitae [1 Jo 2,16], Fleischeslust, Augenlust und Hoffart des Lebens.

5 Die Begierde des Fleisches ist nicht allein das ungeordnete Streben der Sinne im allgemeinen; auch nicht das sexuelle Begehren, das geordnet sein soll und in sich nicht böse, sondern vielmehr etwas echt Menschliches ist, das geheiligt werden kann. Gerade deshalb rede ich nie von Unreinheit, sondern von Reinheit, denn an alle richten sich die Worte des Herrn: Selig, die reinen Herzens sind! Sie werden Gott anschauen [Mt 5,8]. Aufgrund göttlicher Berufung sollen die einen diese Reinheit in der Ehe leben, die anderen im Verzicht auf diese menschliche Liebe, um ausschließlich und leidenschaftlich der Liebe Gottes zu entsprechen. Weder diese noch jene aber werden Knechte der Sinnlichkeit sein, sondern Herren ihres Leibes und ihres Herzens, um sie mit Opfergeist anderen schenken zu können.
Wenn ich von der Tugend der Reinheit spreche, so sage ich: die heilige Reinheit. Denn die christliche Reinheit ist heilig. Sie hat nichts mit der hochmütigen Haltung gemeinsam, sich als rein, als unbefleckt zu betrachten. Vielmehr besteht sie in dem Wissen darum, daß unsere Füße aus Lehm sind [Dn 2,33], auch wenn die Gnade Gottes uns Tag für Tag von den Nachstellungen des Feindes befreit. Ich halte es für eine Entstellung des Christentums, wenn einige fast ausschließlich über diese Dinge schreiben und predigen und dabei andere Tugenden vernachlässigen, die von entscheidender Bedeutung für den Christen sind sowie allgemein für das Zusammenleben der Menschen.
Die heilige Reinheit ist weder die einzige noch die wichtigste Tugend für den Christen. Aber sie ist unentbehrlich bei unserem täglichen Bemühen um die Heiligkeit; wenn sie nicht gelebt wird, dann ist apostolischer Einsatz unmöglich. Die Reinheit ist eine Folge der Liebe, in der wir dem Herrn Seele und Leib, Geist und Sinne geschenkt haben. Sie ist nicht Verneinung, sondern freudige Bejahung.
Ich sagte, daß die Begierde des Fleisches nicht auf eine ungeordnete Sinnlichkeit beschränkt bleibt; ihre Folgen sind auch Bequemlichkeit, mangelnder Schwung, die Neigung, das Leichtere, das Angenehmere, den Weg des geringsten Widerstandes zu suchen, auch wenn es um den Preis eines Nachlassens in der Treue zu Gott geschieht.
Ein solches Verhalten würde bedeuten, sich der Herrschaft jenes anderen Gesetzes, des Gesetzes der Sünde, bedingungslos zu unterwerfen, vor dem uns der heilige Paulus warnt: Und so finde ich das Gesetz vor: Wenn ich das Gute tun will, stoße ich auf ein Gesetz, nach dem mir das Böse näher liegt. Dem inneren Menschen nach habe ich zwar Freude am Gesetze Gottes. Aber ich nehme in meinen Gliedern ein anderes Gesetz wahr, das im Streit liegt mit dem Gesetze meines Geistes und mich dem Gesetz der Sünde unterwirft… Infelix ego homo! Ich unglückseliger Mensch! Wer erlöst mich von diesem todgeweihten Leibe? [Röm 7,21-24] Hört, was der Apostel antwortet: Die Gnade Gottes, durch Jesus Christus unseren Herrn [Röm 7,25]. Wir können und müssen gegen die Begierde des Fleisches kämpfen, denn die Gnade des Herrn fehlt nie, wenn wir demütig sind.

6 Der andere Feind, von dem der heilige Johannes spricht, ist die Begierde der Augen – eine abgrundtiefe Gier, die uns nur das schätzen läßt, was man betasten kann. Es sind Augen, die am Irdischen kleben, aber auch Augen, die eben deshalb unfähig sind, das Übernatürliche zu entdecken. Wir können also das Wort der Heiligen Schrift auch auf die Gier nach materiellen Gütern beziehen und darüber hinaus auf jene verzerrte Sicht, die uns alles, was uns umgibt – die anderen Menschen, unser Leben und unsere Zeit – rein menschlich betrachten läßt.
Die Augen der Seele trüben sich, der Verstand hält sich allein für fähig, alles zu verstehen, ohne Gott in Betracht zu ziehen. Es ist eine subtile Versuchung, die sich geschickt auf die Würde der menschlichen Vernunft beruft, die Gott, unser Vater, dem Menschen gegeben hat, damit er Ihn erkenne und in Freiheit liebe. Getrieben von dieser Versuchung, hält sich die menschliche Vernunft für die Mitte des Universums; sie berauscht sich noch einmal an dem ihr werdet wie Götter sein [Gn 3,5], und indem sie sich in sich selbst verliebt, wendet sie sich von der Liebe zu Gott ab.
Auf diesem Weg können wir in die Hände des dritten Feindes, der superbia vitae, geraten. Dabei handelt es sich nicht nur um vorübergehende Gedanken der Eitelkeit oder der Selbstliebe: Es ist eine umfassende Aufgeblasenheit. Täuschen wir uns nicht: Dies ist das schlimmste Übel und der Ursprung aller Irrwege. Der Kampf gegen den Hochmut muß beharrlich sein. Nicht von ungefähr hat man treffend gesagt, diese Leidenschaft sterbe erst einen Tag nach dem Tod des Menschen. Es ist der Übermut des Pharisäers, und es widerstrebt Gott, ihn zu rechtfertigen, da Er bei ihm auf eine Mauer der Selbstgerechtigkeit stößt. Es ist die Arroganz, die dazu führt, die anderen Menschen zu verachten, sie zu beherrschen und zu mißhandeln; denn wo Hochmut, dort Beleidigung und Entwürdigung [Spr 11,2].

Das Erbarmen Gottes

7 Heute beginnt die Adventszeit, und es ist gut, daß wir die Nachstellungen dieser Feinde unserer Seele bedacht haben: die ungeordnete Sinnlichkeit und die bequeme Leichtfertigkeit; die Verirrung des Verstandes, der sich dem Herrn entgegenstellt; den hochmütigen Stolz, der die Liebe zu Gott und zu den Geschöpfen veröden läßt. Alle diese Geisteshaltungen sind klare Hindernisse, und ihre zerstörende Kraft ist groß. Darum läßt uns die Liturgie die göttliche Barmherzigkeit anflehen: Zu Dir, o Herr, erhebe ich mein Herz. Mein Gott, ich vertraue auf Dich. Laß mich nimmer zuschanden werden. Laß meine Feinde nicht über mich jubeln [Ps 25,1-3], haben wir im Introitus gebetet. Und in der Antiphon des Offertoriums sagen wir: Ich hoffe auf Dich, daß ich nicht zuschanden werde!
Jetzt, da die Zeit des Heiles naht, ist es tröstlich, bei den Worten des heiligen Paulus zu verweilen: Dann aber erschien die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes, unseres Heilandes, und brachte uns das Heil, nicht wegen gerechter Werke, die wir getan, sondern nach seinem Erbarmen [Tit 3,4-5].
Überall in der Heiligen Schrift werdet ihr die göttliche Barmherzigkeit entdecken: sie erfüllt die Erde [Ps 33,5], erstreckt sich auf alle seine Kinder, super omnem carnem [Sir 18,12]; sie umgibt uns [Ps 32,10]und geht uns voraus [Ps 59,11], sie vervielfältigt sich, um uns zu helfen [Ps 36,8], und sie ist ständig bestätigt worden [Ps 117,2]. Wenn Gott sich uns wie ein liebender Vater zuwendet, betrachtet Er uns in seiner Barmherzigkeit [Ps 25,7]: einer Barmherzigkeit, die mild ist [Ps 109,21], schön wie ein Gewitterregen zur Zeit der Dürre [Sir 35,26].
Jesus faßt diese lange Geschichte der göttlichen Barmherzigkeit zusammen und vollendet sie: Selig die Barmherzigen! Sie werden Barmherzigkeit erlangen [Mt 5,7]. Und ein anderes Mal: Seid also barmherzig, wie euer Vater im Himmel barmherzig ist [Lk 6,36]. Neben vielen anderen Szenen des Evangeliums haben sich uns auch diese besonders eingeprägt: die Milde gegen die Ehebrecherin, die Gleichnisse vom verlorenen Sohn, vom verlorenen Schaf, vom Gläubiger, dem die Schuld erlassen wird, die Auferweckung des Sohnes der Witwe von Naim [Lk 7,11-17]. Wie viele Gründe der Gerechtigkeit könnten zur Erklärung dieses großen Wunders angeführt werden! Der einzige Sohn dieser armen Witwe, der ihrem Leben Sinn gab, der ihr im Alter beistehen könnte, ist gestorben. Doch Christus wirkt das Wunder nicht aus Gründen der Gerechtigkeit. Er tut es aus Mitgefühl, weil das menschliche Leid Ihn ergriffen hat.
Welche Sicherheit muß uns die Anteilnahme des Herrn einflößen! Er wird zu mir rufen, und ich werde ihn erhören, denn ich bin barmherzig [Ex 22,27]. Eine Einladung, ein Versprechen, das Er nicht unerfüllt lassen wird. Laßt uns also mit Zuversicht zum Thron der Gnade hintreten, damit wir Barmherzigkeit erlangen und Gnade finden, wenn wir der Hilfe bedürfen [Hebr 4,16]. Die Feinde unserer Heiligung werden nichts ausrichten, denn die Barmherzigkeit des Herrn beschützt uns. Und wenn wir durch eigene Schuld und eigene Schwäche fallen, wird uns der Herr erretten und aufrichten. Du hattest gelernt, die Nachlässigkeit zu meiden, den Hochmut fern von dir zu halten, Frömmigkeit zu erwerben, dich von den menschlichen Belangen nicht gefangennehmen zu lassen, das Vergängliche nicht dem Ewigen vorzuziehen. Da aber die menschliche Schwäche in einer rutschigen Welt nicht festen Tritt wahren kann, hat dir der gute Arzt auch Mittel gegen die Verirrung gezeigt, und der barmherzige Richter hat dir die Hoffnung auf Vergebung nicht verweigert [Ambrosius, Expositio Evangelii secundum Lucam, 7. (PL 15, 1540)].

Das Ja des Menschen

8 In diesem Klima der göttlichen Barmherzigkeit vollzieht sich die Existenz des Christen. Unter diesen Vorzeichen kämpft er darum, sich wie ein echter Sohn seines Vaters zu verhalten. Welches sind nun die Hauptmittel zur Festigung der Berufung? Heute möchte ich dich auf zwei hinweisen, die wie lebendige Achsen unseres christlichen Verhaltens sind: das innere Leben und die Bildung in der christlichen Lehre, die vertiefte Kenntnis unseres Glaubens.
Zuerst das innere Leben. Wie wenige verstehen das heute noch! Wenn sie vom inneren Leben hören, denken sie an das Halbdunkel des Tempels, wenn nicht gar an die muffige Atmosphäre einiger Sakristeien. Seit mehr als einem Vierteljahrhundert wiederhole ich, daß dies nicht das innere Leben ist. Mir geht es um das innere Leben von gewöhnlichen Christen, die in einer offenen Welt frische Luft atmen und auf der Straße, bei der Arbeit, in der Familie und in ihrer Freizeit den ganzen Tag über Christus vor Augen haben. Was ist das anders als ein Leben andauernden Gebetes ? Hast du nicht das Bedürfnis empfunden, ein Mensch des Gebetes zu sein, so daß der Umgang mit Gott dich zu vergöttlichen vermag? Das ist der christliche Glaube, und so haben es die Menschen gehalten, die zu beten wußten. Dieser Mensch – schreibt Clemens von Alexandrien – wird Gott, weil er dasselbe will wie Gott [Clemens von Alexandrien, Paedagogus, 3,1,1,5 (PG 8,556)].
Am Anfang wird es dir schwerfallen; man muß sich anstrengen, sich an den Herrn wenden und Ihm für seine väterliche und spürbare Fürsorge danken. Allmählich wird die Liebe Gottes fühlbar – auch wenn es eigentlich nicht um Gefühle geht – wie eine feste Hand, die die Seele ergreift. Es ist Christus, der uns liebend verfolgt: Siehe, ich bin an deiner Tür und klopfe [Offb 3,20]. Wie steht es mit deinem Gebetsleben? Verspürst du nicht im Laufe des Tages den Wunsch, länger mit Ihm zu sprechen ? Sagst du Ihm nicht: Später erzähle ich es Dir, später werde ich mit Dir darüber reden ?
In den Zeiten, die eigens dieser Unterhaltung mit dem Herrn gewidmet sind, spricht sich das Herz aus, der Wille wird gestärkt, der menschliche Verstand sieht mit Hilfe der Gnade, wie sich übernatürliches und Menschliches durchdringen können. Klare und praktische Vorsätze sind die Frucht: dein Verhalten zu bessern, allen Menschen in feinfühliger Liebe zu begegnen, dich mit dem festen Willen eines guten Sportlers ganz in diesem christlichen Kampf der Liebe und des Friedens zu engagieren.
So wird das Beten beständig wie das Pochen des Herzens, wie der Pulsschlag. Ohne diese Gegenwart Gottes ist kein kontemplatives Leben möglich; und ohne kontemplatives Leben taugt die Arbeit für Christus wenig, denn vergeblich mühen sich die Bauleute, wenn Gott das Haus nicht baut [Vgl. Ps 127,1].

Das Salz der Abtötung

9 Um sich zu heiligen, braucht der gewöhnliche Christ – der ja kein Ordensmann ist und sich von der Welt nicht abwendet, da die Welt der Ort seiner Begegnung mit Christus ist – keine äußeren Zeichen, keinen Habit. Seine Erkennungszeichen sind innerer Art: die fortwährende Gegenwart Gottes und der Geist der Abtötung. Eigentlich sind beide eine einzige Wirklichkeit, denn die Abtötung ist nichts anderes als das Gebet der Sinne.
Die christliche Berufung ist Berufung zum Opfer, zur Buße, zur Sühne. Wir müssen sühnen für unsere eigenen Sünden – wie oft haben wir wohl das Gesicht abgewandt, um Gott nicht zu sehen! – und für alle Sünden der Menschen. Wir müssen Christus aus der Nähe folgen: An unserem Leibe tragen wir allezeit das Sterben, die Entsagung Christi, seine Erniedrigung am Kreuz, auf daß auch Jesu Leben an unserem Leibe sich offenbare [2 Kor 4,10]. Unser Weg ist ein Weg der Aufopferung, und in dieser Selbstverleugnung finden wir das gaudium cum pace, die Freude und den Frieden.
Wir blicken auf die Welt nicht mit traurigem Gesicht. Jene Verfasser von Heiligengeschichten, die um jeden Preis wunderliche Dinge bei den Dienern Gottes schon seit den ersten Atemzügen entdecken wollten, haben, sicherlich unbeabsichtigt, der Katechese einen schlechten Dienst erwiesen. Von manchen Heiligen heißt es, sie hätten als Kinder nie geweint oder sich aus Abtötung freitags nicht stillen lassen … Du und ich, wir haben bei der Geburt ordentlich geweint, wie es sich gehört, und an der Brust der Mutter gesogen, ohne uns um Fastenzeit oder Quatembertage zu kümmern.
Wir haben jetzt mit der Hilfe Gottes gelernt, im scheinbaren Einerlei des Tages eine Zeit wahrer Buße, spatium verae poenitentiae, zu entdecken. Und in diesem Augenblick fassen wir einen Vorsatz für die emendatio vitae, die Besserung unseres Lebens. Das ist der richtige Weg, um uns auf die Gnade und auf die Eingebungen des Heiligen Geistes in der Seele vorzubereiten. Und – ich wiederhole es – mit dieser Gnade kommt das gaudium cum pace: stellen sich die Freude, der Frieden und die Beharrlichkeit auf unserem Weg ein [Gaudium cum pace, emendationem vitae, spatium verae poenitentiae, gratiam et consolationem Sancti Spiritus, perseverantiam in bonis operibus, tribuat nobis omnipotens et misericors Dominus, Amen. (Römisches Brevier, Vorbereitungsgebet auf die heilige Messe)].
Die Abtötung ist das Salz unseres Lebens. Und die beste Abtötung ist jene, die – in winzigen Kleinigkeiten, den ganzen Tag hindurch – die Begierde des Fleisches, die Begierde der Augen und die Hoffart des Lebens bekämpft. Es sollen Abtötungen sein, die nicht die anderen abtöten, die uns feinfühliger, verständnisvoller, offener allen anderen gegenüber machen. Du besitzt nicht den Geist der echten Abtötung, wenn du überempfindlich bist, wenn du nur auf deine egoistischen Wünsche bedacht bist, wenn du die anderen ausnützt, wenn du es nicht fertigbringst, dir Überflüssiges, manchmal auch Nötiges zu versagen; wenn du traurig wirst, nur weil dies oder jenes nicht nach deinen Vorstellungen geschieht. Echten Geist der Abtötung hast du hingegen, wenn du es verstehst, allen alles zu werden, um alle zu retten [1 Kor 9,22].

Der Glaube und der Verstand

10 Das Leben des Gebetes und der Buße und das Erwägen unserer Gotteskindschaft verwandeln uns in Christen von tiefer Frömmigkeit, gleich kleinen Kindern vor Gott. Die Frömmigkeit, die pietas, ist die Tugend der Kinder gegenüber ihren Eltern, und damit sich das Kind den Armen seines Vaters anvertrauen kann, muß es klein sein und sich klein fühlen, bedürftig. Wie oft habe ich über dieses Leben der geistlichen Kindschaft meditiert, das mit dem Starkmut vereinbar ist, denn es erfordert einen starken Willen, eine ausgewogene Reife, einen festen und offenen Charakter.
Fromm also wie die Kinder; aber nicht unwissend, denn jeder muß sich nach seinen Möglichkeiten um ein ernsthaftes, wissenschaftliches Studium des Glaubens bemühen; das alles ist Theologie. Folglich: die Frömmigkeit von Kindern und die sichere Lehre von Theologen.
Das Verlangen, dieses theologische Wissen zu erwerben, – die zuverlässige und feste christliche Lehre –, wird an erster Stelle geweckt durch den Wunsch, Gott kennenzulernen und zu lieben. Es ist aber gleichzeitig auch Folge des Dranges der gläubigen Seele nach tieferem Verständnis dieser Welt, die das Werk des Schöpfers ist.
Monoton versuchen manche, eine vermeintliche Unvereinbarkeit zwischen Glauben und Wissen, göttlicher Offenbarung und menschlichem Verstand wieder aufzuwärmen. Es kann nur dann eine scheinbare Unvereinbarkeit auftreten, wenn die tatsächlichen Bezugspunkte des Problems nicht begriffen werden.
Wenn die Welt aus den Händen Gottes stammt, wenn Gott den Menschen nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen [Gn 1,26] und wenn Er ihm einen Funken seines Lichtes mitgeteilt hat, dann muß die Arbeit des Verstandes – mag sie auch noch so mühselig sein – den göttlichen Sinn entziffern, den schon auf natürliche Weise alle Dinge besitzen; und mit dem Licht des Glaubens erkennen wir auch ihren übernatürlichen Sinn, den sie auf Grund unserer Erhebung zur Ordnung der Gnade erhalten. Wir dürfen keine Angst vor der Wissenschaft haben, denn jede wirklich wissenschaftliche Arbeit strebt nach der Wahrheit. Und Christus hat gesagt: Ego sum veritas [Jo 14,6]. Ich bin die Wahrheit.
Der Christ muß nach Wissen hungern. Von der Pflege der abstraktesten Wissenschaften bis zu den handwerklichen Fertigkeiten kann und muß alles zu Gott führen. Denn es gibt keine menschliche Tätigkeit, die nicht geheiligt werden könnte und nicht selbst Anlaß zur eigenen Heiligung und zur Mitwirkung mit Gott bei der Heiligung unserer Mitmenschen wäre. Das Licht der Jünger Christi darf nicht in der Talsohle bleiben, sondern muß leuchten auf dem Gipfel des Berges, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen [Mt 5,16].
So arbeiten ist Gebet. So studieren ist Gebet. So forschen ist Gebet. Immer wieder kommen wir auf dasselbe zurück: Alles ist Gebet, alles kann und soll uns zu Gott führen, zum ständigen Umgang mit Ihm, von morgens bis abends. Jede ehrliche Arbeit kann Gebet sein; und jede Arbeit, die Gebet ist, ist auch Apostolat. Auf diese Weise wird die Seele stark, in einer schlichten und kraftvollen Einheit des Lebens.

Die Hoffnung des Advent

11 An diesem ersten Adventsonntag möchte ich euch nicht mehr sagen, jetzt, da wir beginnen, die Tage zu zählen, die uns von der Geburt des Heilandes noch trennen. Wir haben die Wirklichkeit der christlichen Berufung betrachtet: wie der Herr sein Vertrauen in uns gesetzt hat, um Menschen zur Heiligkeit zu führen, Ihm näherzubringen, sie der Kirche anzugliedern, das Reich Gottes in allen Herzen auszubreiten. Der Herr will, daß wir hingegeben sind, treu, feinfühlig, liebevoll. Er will uns heilig, ganz als die Seinen.
Auf der einen Seite Hochmut, Sinnlichkeit, Überdruß, Egoismus; auf der anderen Seite Liebe, Hingabe, Erbarmen, Demut, Opfer, Freude. Du mußt wählen. Du bist zu einem Leben des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe berufen. Du darfst nicht niedriger zielen und in anspruchsloser Gleichgültigkeit verharren.
Ich sah einmal einen Adler, in einen eisernen Käfig gesperrt, schmutzig, halb gerupft.
In seinen Krallen hielt er ein Stück Aas. Ich mußte daran denken, was geschehen würde, wenn ich die von Gott empfangene Berufung verließe. Mir tat jenes einsame und angekettete Tier leid, geboren, um hochzusteigen und in die Sonne zu schauen. Wir können aufsteigen bis zu den demütigen Höhen der Liebe Gottes und des Dienstes an allen Menschen. Doch dafür darf es in der Seele keine dunklen Winkel geben, auf die das Sonnenlicht Christi nicht fallen kann. Weg mit allen Sorgen, die uns von Ihm trennen: Christus in deinem Verstand, Christus auf deinen Lippen, Christus in deinem Herzen, Christus in deinen Werken. Dein ganzes Leben – dein Herz und deine Werke, dein Verstand und deine Worte – erfüllt von Gott.
Schauet auf und erhebt eure Häupter, denn es naht eure Erlösung [Lk 21,28], haben wir im Evangelium gelesen. Die Adventszeit ist eine Zeit der Hoffnung. Das weite Feld unserer christlichen Berufung, diese Einheit des Lebens, deren Nerv die Gegenwart Gottes, unseres Vaters ist, kann und muß eine tägliche Wirklichkeit sein.
Bitte mit mir Unsere Liebe Frau darum und vergegenwärtige dir, wie sie diese Monate in der Erwartung des Sohnes, der geboren werden soll, wohl verbracht haben mag, und Unsere Liebe Frau, die heilige Maria, wird erreichen, daß du alter Christus, ipse Christus wirst, ein zweiter Christus, Christus selbst.

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Homilie. gehalten am 24. Dezember 1963.

12 Lux fulgebit hodie super nos, quia natus est nobis Dominus Lux fulgebit hodie super nos, quia natus est nobis Dominus Lux fulgebit hodie super nos, quia natus est nobis Dominus [Jes 9,1; (Introitus der 2. Messe von Weihnachten)], Licht strahlt heute über uns, da uns geboren der Herr. Diese herrliche Botschaft bewegt heute die Christen, durch die sie sich an die gesamte Menschheit richtet. Gott ist da. Diese Wahrheit muß unser Leben erfüllen. Jede Weihnacht muß für uns zu einer neuen Begegnung mit Gott werden, indem wir sein Licht und seine Gnade tief in unsere Seelen eindringen lassen.
Wir halten vor dem Kind, vor Maria und Josef inne und betrachten den Gottessohn, der unser Fleisch angenommen hat. Ich entsinne mich eines Besuches, den ich am 15. August 1951 zur Casa Santa in Loreto machte mit einem persönlichen Anliegen auf dem Herzen. Ich las dort die heilige Messe und wollte sie mit Andacht feiern, rechnete aber nicht mit der Inbrunst der Menge. Ich hatte nicht daran gedacht, daß an diesem großen Feiertag viele Menschen aus der Umgebung nach Loreto kommen würden, Menschen mit dem Glauben, der dieses Land auszeichnet, und mit ihrer Liebe zur Madonna. Ihre Frömmigkeit führte sie zu einem Verhalten, das, wenn man es – wie soll ich sagen? – nur an den liturgischen Vorschriften der Kirche mißt, nicht ganz angebracht war.
Während ich nämlich den Altar küßte, wie es die Meßliturgie vorsieht, küßten ihn drei oder vier Bauersfrauen gleichzeitig. Ich wurde hierdurch abgelenkt, war aber innerlich tief bewegt. Einer Überlieferung zufolge haben in jener Casa Santa Jesus, Maria und Josef gewohnt. Ich las die Inschrift über dem Altar: Hic verbum caro factum est, hier, in einem Haus von Menschenhand erbaut, auf einem Fleck unserer Erde, hat Gott gewohnt.

Jesus Christus, vollkommener Mensch und vollkommener Gott

13 Der Sohn Gottes hat Fleisch angenommen, Er, der perfectus Deus, perfectus homo [Athanasianisches Glaubensbekenntnis Quicumque], vollkommener Gott und vollkommener Mensch ist. In diesem Geheimnis verbirgt sich etwas, das die Christen in Unruhe versetzen müßte. Heute noch empfinde ich die Ergriffenheit von damals. Gern würde ich wieder Loreto besuchen, und in Gedanken gehe ich dorthin, um die Kindheit Jesu nachzuerleben, während ich dieses Hic verbum caro factum est betrachte.
Jesus Christus, Deus Homo, Jesus Christus, Gott-Mensch. Dies ist eine der magnalia Dei [Apg 2,11], der Großtaten Gottes, die wir in Dankbarkeit vor dem Herrn betrachten müssen, der gekommen ist, Frieden auf Erden den Menschen guten Willens zu bringen [Lk 2,14] –allen Menschen, die ihren Willen dem Willen Gottes gleichförmig machen wollen: nicht nur den Reichen und nicht nur den Armen, allen Menschen, allen Brüdern. Denn wir alle sind Brüder in Jesus, Kinder Gottes, Brüder Christi: seine Mutter ist unsere Mutter.
Es gibt nur ein Volk auf Erden, das Volk der Kinder Gottes. Wir alle müssen dieselbe Sprache sprechen, jene, die uns unser Vater lehrt, der im Himmel ist: die Sprache des Zwiegesprächs Jesu mit seinem Vater, die Sprache, die man mit dem Herzen und dem Verstand spricht, die Sprache, die ihr jetzt in eurem Gebet benutzt. Es ist die Sprache kontemplativer Menschen, die ein spirituelles Leben führen, weil sie sich ihrer Gotteskindschaft bewußt geworden sind. Eine Sprache, die sich in Impulsen des Willens, in Erleuchtungen des Verstandes, in Regungen des Herzens und in Entscheidungen zum rechten Leben, zum Guten, zur Freude und zum Frieden kundtut.
Schauen wir auf das Kind in der Krippe, das wir lieben. Schauen wir auf Es, wohlwissend aber, daß wir vor einem Geheimnis stehen. Wir müssen dieses Geheimnis durch den Glauben annehmen und, ebenfalls durch den Glauben, seinen Sinn vertiefen.
Dazu ist die demütige Haltung nötig, die einer christlichen Seele eigen ist: nicht das Bestreben, die Größe Gottes auf die ärmliche Ebene menschlichen Begreifens und Deutens zu beschränken, sondern die Einsicht, daß dieses Geheimnis in seiner Dunkelheit Licht ist, das das Leben der Menschen erhellt.
Wir sehen, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, daß Jesus aus uns und unserer menschlichen Natur hervorgegangen ist, daß Er aus der Mutter und Jungfrau geboren wurde, ohne daß wir verstehen, wie dieses Wunder geschehen konnte. Versuche nicht, es zu verstehen, sondern nimm einfach an, was Gott dir geoffenbart hat und grüble nicht nach dem, was dir geheimgehalten worden ist [Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae, 4,3 (PG 57, 43)]. In dieser Haltung werden wir begreifen und lieben lernen, und das Geheimnis wird für uns eine eindringliche Lehre sein, überzeugender als jedes menschliche Argument.

Gott auf Erden: diese Lehre begreifen

14 Jedesmal, wenn ich vor der Krippe spreche, versuche ich, auf Christus, unseren Herrn zu schauen, wie Er in Windeln gewickelt auf Stroh liegt: obwohl noch ein Kind, das nicht sprechen kann, sehe ich in Ihm schon den Lehrer und Meister. Ich muß Ihn so betrachten, denn ich soll von Ihm lernen. Und dazu ist es nötig, sein Leben zu kennen, das Evangelium zu lesen, sich in das Geschehen des Neuen Testamentes hineinzuversetzen, um den göttlichen Sinn des Erdenwandels Jesu zu erfassen.
Das Leben Jesu muß sich in unserem eigenen Leben wiederholen, indem wir Christus kennenlernen: durch Lesen und immer wieder Lesen, durch Meditieren und immer wieder Meditieren der Heiligen Schrift, durch Beten und wieder Beten wie jetzt hier vor der Krippe. Versuchen wir, die Lehre zu begreifen, die Jesus uns bereits jetzt gibt: als Kind, als Neugeborener, dessen Augen sich eben erst für diese unsere Erde geöffnet haben.
Indem Jesus wie einer von uns aufwächst und lebt, offenbart Er uns, daß das menschliche Dasein, das gewöhnliche und alltägliche Tun einen göttlichen Sinn hat. Sooft wir diese Wahrheit auch betrachtet haben mögen, immer wieder sollte uns der Gedanke an die dreißig Jahre seines verborgenen Lebens in Staunen versetzen, jene dreißig Jahre, die den größten Teil seines Wandels unter uns Menschen, seinen Brüdern, ausmachen.
Jahre im Schatten, für uns aber klar wie Sonnenlicht. Oder vielmehr: strahlende Jahre, die unsere Tage erhellen und ihnen ihren wirklichen Sinn geben; denn wir sind gewöhnliche Christen, die ein normales Leben führen wie Millionen Menschen überall auf der Welt.
Dreißig Jahre lang lebte Jesus so: als fabri filius [Mt 13,55], als der Sohn des Zimmermanns. Dann erst folgen die drei Jahre seines öffentlichen Lebens inmitten der lärmenden Menge. Die Leute fragen sich verwundert: Wer ist dieser, woher weiß Er das alles? Denn Er war ja einer von ihnen, führte das Leben der Menschen seines Landes. Er war der faber, filius Mariae [Mk 6,3], der Zimmermann, der Sohn Mariens. Und Er war Gott, im Begriff, das Menschengeschlecht zu erlösen und alles an sich zu ziehen [Jo 12,32].

15 Wie jede andere Begebenheit im Leben Jesu sollten wir auch diese Jahre im verborgenen niemals betrachten, ohne uns angesprochen zu fühlen, ohne sie als das zu verstehen, was sie sind: als Ruf des Herrn, unseren Egoismus und Unsere Bequemlichkeit zu überwinden. Der Herr weiß um unsere Begrenztheit, unsere Selbstsucht und unseren Ehrgeiz, Er weiß, wie schwer es uns fällt, uns selbst zu vergessen und uns für die anderen hinzugeben. Er weiß, was es heißt, keine Liebe zu finden und erfahren zu müssen, daß selbst jene, die behaupten, sie folgten Ihm, dies nur mit halbem Herzen tun. Denkt nur an jene beklemmenden Szenen im Evangelium, die uns die Apostel zeigen, wie sie noch ganz weltlichen Erwartungen und rein irdischen Vorstellungen verhaftet sind. Aber Jesus hat sie auserwählt. Er behält sie bei sich und überträgt ihnen die Sendung, die Er vom Vater empfangen hat.
Auch uns ruft Er, auch uns fragt Er, wie Er Jakobus und Johannes gefragt hat: Potestis bibere calicem, quem ego bibiturus sum? [Mt 20,22]Könnt ihr den Kelch trinken – diesen Kelch der vollkommenen Ergebenheit in den Willen des Vaters –, den ich trinken werde? Possumus! [Mt 20,22] Ja, wir können es! antworten Johannes und Jakobus. Ihr und ich, sind wir ernsthaft bereit, in allem den Willen unseres Vaters zu erfüllen? Haben wir dem Herrn das ganze Herz hingegeben? Oder kleben wir noch an uns selbst, unserem Eigennutz, unserer Bequemlichkeit, unserer Eigenliebe? Ist da noch etwas in uns, das unserem Christsein nicht entspricht, und woran liegt es, daß wir uns nicht läutern wollen? Heute haben wir Gelegenheit, dies abzulegen.
Bedenken wir zuerst, daß Jesus selbst diese Fragen stellt. Er ist es, der fragt, nicht ich. Ja, ich würde es nicht einmal wagen, solche Fragen mir selbst zu stellen. Ich setze nur mein Gebet mit lauter Stimme fort, und ihr, jeder von euch, bekennt dem Herrn in eurem Innern: Herr, wie wenig tauge ich, wie oft war ich feige! Wieviele Fehler habe ich begangen, bei dieser und jener Gelegenheit, da und dort! Und trotz allem können wir noch ausrufen: Danke, Herr, daß Du mich an der Hand gehalten hast, denn ich sehe, daß ich zu allen Gemeinheiten fähig bin. Halte mich fest – verlasse mich nicht! Paß auf mich auf wie auf ein Kind. Daß ich stark sei, mutig und standhaft. Hilf mir wie einem unbeholfenen Geschöpf, nimm mich an die Hand, Herr, und laß auch Deine Mutter mir zur Seite stehen und mich beschirmen. Wenn es so ist: possumus! dann werden wir es vermögen, Dich zum Vorbild zu nehmen.
Dieses possumus! ist nicht anmaßend. Christus zeigt uns diesen göttlichen Weg und will, daß wir uns aufmachen, denn Er hat ihn menschlich gemacht und unserer Schwäche zugänglich. Deshalb hat Er sich so sehr erniedrigt. Deshalb hat Er sich entäußert, hat Knechtsgestalt angenommen, der als Gott dem Vater gleich war. Doch nur seine Hoheit und Macht legte Er ab, nicht aber seine Güte und Barmherzigkeit [Bernhard, Sermo in die nativitatis, 1,1-2 (PL 183, 155)].
Die Güte Gottes will uns den Weg leicht machen. Weisen wir die Einladung Jesu nicht zurück, versagen wir uns Ihm nicht und stellen wir uns angesichts seines Rufes nicht taub: denn es gibt keine Ausreden, keinen Grund anzunehmen, wir könnten es nicht – Er ist uns doch mit seinem Beispiel vorangegangen. Deshalb bitte ich euch inständig, meine Brüder, laßt euch nicht vergeblich ein so wertvolles Beispiel geben, werdet vielmehr gleichförmig mit Ihm und erneuert euch in der Gesinnung eures Herzens [Bernhard, Sermo in die nativitatis 1,1].

Er zog umher und tat nur Gutes

16 Seht ihr, wie nötig es ist, Jesus zu kennen und seinem Leben voll Liebe nachzugehen? Oftmals habe ich nach einer Definition, einer Beschreibung des Lebens Jesu in der Heiligen Schrift gesucht. Ich fand sie in zwei Worten, inspiriert vom Heiligen Geist: Pertransiit benefaciendo [Apg 10,38], Er zog umher und erwies Wohltaten. Alle Tage im Leben Christi auf Erden, von seiner Geburt bis zum Tode, waren so: pertransiit benefaciendo. An einer anderen Stelle der Heiligen Schrift heißt es: Bene omnia fecit [Mk 7,37], Er hat alles gut gemacht, alles vollendet, Er tat nur Gutes.
Und du und ich, was tun wir? Prüfen wir, was besser werden kann in uns. Ich finde in mir vieles, was zu verbessern ist. Da ich mich aber unfähig sehe, allein das Gute zu tun, und da uns Jesus selbst gesagt hat, daß wir ohne Ihn nichts tun können [Vgl. Jo 15,5], wollen wir, du und ich, zum Herrn gehen und Ihn auf die Fürsprache seiner Mutter um Hilfe bitten im innigen Zwiegespräch jener, die Gott lieben. Ich möchte nicht mehr sagen, denn jetzt ist es an jedem von euch zu sprechen, jeder nach seinem Bedürfnis, in eurem Innern, ohne Worte, jetzt, während ich euch diese Anregungen gebe und sie selbst auf mich und meine Erbärmlichkeit anwende.

17 Pertransiit benefaciendo Pertransiit benefaciendo Pertransiit benefaciendo. Wie hat Jesus die Erde mit so viel Gutem, und nur mit Gutem, überhäufen können, überall, wohin Er kam? Im Evangelium findet sich, zusammengefaßt in drei Worten, eine weitere Lebensbeschreibung Jesu, die uns die Antwort gibt: Erat subditus illis [Lk 2,51], Er war gehorsam. Heute, da es in der Welt so viel Ungehorsam gibt, müssen wir den Gehorsam besonders hochschätzen.
Ich liebe die Freiheit über alles, und gerade deshalb liebe ich so sehr die christliche Tugend des Gehorsams. Wir müssen uns als Kinder Gottes fühlen mit dem freudigen Verlangen, den Willen unseres Vaters zu erfüllen. Alles nach dem Willen Gottes tun, und zwar, weil wir es so wollen: einen übernatürlicheren Grund gibt es nicht.
Der Geist des Opus Dei, den ich seit mehr als 35 Jahren zu leben und zu lehren trachte, hat mich die persönliche Freiheit verstehen und lieben lassen. Immer wenn Gott, unser Herr, den Menschen seine Gnade schenkt, wenn Er ihnen eine spezifische Berufung gibt, dann ist es, wie wenn Er ihnen eine Hand reichte, eine väterliche Hand, voll Kraft, vor allem aber voll Liebe; so sucht Er jeden von uns einzeln auf, als seine Söhne und Töchter, denn Er weiß um unsere Schwäche. Der Herr erwartet von uns, daß wir die Kraft aufbringen, diese seine ausgestreckte Hand zu ergreifen, Gott erwartet von uns – als Zeichen unserer Freiheit –, daß wir uns anstrengen. Damit uns dies gelingt, müssen wir demütig sein, müssen wir wie die Kinder werden und den gesegneten Gehorsam leben, mit dem wir auf die gesegnete Vaterschaft Gottes antworten.
Es ist gut zuzulassen, daß der Herr sich in unser Leben einmischt, daß Er wie ein Vertrauter ungehindert darin ein und aus geht. Wir Menschen haben die Neigung, uns selbst zu rechtfertigen und uns an unserem Egoismus festzuklammern. Wir wollen immer den König spielen, und sei es auch nur im Reich unseres eigenen Elends. Macht euch aufgrund dieser Überlegung klar, weshalb wir uns an Jesus halten müssen: damit Er uns wirklich frei macht und wir so fähig sind, Gott und allen Menschen zu dienen. Nur so werden wir die Wahrheit jener Worte des heiligen Paulus verstehen: Jetzt aber seid ihr von der Sünde befreit und steht in Gottes Dienst. Als Frucht erntet ihr Heiligkeit, als Ziel habt ihr das ewige Leben. Denn der Sünde Sold ist der Tod, das Gnadengeschenk Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus unserem Herrn [Röm 6,22-23].
Seien wir also auf der Hut, denn unser Hang zum Egoismus stirbt nie, und die Versuchung kann sich auf tausenderlei Wegen einschleichen. Gott verlangt, daß wir gehorchen, indem wir den Glauben leben, denn Er tut seinen Willen nicht mit Paukenschlägen kund. Manchmal äußert sich sein Wille wie mit leiser Stimme, im Innersten des Gewissens, und man muß aufmerksam hinhören, um diese Stimme zu vernehmen und ihr treu zu folgen.
Oft spricht der Herr durch andere Menschen zu uns. Doch dann kann es geschehen, daß sich uns das Wissen um ihre Fehler oder der Gedanke, inwieweit sie wirklich informiert sind und die Zusammenhänge durchschauen, wie eine Aufforderung zum Ungehorsam aufdrängen.
All dies kann wie ein Wink Gottes sein, denn der Herr verpflichtet uns nicht zu einem blinden, sondern zu einem intelligenten Gehorsam, und wir müssen uns verantwortlich fühlen, den anderen mit unserer Einsicht zu helfen. Aber seien wir uns selbst gegenüber aufrichtig, prüfen wir jedesmal aufs neue, ob das, was uns bewegt, die Liebe zur Wahrheit oder unsere Selbstsucht und das Festhalten an der eigenen Meinung ist. Wenn uns die eigenen Ansichten von den anderen Menschen trennen und dazu führen, die Einheit und die Eintracht mit unseren Brüdern zu zerstören, dann ist dies ein deutliches Zeichen dafür, daß wir nicht nach dem Geist des Herrn handeln.
Vergessen wir nicht: Wer gehorchen will, muß demütig sein. Führen wir uns aufs neue das Beispiel Christi vor Augen: Jesus gehorcht, Er gehorcht Josef und Maria. Gott kam auf die Erde, um zu gehorchen, um sich menschlichen Geschöpfen zu unterstellen.
Maria, unsere Mutter – größer als sie ist nur Gott –, und Josef, jener rechtschaffene und lautere Mensch, sie sind zwei vollkommene Geschöpfe, aber nur Geschöpfe: und Jesus, der Gott ist, gehorcht ihnen. Wir müssen Gott lieben, seinen Willen lieben, mit dem Wunsch, dem Ruf zu folgen, den Er an uns durch die Pflichten unseres Alltags richtet: im eigenen Stand, im Beruf und in der Arbeit, in Familie und Gesellschaft, im eigenen wie im fremden Leid, in der Freundschaft und im Bemühen, gut und gerecht zu sein.

18 Jede Weihnacht betrachte ich mit Freude die Figuren, die das Christuskind darstellen. Sie zeigen uns den Herrn, wie Er sich entäußert, und erinnern mich daran, daß Gott uns ruft, daß der Allmächtige sich uns hilfsbedürftig und von den Menschen abhängig zeigen wollte. In der Krippe von Bethlehem sagt Christus dir und mir, daß Er uns braucht; Er fordert uns auf zu einem christlichen Leben ohne Vorbehalte, zu einem Leben der Hingabe, der Arbeit, der Freude.
Wir werden niemals richtig sein, wenn wir Christus nicht wirklich nachahmen, wenn wir nicht demütig sind wie Er. Die Frage drängt sich wieder auf: Seht ihr, wo sich die Größe Gottes verbirgt? In einer Krippe, in WindeIn, in einem Stall! Die erlösende Wirksamkeit unseres Lebens kann sich nur in Demut vollziehen, indem wir aufzuhören, an uns selbst zu denken, und uns für die anderen verantwortlich fühlen.
Auch beim gutwilligsten Menschen kann es vorkommen, daß er sich Konflikte schafft, die jeder objektiven Grundlage entbehren, ihn selbst aber mit Sorge erfüllen. Ihr Ursprung liegt in mangelnder Selbstkenntnis, die zum Hochmut führt. So ist es etwa mit dem Wunsch, Gegenstand des Interesses und der Wertschätzung aller zu sein, mit der Neigung, eine gute Figur abzugeben, mit der Weigerung, Gutes zu tun und dann zu verschwinden, mit dem Streben nach persönlicher Sicherheit. Mancher, der einen tiefen Frieden genießen und sich so richtig am Leben freuen könnte, wird so durch Stolz und Dünkel unglücklich und bleibt unerfüllt.
Christus war demütig von Herzen [Vgl Mt 11,29]. Während seines Lebens wollte Er für sich keine Besonderheiten, keine Privilegien. Wie jeder andere Mensch verbrachte Er neun Monate im Schoße seiner Mutter mit größter Selbstverständlichkeit. Der Herr wußte nur allzu gut, daß die Menschheit seiner bitter bedurfte; deshalb drängte es Ihn, auf die Erde zu kommen, um alle Menschen zu retten. Aber Er will nichts überstürzen und kommt zu seiner Stunde, wie jeder andere Mensch zur Welt kommt. Von der Empfängnis bis zur Geburt Jesu bemerkt niemand außer Josef und Elisabeth das Wunder: Gott kommt, um unter uns Menschen zu wohnen.
Die Geburt ist ebenfalls von großer Schlichtheit: der Herr kommt ohne Pomp, von allen unerkannt. Auf Erden haben nur Maria und Josef an diesem göttlichen Abenteuer teil. Und dann die Hirten, denen die Engel die Kunde bringen, und schließlich die Weisen aus dem Morgenlande. So geschieht die grundlegende Tat, die Himmel und Erde, Gott und Mensch vereint.
Zu welcher Herzenshärte aber sind wir fähig, daß wir uns so schnell an dieses Geschehen gewöhnen können? Gott erniedrigt sich, damit wir uns Ihm nähern und seine Liebe mit der unseren erwidern können, damit sich unsere Freiheit nicht nur diesem Schauspiel seiner Macht, sondern auch dem Wunder seiner Demut fügt.
Seht die Größe eines Kindes, das Gott ist; der Schöpfer des Himmels und der Erde ist sein Vater , und der Sohn liegt hier in einer Krippe, quia non erat eis locus in diversorio [Lk 2,7], denn es gab für den Eigentümer der Welt, für den Herrn alles Geschaffenen keinen anderen Platz auf Erden.

Er erfüllte den Willen des Vaters

19 Ich bin sicher: Jesus sucht auch heute Wohnung in unseren Herzen. Bitten wir Ihn um Vergebung für unsere persönliche Blindheit und Undankbarkeit. Und bitten wir Ihn um die Gnade, Ihm niemals mehr unser Herz zu verschließen.
Der Herr läßt uns nicht im unklaren darüber, daß ein in den göttlichen Willen ergebener Gehorsam Verzicht und Hingabe verlangt, denn die Liebe pocht nicht auf Rechte: sie will dienen. Er ist als erster diesen Weg gegangen. Und wie hast Du den Gehorsam gelebt, Jesus? Usque ad mortem, mortem autem crucis [Phil 2,8], bis zum Tode, bis zum Tode am Kreuz. Man muß von sich selbst loskommen, bereit sein, sich aus seiner Ruhe bringen zu lassen, sein Leben zu verlieren aus Liebe zu Gott und den Menschen. Da wolltest du nun leben und wolltest nicht, daß dir etwas widerfährt, aber Gott hat es anders gewollt, Es gibt einen zweifachen Willen: der deine muß korrigiert werden, um mit dem Willen Gottes eins zu werden: nicht hat sich der Wille Gottes dem deinen anzupassen [Augustinus, Enarrationes in psalmos, 31, 2, 26 (PL 36, 274)].
Ich habe voll Freude gesehen, wie so viele Menschen ihr Leben weggegeben haben, um den Willen Gottes zu erfüllen – wie Du, Herr: usque ad mortem, Ihre Kraft und ihre berufliche Arbeit haben sie dem Dienst an der Kirche gewidmet, zum Wohle aller Menschen.
Wir wollen lernen zu gehorchen, lernen zu dienen. Es gibt keine höhere Würde als die der freiwilligen Hingabe zum Wohl der anderen. Wenn der Stolz in uns brodelt und der Hochmut uns glauben machen will, wir seien Übermenschen, dann ist der Augenblick gekommen, nein zu sagen und zu bekräftigen, daß unser Triumphieren allein in der Demut liegt. Auf diese Weise werden wir eins mit Christus am Kreuz, aber nicht verdrossen, geängstigt oder widerwillig, sondern freudigen Herzens, denn diese Freude, die im Selbstvergessen liegt, ist der beste Beweis unserer Liebe.

20 Laßt mich noch einmal auf das Ursprüngliche und Einfache im Leben Jesu zurückkommen, das wir so oft zusammen betrachtet haben. Diese verborgenen Jahre im Leben des Herrn sind weder bedeutungslos noch bloße Vorbereitung auf die Jahre danach, auf sein öffentliches Wirken. Seit 1928 sehe ich dies mit aller Klarheit: Gott will, daß wir Christen das ganze Leben des Herrn als Beispiel verstehen. Ich bin besonders seinem verborgenen Leben nachgegangen, seinem Leben der gewöhnlichen Arbeit unter den Menschen; der Herr will, daß viele Menschen den Weg gehen, den Er selbst in den Jahren seines stillen, unscheinbaren Lebens ging. Dem Willen Gottes gehorchen bedeutet deshalb immer, von unserer Selbstsucht loskommen: aber es bedeutet nicht, sich vom normalen Leben der Menschen entfernen, mit denen uns Stand, berufliche Arbeit und gesellschaftliche Situation verbinden.
Ich träume – und mein Traum ist Wirklichkeit geworden – von unzähligen Kindern Gottes, die ihr Leben als gewöhnliche Menschen heiligen und teilhaben an den Mühen, Hoffnungen und Anstrengungen ihrer Mitmenschen. Ihnen sei diese göttliche Wahrheit zugerufen: Wenn ihr inmitten der Welt bleibt, dann nicht, weil Gott euch vergessen oder nicht berufen hätte, nein, Er hat euch aufgefordert, in den irdischen Tätigkeiten und Sorgen zu bleiben, und euch kundgetan, daß eure menschliche Berufung, euer Beruf und eure Fähigkeiten, seinen göttlichen Plänen nicht nur nicht zuwiderlaufen, sondern die geheiligte Opfergabe sind, die Christus dem Vater dargebracht hat.

21 Einen Christen daran erinnern, daß sein Leben keinen anderen Sinn hat, als den Willen Gottes zu erfüllen, heißt nicht, ihn von den übrigen Menschen absondern. Im Gegenteil, Christi Gebot, einander zu lieben, wie Er uns geliebt hat [Vgl. Jo 13,34-35], bedeutet für viele Menschen, an der Seite ihrer Mitmenschen und wie sie leben, Gott in der Welt dienen, um so allen Menschen die Liebe Gottes besser kundzutun und ihnen zuzurufen, daß sich die Wege Gottes auf Erden aufgetan haben.
Der Herr hat sich nicht darauf beschränkt, uns zu sagen, daß Er uns liebt – Er hat es uns durch Taten bewiesen. Vergessen wir nicht, daß Christus Mensch wurde, um uns zu lehren, was wir jetzt lernen sollen: wie man als Kind Gottes lebt. Erinnert euch an das Vorwort, das Lukas der Apostelgeschichte voranstellt: Primum quidem sermonem feci de omnibus, o Theophile, quae coepit Iesus facere et docere [Apg 1,1], ich habe über alles berichtet, was Jesus getan und gelehrt hat. Er kam, um uns zu belehren: als Meister durch sein Tun und durch das Beispiel seines Lebens.
Vor dem Kind in der Krippe wollen wir jetzt unsere persönliche Gewissenserforschung fortsetzen und uns fragen: Sind wir bereit, unser Leben Vorbild und Lehre für die anderen sein zu lassen? Sind wir entschlossen, ein anderer Christus zu sein? Ein Lippenbekenntnis genügt nicht. Ich frage einen jeden von euch und ich frage mich selbst: Du, als Christ berufen, ein anderer Christus zu sein, kann man von dir sagen, daß du dich nach diesem facere et docere, tun und lehren, richtest? Daß du in allem als Kind Gottes aufmerksam dem Willen des Vaters gegenüber handelst? Daß du dich bemühst, alle Menschen zu bewegen, an den guten, noblen, göttlichen und menschlichen Dingen der Erlösung teilzunehmen? Lebst du in deinem Alltag in der Welt das Leben Christi?
Die Werke Gottes tun ist keine Floskel, nein, es ist eine Einladung, sich aus Liebe zu verbrauchen. Man muß sich selber sterben, um zu neuem Leben wiedergeboren zu werden. Denn so gehorchte Jesus, gehorsam bis zum Tode am Kreuze, mortem autem crucis. Propter quod et Deus exaltavit illum [Phil 2,8-9], und deshalb hat Gott Ihn erhöht. Wenn wir dem göttlichen Willen gehorchen, wird auch für uns das Kreuz Auferstehung sein und Erhöhung. So wird sich in uns Schritt für Schritt das Leben Christi erfüllen, und unser eigenes Leben wird das Bemühen guter Kinder Gottes sein, die trotz ihrer vielen Schwächen und Fehler wie Christus umherzogen und Gutes taten.
Wenn der Tod kommt, und er wird unerbittlich kommen, werden wir ihn freudig erwarten, wie ich es viele Menschen, die heilig ihren Alltag gelebt haben, habe tun sehen.
Mit Freude, denn wenn wir Christus nachgefolgt sind im Guten, im Gehorsam und im Kreuztragen, werden auch wir wie Christus auferstehen, surrexit Dominus vere! [Lk 24,34] – denn Er ist wahrhaft auferstanden.
Seht doch: Jesus, der ein Kind wurde, besiegte den Tod. Durch seine Erniedrigung, sein einfaches Leben, seinen Gehorsam: durch die Vergöttlichung des gewöhnlichen, alltäglichen Lebens der Menschen siegte der Sohn Gottes.
Dies ist der Triumph Christi. Er hat uns emporgehoben auf seine Ebene, zur Ebene der Gotteskindschaft, indem Er herabstieg auf die Erde, zur Ebene der Menschenkinder.

 «    DIE EHE, EINE CHRISTLICHE BERUFUNG    » 

(Homilie, gehalten Weihnachten 1970.)

22 Zu Weihnachten kommen uns die Ereignisse um die Geburt des Gottessohnes wieder ins Gedächtnis; wir verweilen im Stalle von Bethlehem, im Hause von Nazareth, und mehr denn je sind Maria, Josef und ein Kind, Jesus, die Mitte unseres Herzens. Was hat uns das einfache und wunderbare Leben der heiligen Familie zu sagen? Was können wir von ihr lernen?
Aus der Fülle von Gedanken, die uns kommen, möchte ich vor allem einen herausgreifen. Nach der Heiligen Schrift bedeutet die Geburt Jesu das Anbrechen der Fülle der Zeit [Gal 4,4], den Augenblick, den Gott wählt, um seine Liebe zu den Menschen ganz zu offenbaren, indem Er uns seinen eingeborenen Sohn sendet. Dieser göttliche Ratschluß erfüllt sich unter ganz normalen, gewöhnlichen Umständen: Wir sehen eine Frau, die Mutter wird, eine Familie, ein Haus. Die göttliche Allmacht und Herrlichkeit bedient sich des Menschlichen, ja sie verbindet sich mit ihm. Seitdem wissen wir Christen, daß wir mit der Gnade des Herrn alles Gute in unserem Leben heiligen können und sollen.
Es gibt keine irdische Situation, so belanglos und alltäglich sie auch scheinen mag, die nicht Gelegenheit zu einer Begegnung mit Christus und ein Schritt auf unserem Weg zum Himmel sein kann.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß die Kirche in Jubel ausbricht beim Betrachten jenes bescheidenen Zuhause von Jesus, Maria und Josef. Im Hymnus der Matutin dieses Festes heißt es: Es ist erhebend, sich das kleine Haus zu Nazareth in seiner ganzen Bescheidenheit vorzustellen, singend die Schlichtheit zu preisen, die Jesus umgab. Dort erlernte Er im Jugendalter den Beruf Josefs, dort nahm Er zu an Alter, und dort ging Er der Arbeit eines Handwerkers nach. Bei Ihm war seine liebreiche Mutter, Maria, die liebenswürdige Gattin Josefs, der sich glücklich schätzte, ihr helfen und seine Fürsorge gewähren zu können.
Ich wünsche mir die Häuser von Menschen, die Christen sind, so hell und freundlich wie das Haus der heiligen Familie. Die Weihnachtsbotschaft erreicht uns voll Kraft: Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden den Menschen guten Willens [Lk 2,14]. In euren Herzen walte der Frieden Christi [Kol 3,15], heißt es beim heiligen Paulus. Es ist der Frieden zu wissen, daß Gott, unser Vater, uns liebt, daß wir Christus einverleibt, durch Unsere Liebe Frau beschützt und durch den heiligen Josef beschirmt sind. Dies ist das mächtige Licht, das unser Leben erhellt und uns ermutigt, in allen Schwierigkeiten und persönlichen Schwächen weiterzugehen. Jedes christliche Haus müßte ein Haus des Friedens sein, in dem, über die alltäglichen kleinen Unstimmigkeiten hinweg, jene tiefe und aufrichtige Sorge füreinander und jene heitere Gelassenheit spürbar werden, die aus einem tief gelebten Glauben kommen.

23 Die Ehe ist für einen Christen keine bloß gesellschaftliche Einrichtung und noch viel weniger bloßes Heilmittel für die menschliche Schwachheit: Sie ist eine wahrhaft übernatürliche Berufung, sacramentum magnum, Geheimnis, Sakrament in Christus und in seiner Kirche, wie Paulus sagt [Eph 5,32], und gleichzeitig, untrennbar damit verbunden, ein Vertrag, den ein Mann und eine Frau für immer schließen, denn – ob wir es wollen oder nicht – die von Christus eingesetzte Ehe ist unauflöslich. Die Ehe ist ein großes heiligendes Zeichen, ein Tun Jesu, das die Seele der Brautleute erfüllt und sie einlädt, Ihm zu folgen und so ihr Eheleben zu einem Weg Gottes auf Erden werden zu lassen.
Die Eheleute sind dazu berufen, ihre Ehe und dadurch sich selbst zu heiligen; deshalb wäre es falsch, wenn sie ihr geistliches Leben abseits und am Rande ihres häuslichen Lebens führten. Das Familienleben, der eheliche Umgang, die Sorge um die Kinder und ihre Erziehung, das Bemühen um den Unterhalt der Familie und ihre finanzielle Besserstellung, die gesellschaftlichen Kontakte zu anderen Menschen, dies alles – so menschlich und alltäglich – ist gerade das, was die christlichen Eheleute zur Ebene des Übernatürlichen erheben sollen.
Glaube und Hoffnung müssen sich in der Gelassenheit zeigen, mit der die Eheleute ihre großen und kleinen Sorgen, die es überall gibt, bewältigen, im freudigen Ausharren in der Erfüllung der eigenen Pflichten. So wird alles, von Liebe getragen, dazu führen, Freud und Leid zu teilen, die eigenen Sorgen zu vergessen, um für die anderen da zu sein, dem Ehepartner oder den Kindern zuzuhören und ihnen so zu zeigen, daß man sie wirklich liebt und weiß, über kleinere Klippen hinwegzugehen, die der Egoismus in Berge verwandeln könnte, daß man eine große Liebe in die kleinen Dinge hineinlegt, aus denen das tägliche Miteinander besteht.
Tag für Tag das Zuhause zu heiligen und in feinfühliger Liebe eine durch und durch familiäre Atmosphäre zu schaffen: darum geht es. Diese Heiligung eines jeden Tages erfordert viele christliche Tugenden. Da sind zuerst die theologischen Tugenden und dann all die übrigen: die Klugheit, die Treue, die Ehrlichkeit, die Einfachheit, die Arbeitsamkeit, die Freude… Wenn wir über die Ehe, über das eheliche Leben sprechen, ist es nötig, mit einer klaren Aussage über die Liebe der Ehegatten zu beginnen.

Die menschliche Liebe ist heilig

24 Die reine und lautere Liebe der Eheleute ist heilig, und ich als Priester segne sie mit beiden Händen. Die christliche Überlieferung hat in der Anwesenheit des Herrn bei der Hochzeit zu Kana häufig eine Bestätigung des göttlichen Wertes der Ehe gesehen: Unser Erlöser war bei der Hochzeit zugegen, um das Prinzip der menschlichen Fortpflanzung zu heiligen, schreibt der heilige Cyrill von Alexandrien [Cyrill von Alexandrien, In Ioannem commentarius, 2, 1 (PG 73, 223)].
Die Ehe ist ein Sakrament, das aus zwei Leibern ein Fleisch macht, wie es in der Theologie drastisch heißt. Die Leiber der Brautleute selbst sind die Materie des Sakramentes. Der Herr heiligt und segnet die Liebe des Mannes zur Frau und der Frau zum Manne: Er hat nicht nur die Vereinigung ihrer Seelen, sondern auch die ihrer Leiber gewollt. Kein Christ, ob zum ehelichen Leben berufen oder nicht, kann dies abwerten.
Der Schöpfer hat uns den Verstand gegeben, der wie ein Funke des göttlichen Wissens ist, und uns – zusammen mit dem freien Willen, einer weiteren Gabe Gottes – erlaubt, zu erkennen und zu lieben. Und Er hat dem Menschen die Fähigkeit zur Zeugung verliehen, die wie eine Teilnahme an seiner Schöpferkraft ist. Gott hat sich der ehelichen Liebe bedienen wollen, um neuen Geschöpfen das Leben zu geben und den Leib seiner Kirche zu mehren. Die Geschlechtlichkeit ist nichts Beschämendes, sondern ein Gottesgeschenk, das in seiner Reinheit auf das Leben, die Liebe und die Fruchtbarkeit hingeordnet ist.
Auf diesem Hintergrund will die christliche Lehre über die Sexualität gesehen werden.
Unser Glaube verkennt nicht das Schöne, Erhabene und echt Menschliche hier auf der Erde. Er lehrt uns, daß die Richtschnur unseres Lebens nicht egoistisches Luststreben sein darf, da nur Verzicht und Opfer zur wahren Liebe führen. Gott hat uns geliebt, und Er fordert uns auf, Ihn und unsere Nächsten so wahrhaftig zu lieben, wie Er uns liebt. Wer sein Leben zu gewinnen sucht, wird es verlieren; wer dagegen sein Leben um meinetwillen verliert, wird es gewinnen, heißt es, scheinbar paradox, beim heiligen Matthäus [Mt 10,39].
Wer nur um sich selbst kreist und vor allem die eigene Befriedigung sucht, setzt sein ewiges Heil aufs Spiel und ist mit Gewißheit schon jetzt unglücklich. Nur wer sich selbst vergißt und sich Gott und dem Nächsten hingibt, auch in der Ehe, kann auf Erden glücklich sein, in einer Glückseligkeit, die den Himmel vorbereitet und vorwegnimmt.
Auf unserem Erdenweg ist der Schmerz Prüfstein der Liebe. In kurzen Worten läßt sich sagen, daß der Ehestand Licht und Schattenseiten hat: auf der einen Seite die Freude, sich geliebt zu wissen, davon zu träumen, eine Familie zu gründen und sie voranzubringen, die Kinder heranwachsen zu sehen, und auf der anderen Seite Leid, Widerwärtigkeiten und den Lauf der Zeit zu erfahren, der den Körper verfallen läßt und die Seele zu verbittern droht, die scheinbare Eintönigkeit der scheinbar immer gleichen Tage.
Wer aber meint, all diese Schwierigkeiten seien schon das Ende von Liebe und Freude, hat eine ärmliche Vorstellung von der Ehe und der menschlichen Liebe. Vielmehr ist erst dann, wenn wir den Kern des menschlichen Fühlens erreichen, die Zeit gekommen, in der sich Hingabe und Zärtlichkeit festigen und als eine Liebe erweisen, die stärker ist als der Tod [Spr 8,6].

25 Diese Echtheit der Liebe erfordert Treue und Aufrichtigkeit in allen ehelichen Beziehungen. Der heilige Thomas von Aquin [Thomas von Aquin, Summa Theologica I-II, qq. 31 et 141]bemerkt dazu: Gott hat jeder Funktion des menschlichen Lebens einen Genuß, eine Befriedigung zugeordnet. Dieser Genuß und diese Befriedigung sind folglich gut. Der Mensch verkehrt aber die rechte Ordnung der Dinge, wenn er diese Befriedigung als letzten Wert sucht und das Ziel verachtet, dem sie verbunden und untergeordnet ist: dann läßt er sie entarten und macht sie zu einer Sünde oder zum Anlaß zur Sünde.
Die Keuschheit – nicht bloß Enthaltsamkeit, sondern das entschiedene Ja eines liebenden Willens – ist eine Tugend, welche die Liebe in jedem Abschnitt des Lebens jung erhält. Es gibt eine Keuschheit derer, die das Erwachen der Pubertät in sich fühlen, eine Keuschheit derer, die sich auf die Ehe vorbereiten, eine Keuschheit derer, die Gott zum Zölibat beruft, und eine Keuschheit derer, die von Gott auserwählt wurden, in der Ehe zu leben.
Wer erinnert sich hier nicht an die kraftvollen, klaren Worte der Vulgata, mit denen im Alten Testament der Erzengel Raphael den Tobias ermahnt, bevor dieser Sara zu sich nimmt: Da sprach der Engel zu ihm: "Höre auf mich, und ich will dir zeigen, über welche Menschen der böse Geist Gewalt hat. Es sind solche, die eine Ehe so eingehen, daß sie Gott aus sich und ihrem Sinn verbannen und nur ihrer Lüsternheit frönen wie Pferde und Maultiere, die keinen Verstand haben. über solche hat der böse Geist Gewalt" [Tob 6,16-17].
Eine lautere, aufrichtige und freudige menschliche Liebe ist in der Ehe nur möglich, wenn die Tugend der Keuschheit, die das Geheimnis der Sexualität nicht antastet und es auf die Fruchtbarkeit und Hingabe hinordnet, gelebt wird. Ich habe nie von Unreinheit gesprochen und stets eine sinnlose und schlüpfrige Kasuistik vermieden, aber von Keuschheit und Reinheit, dem freudigen Ausdruck der Liebe, habe ich oft gesprochen und muß ich sprechen.
Im Hinblick auf die eheliche Keuschheit sage ich den Eheleuten, daß sie keine Angst haben sollen, ihrer Zuneigung auch Ausdruck zu verleihen, im Gegenteil, diese Zuneigung ist ja gerade das Fundament ihrer Familie. Was der Herr von ihnen erwartet, ist, daß sie sich gegenseitig achten, loyal im Umgang miteinander sind, feinfühlig, natürlich und rücksichtsvoll. Und ich füge hinzu, daß die eheliche Begegnung echt ist, wenn sie Zeichen wirklicher Liebe ist und daher für den Willen zum Kind offen bleibt.
Die Quellen des Lebens versiegen zu lassen, ist ein Verbrechen an den Gaben, die Gott der Menschheit anvertraut hat, und ein Hinweis darauf, daß man sich vom Egoismus und nicht von der Liebe leiten läßt. Dann trübt sich alles, und die Eheleute sehen sich schließlich als Komplizen. Risse, die dann entstehen, sind, wenn es so weitergeht, fast nie mehr zu beheben.
Wenn die Liebe die eheliche Keuschheit einschließt, ist das eheliche Leben Ausdruck einer wahrhaftigen Haltung, Mann und Frau verstehen sich und fühlen sich vereint. Wenn aber das göttliche Gut der Sexualität sittlich verfällt, geht die Intimität verloren, und Mann und Frau können sich nicht mehr in die Augen sehen.
Das Leben der Eheleute soll getragen sein von einer aufrichtigen und lauteren Liebe und von der freudigen Haltung, so viele Kinder zu haben, wie Gott ihnen ermöglicht, auch, wenn nötig, unter Verzicht auf persönliche Annehmlichkeiten und im Glauben an die göttliche Vorsehung. Wenn eine kinderreiche Familie Gottes Wille ist, sind darin Glück und Wirksamkeit verbürgt, mögen auch die irregeleiteten Verfechter eines traurigen Hedonismus das Gegenteil behaupten.

26 Vergeßt nicht, daß es manchmal unmöglich ist, einem Wortwechsel aus dem Wege zu gehen. Aber streitet euch niemals vor den Kindern. Das würde ihnen wehtun, und durch ihre Parteinahme würden sie unbewußt dazu beitragen, eure Uneinigkeit zu vertiefen. Jedoch ist Streiten, wenn es nicht allzuoft vorkommt, auch Ausdruck der Liebe und beinahe notwendig. Oft ist der Anlaß, nicht der Grund, daß der Mann müde und überarbeitet heimkommt, oder die Frau erschöpft ist – hoffentlich nicht gelangweilt –, weil sie sich mit den Kindern oder im Haushalt abgeplagt hat, oder aber auch, weil sie mit ihrem eigenen, vielleicht unsteten Temperament zu kämpfen hatte, obwohl ihr Frauen fester im Charakter sein könnt als die Männer, wenn ihr nur wollt.
Meidet den Hochmut, denn er ist der gefährlichste Feind eures ehelichen Lebens: bei euren Streitereien hat keiner von beiden Recht. Derjenige, der besser gelaunt ist, sollte die Verstimmung auf etwas später verschieben helfen. Und später – unter vier Augen – streitet euch nur, denn ihr werdet euch sogleich wieder versöhnen.
Ihr Frauen solltet euch fragen, ob ihr nicht eure persönliche Pflege ein wenig vernachlässigt, und daran denken: Eine gepflegte Frau hält den Mann von fremden Türen ab. Die Pflicht, liebenswert zu erscheinen wie zu eurer Brautzeit, verjährt nie. Es ist eine Pflicht der Gerechtigkeit, denn ihr gehört eurem Mann; und er darf auch nicht vergessen, daß er euch gehört und während seines ganzen Lebens jene Herzlichkeit wachhalten soll wie zur Zeit, als ihr verlobt wart. Es wäre ein schlechtes Zeichen, würdet ihr jetzt skeptisch lächeln: Es wäre ein offensichtlicher Beweis dafür, daß eure Zuneigung sich in Kälte und Gleichgültigkeit gewandelt hätte.

Ein helles, freundliches Zuhause

27 Man kann nicht über die Ehe sprechen, ohne gleichzeitig an die Familie zu denken, die Frucht und Fortsetzung dessen ist, was mit der Ehe beginnt. Eine Familie besteht nicht nur aus Mann und Frau, sondern auch aus den Kindern und manchmal den Großeltern, anderen Verwandten und den Hilfskräften im Haushalt. Sie alle müssen jene Wärme spüren, die eine familiäre Atmosphäre ausmacht.
Sicherlich gibt es auch Ehen, denen der Herr keine Kinder schenkt: Dies ist ein Zeichen dafür, daß sie aufgefordert sind, sich mit der gleichen Zuneigung zu lieben und ihre Kräfte, sofern sie können, in den Dienst am Nächsten zu stellen. Aber für gewöhnlich kommen Kinder, und dann geht die Sorge um sie allem anderen vor. Vater und Mutterschaft enden nicht mit der Geburt: Diese Teilnahme an der Macht Gottes – die Fähigkeit zu zeugen – muß sich im Mitwirken mit dem Heiligen Geist fortsetzen und darin gipfeln, echt christliche Männer und Frauen heranzubilden.
Die Eltern sind sowohl im Menschlichen als auch im Übernatürlichen die Haupterzieher ihrer Kinder und müssen die Verantwortung dieser Aufgabe spüren. Sie fordert von ihnen Verständnis, Klugheit, die Fähigkeit zu lehren und vor allem die Fähigkeit zu lieben, sowie das Bestreben, ein gutes Beispiel zu geben. Autoritärer Zwang ist kein guter Weg in der Erziehung. Das Ideal für die Eltern liegt vielmehr darin, Freunde ihrer Kinder zu werden, Freunde, denen sie ihre Sorgen anvertrauen, mit denen sie ihre Probleme besprechen und von denen sie eine wirksame und wohltuende Hilfe erwarten können.
Es ist notwendig, daß sich die Eltern Zeit nehmen, um mit ihren Kindern zusammen zu sein und mit ihnen zu sprechen. Die Kinder sind das Wichtigste: wichtiger als das Geschäft, die Arbeit, die Erholung. Bei diesen Gesprächen ist es gut, ihnen aufmerksam zuzuhören, sie verstehen zu wollen, das Stück Wahrheit – oder die ganze Wahrheit – anzuerkennen, das in ihrem Aufbegehren enthalten ist. Gleichzeitig sollten sie ihnen helfen, sie in ihrem Streben und in ihren Hoffnungen zu leiten, und ihnen beibringen, die Dinge zu erwägen und zu bedenken; sie sollten ihnen keine Verhaltensweise aufzwingen, sondern ihnen die übernatürlichen und menschlichen Motive für eine bestimmte Verhaltensweise aufdecken. Mit einem Wort: sie sollten ihre Freiheit achten, da es keine wirkliche Erziehung ohne persönliche Verantwortung, noch Verantwortung ohne Freiheit gibt.

28 Die Eltern erziehen in erster Linie durch ihr persönliches Verhalten. Die Söhne und Töchter erwarten von ihren Eltern wesentlich mehr als nur eine Erweiterung ihres noch beschränkten Wissens oder einige mehr oder weniger gute Ratschläge. Sie suchen in ihnen das Zeugnis für den Wert und den Sinn des Lebens, das sich greifbar vor ihren Augen verwirklicht und, auf die Dauer gesehen, in allen Situationen des Lebens gültig bleibt.
Müßte ich den Eltern einen Rat geben, würde ich ihnen vor allem dies sagen: Laßt eure Kinder sehen – sie sehen es ohnehin von klein auf und bilden sich ihr Urteil darüber , macht euch da keine Illusionen –, daß ihr euch bemüht, im Einklang mit eurem Glauben zu leben; daß Gott nicht nur auf euren Lippen, sondern auch in euren Werken ist, daß ihr euch bemüht, aufrichtig und loyal zu sein, daß ihr euch und sie wirklich gern habt.
So tragt ihr am besten dazu bei, aus ihnen wirkliche Christen zu machen, rechtschaffene Männer und Frauen, die fähig sind, mit Aufgeschlossenheit die Situationen zu meistern, vor die sie das Leben stellt, ihren Mitmenschen zu dienen und an ihrem Ort in der Gesellschaft ihren Beitrag zur Lösung der drängenden Menschheitsprobleme zu leisten.

29 Hört euren Kindern gut zu und widmet ihnen auch eure Zeit. Vertraut ihnen, glaubt ihnen, was sie euch sagen, auch wenn sie euch manchmal hintergehen; erschreckt nicht über ihr Aufbegehren, denn auch ihr wart in ihrem Alter mehr oder weniger rebellisch.
Kommt ihnen auf halbem Wege entgegen und betet für sie; wenn ihr christlich handelt, könnt ihr euch darauf verlassen. daß eure Kinder sich mit ihrer natürlichen Neugierde an die Eltern und nicht an einen herzlosen und brutalen "Freund" wenden. Sie werden euer Vertrauen und euer freundschaftliches Verhalten mit Aufrichtigkeit erwidern. Und das ist der Frieden in der Familie, das ist das christliche Leben, auch wenn kleine Streitereien und Mißverständnisse nicht ausbleiben werden.
Wie werde ich das Glück dieser Ehe beschreiben, fragt ein Autor der ersten christlichen Jahrhunderte, die die Kirche eint, die die Hingabe bestätigt, die der Segen besiegelt, die die Engel verkünden und die Gott der Vater als gültig annimmt? Beide Ehegatten sind wie Brüder, wie gegenseitige Diener, ohne jegliche Trennung untereinander, sei es im Fleisch oder im Geist. Denn sie sind wahrhaft zwei in einem Fleisch, und wie es nur ein Fleisch gibt, darf es nur einen Geist geben. Im Anblick dieser Stätten freut sich Christus und schickt ihnen seinen Frieden; wo zwei sind, da ist auch Er, und wo Er ist, da gibt es keinen Platz für das Böse [Tertullian, Ad uxorem, 1,2,9 (PL 1, 1302)].

30 Wir haben versucht, einige Merkmale dieser Familien, in denen sich das Licht Christi widerspiegelt und die deshalb hell und freundlich sind, zusammenzufassen – Familien, in denen sich die Eintracht der Eltern auf die Kinder, auf die ganze Familie und auf alle anderen Lebensbereiche überträgt. So wird in jeder echt christlichen Familie in einem gewissen Sinne das Geheimnis der von Gott erwählten und als Licht in die Welt gesandten Kirche gegenwärtig.
Auf jeden Christen, gleich welchen Standes er ist, ob Priester oder Laie, verheiratet oder ehelos, treffen die Worte des Apostels in der Lesung vom Feste der heiligen Familie zu: Auserwählte Gottes, Heilige und Geliebte [Kol 3,12]. Das sind wir alle, jeder an seinem Platz in der Welt, Männer und Frauen, die Gott erwählt hat, um Zeugnis von Christus abzulegen und um allen unseren Mitmenschen die Freude mitzuteilen, sich Kinder Gottes zu wissen, bei all unseren Fehlern und im Bemühen, sie zu überwinden.
Es ist sehr wichtig, daß der Sinn für die Ehe als Berufung niemals verdunkelt wird: weder in der Verkündigung noch in der Katechese, noch im Bewußtsein derer, die Gott auf diesem Wege haben will, denn sie sind wirklich berufen, an den göttlichen Heilsplänen zur Rettung aller Menschen mitzuwirken.
Deshalb gibt es für die christlichen Eheleute wohl kein besseres Beispiel als das der Familien aus der apostolischen Zeit: den Hauptmann Cornelius, der sich dem Willen Gottes gefügig zeigte und in dessen Haus sich die Öffnung der Kirche gegenüber den Heiden vollzog [Apg 10,24-48], Aquila und Priszilla, die das Christentum in Korinth und Ephesus ausbreiteten und den heiligen Paulus in seinem Apostolat unterstützten [Apg 18,1-26], Tabitha, die voll Liebe für die Christen in Joppe sorgte [Apg 9,36]. Und ebenso die Häuser so vieler Juden und Heiden, Griechen und Römer, in denen die Predigt der ersten Jünger des Herrn Frucht brachte.
Familien, die aus der Kraft Christi lebten und Christus verkündeten; kleine christliche Gemeinschaften, die wie Brennpunkte des Evangeliums waren. Es waren Familien wie so viele andere Familien jener Zeit, aber sie waren von einem neuen Geist beseelt, der alle ansteckte, mit denen sie verkehrten. So waren die ersten Christen, und so müssen wir Christen von heute sein: Boten des Friedens und der Freude, die Christus uns brachte.

 «    DIE ERSCHEINUNG DES HERRN    » 

(Homilie, gehalten am 6. Januar 1956.)

31 Vor nicht allzu langer Zeit sah ich ein Marmorrelief mit der Anbetung des Kindes in der Krippe durch die Weisen aus dem Morgenland. Als Rahmen umgaben es andere Darstellungen: vier Engel jeweils mit einem Symbol: der eine mit einem Diadem, ein anderer mit einem vom Kreuz gekrönten Erdball, der dritte mit einem Schwert und der vierte mit einem Zepter. Diese vertrauten Zeichen veranschaulichen sehr eindrucksvoll das Ereignis, das wir heute feiern. Weise Männer – der Überlieferung nach waren es Könige – werfen sich vor dem Kinde nieder, nachdem sie in Jerusalem gefragt haben: Wo ist der neugeborene König der Juden? [Mt 2,2]Bewegt von derselben Frage, betrachte auch ich jetzt Jesus, der in einer Krippe liegt [Lk 2,12], an einem Ort, der eigentlich nur für Tiere bestimmt ist. Wo, Herr, ist Deine Königswürde, wo sind Diadem, Schwert und Zepter? Sie stehen Ihm zu, doch Er will sie nicht; Er herrscht in Windeln gewickelt. Er ist ein wehrloser König, der sich uns in der Hilflosigkeit eines kleinen Kindes zeigt. Drängen sich da nicht die Worte des Apostels auf: Er entäußerte sich selbst, da Er Knechtsgestalt annahm? [Phil, 2,7]
Der Herr hat Fleisch angenommen, um uns den Willen des Vaters kundzutun. Und bereits hier, in der Wiege, unterweist Er uns. Jesus Christus sucht uns durch eine Berufung, durch eine Berufung zur Heiligkeit, damit wir mit Ihm die Erlösung vollenden.
Betrachtet den ersten Punkt seiner Lehre: Die uns anvertraute Miterlösung verwirklichen wir nicht dadurch, daß wir über unsere Mitmenschen zu triumphieren suchen, sondern durch den Sieg über uns selbst. Wie Christus müssen wir uns selbst entäußern, uns als Diener der anderen sehen, um sie Gott näher zu bringen.
Wo ist der König? Ist es nicht so, daß Jesus nirgends herrschen will als in den Herzen, in deinem Herzen? Deswegen wurde Er ein Kind. Denn wer liebt nicht ein so kleines Geschöpf? Wo ist der König? Wo ist Christus, den der Heilige Geist in unserer Seele Gestalt gewinnen lassen will? Nicht im Stolz, der uns von Gott trennt, nicht in der Lieblosigkeit, die uns isoliert. Dort kann Christus nicht sein, denn dort ist der Mensch allein.
Zu Füßen des Kindes, vor einem König ohne äußere Zeichen seiner Würde, könnt ihr Ihm am Tag der Epiphanie sagen: Herr, befreie mein Leben von allem Stolz, durchbreche meine Eigenliebe, diesen Drang, mich um jeden Preis durchsetzen zu wollen und den anderen meinen Willen aufzuzwingen. Gib, daß die Vereinigung mit Dir die Grundlage meines persönlichen Lebens werde.

Der Weg des Glaubens

32 Mit Christus eins werden ist sicher nicht leicht; aber auch nicht so schwer, wenn wir leben, wie der Herr es uns gelehrt hat: Wenn wir täglich unsere Zuflucht zu seinem Wort nehmen, wenn wir unser ganzes Leben durchdringen lassen von der sakramentalen Wirklichkeit der Eucharistie, die Er uns als Speise hinterlassen hat; denn der Weg des Christen ist ein gangbarer Weg, wie es in einem alten Lied meines Landes heißt. Gott hat uns klar und unmißverständlich gerufen. Wie die weisen Könige haben wir am Himmel unserer Seele einen Stern entdeckt als Licht und Wegweiser.
Wir haben seinen Stern im Morgenlande gesehen und sind gekommen, Ihn anzubeten [Mt 2,2]. Dasselbe haben auch wir erfahren. Auch wir haben gemerkt, wie nach und nach in unserer Seele ein neuer Glanz erstrahlte: das Verlangen, ganz und gar Christ zu sein. Wenn ihr mir den Ausdruck erlaubt: es war unsere Sehnsucht, Gott ganz ernst zu nehmen. Würde jeder von euch in diesem Augenblick laut erzählen, wie im Innersten seine übernatürliche Berufung zu keimen begann, wir anderen wären alle der festen Meinung, daß alles das Wirken Gottes war. Danken wir Gott dem Vater, Gott dem Sohn, Gott dem Heiligen Geist und der heiligen Maria, durch deren Vermittlung wir alle Wohltaten des Himmels empfangen, für dieses Geschenk, das neben dem Glauben das größte ist, das der Herr einem Geschöpf gewähren kann: das beharrliche Streben nach der Fülle der Liebe, in der Überzeugung, daß die Heiligkeit inmitten der beruflichen und gesellschaftlichen Aufgaben nicht nur möglich, sondern auch nötig ist.
Seht, mit welchem Feingefühl uns der Herr einlädt. Er spricht mit menschlichen Worten, wie ein Verliebter: Ich habe dich bei deinem Namen gerufen… Mein bist du [Is 43,1].
Gott, der die Schönheit ist, die Größe und die Weisheit, sagt uns, daß wir sein sind, daß Er uns auserwählt hat, um uns seine unendliche Liebe entgegenzubringen. Ein aufrechtes Glaubensleben ist erforderlich, um dieses herrliche Geschenk nicht zu vergeuden, das die Vorsehung uns anvertraut hat. Ein Glaube wie der jener Könige, die davon überzeugt waren, daß weder die Wüste noch Unwetter, noch die Ruhe der Oasen uns daran hindern können, das ewige Bethlehem zu erreichen, das endgültige Leben mit Gott.

33 Der Weg des Glaubens ist ein Weg des Opfers. Die christliche Berufung entfernt uns nicht von unserem Platz, aber sie fordert von uns, alles das aufzugeben, was der Liebe zu Gott im Wege steht. Das aufgehende Licht ist nur der Anfang. Wir müssen ihm folgen, wenn wir wollen, daß sein Schein für uns zum Stern, ja zur Sonne selbst werden soll. Der heilige Chrysostomus schreibt: Solange die Weisen noch in Persien waren, sahen sie nichts weiter als einen Stern. Als sie jedoch ihre Heimat verließen, sahen sie die Sonne der Gerechtigkeit selbst. Man kann sagen, sie hätten den Stern nicht weiter gesehen, wenn sie in ihrem Land geblieben wären. Auch wir wollen uns beeilen! Und wenn uns alle daran hinderten, wir wollen zum Haus dieses Kindes laufen [Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae, 6,5 (PG 57, 78)].

Festigkeit in der Berufung

"Wir haben seinen Stern im Morgenlande gesehen und sind gekommen, Ihn anzubeten." Als der König Herodes das hörte, erschrak er und mit ihm ganz Jerusalem [Mt 2,2-3].
Noch heute wiederholt sich dieses Geschehen. Angesichts der Größe Gottes, angesichts der mit menschlichem Ernst und tiefer christlicher Überzeugung getroffenen Entscheidung, den eigenen Glauben konsequent zu leben, gibt es immer wieder Leute, die sich darüber wundern, ja, die empört und fassungslos sind. Man könnte sagen, sie kennen keine andere Wirklichkeit als jene, die in ihren beschränkten Horizont paßt. Wenn sie das großzügige Verhalten anderer, die den Ruf des Herrn vernommen haben, wahrnehmen, lächeln sie abschätzig, erschrecken oder richten – dies in Fällen, die geradezu pathologisch anmuten – ihr ganzes Bemühen darauf, einen Menschen, der sich in seinem Gewissen frei für eine heilige Sache entschieden hat, an seinem Weg zu hindern.
Ich selbst habe gelegentlich so etwas wie eine allgemeine Mobilmachung gegen jene erlebt, die sich entschlossen haben, ihr ganzes Leben in den Dienst für Gott und den Nächsten zu stellen. Manche meinen, der Herr dürfe nicht berufen, wen Er wolle, ohne vorher ihre Erlaubnis eingeholt zu haben. Obendrein sind sie noch der Überzeugung, der Mensch sei nicht der vollkommenen Freiheit fähig, die Liebe mit einem Ja aufzunehmen oder auch zurückzuweisen. Für jene, die so denken, ist das übernatürliche Leben einer Seele völlig zweitrangig. Zwar sind auch sie der Meinung, man müsse sich darum kümmern, jedoch unter der Voraussetzung, daß Annehmlichkeiten und die Befriedigung der Bedürfnisse des menschlichen Eigennutzes garantiert sind. Was würde wohl, wäre das richtig, vom Christentum noch übrigbleiben? Sollen wir die liebevollen und zugleich fordernden Worte Jesu nur hören, oder sollen wir sie hören und verwirklichen? Er sagte: Seid also vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist! [Mt 5,48]Unser Herr richtet sich an alle Menschen, damit sie Ihn suchen, damit sie heilig seien.
Er ruft nicht nur die Könige aus dem Morgenland, die weise und mächtig waren. Vorher bereits hatte Er zwar keinen Stern, doch einen seiner Engel zu den Hirten gesandt [Vgl. Lk 2,9]. Aber alle, ob arm oder reich, ob weise oder weniger weise, müssen in ihrer Seele die demütige Bereitschaft wachhalten, auf die Stimme Gottes zu hören.
Seht doch, wie es Herodes erging: Er war einer der Mächtigen dieser Erde und konnte sich die Mitarbeit von Gelehrten zunutze machen: Er versammelte alle Hohenpriester und Schriftgelehrten des Volkes und legte ihnen die Frage vor, wo der Messias geboren werden sollte [Mt 2,4]. Aber seine Macht und sein Wissen sind für sein verhärtetes Herz nur Mittel zum Bösen: zum sinnlosen Wunsch, Gott zu vernichten, zur Verachtung des Lebens einer Handvoll unschuldiger Kinder .
Im Evangelium lesen wir weiter: Sie antworteten ihm: "Zu Bethlehem in Judäa. Denn so steht beim Propheten geschrieben: Du, Bethlehem im Lande Juda, bist keineswegs die geringste unter Judas Fürstenstädten. Denn aus dir soll hervorgehen der Fürst, der mein Volk Israel regieren wird" [Mt 2,5-6]. Wir dürfen diese Details der göttlichen Barmherzigkeit nicht übersehen: Der die Welt erlösen wollte, wird in einem entlegenen Dorf geboren. Und, wie die Schrift nachdrücklich wiederholt, bei Gott gibt es kein Ansehen der Person [Vgl. 2 Chr 19,7; Röm 2,11; Eph 6,9; Kol 3,25 usw]. Um einen Menschen zu einem Leben in Übereinstimmung mit dem Glauben zu berufen, achtet Er weder auf Reichtum noch auf Herkommen, noch auf Wissenschaft. Die Berufung geht jeglichem Verdienst voraus. Und siehe, der Stern, den sie im Morgenlande gesehen hatten, zog vor ihnen her, bis er schließlich über dem Ort stehenblieb, wo das Kindlein war [Mt 2,9].
Die Berufung ist das erste; bevor wir überhaupt wissen, wie wir uns an Ihn wenden können, liebt Gott uns schon und schenkt uns die Liebe, mit der wir Ihm antworten können. Gottes väterliche Güte kommt uns entgegen [Ps 79, 8]. Unser Herr ist viel mehr als nur gerecht: Er ist barmherzig. Er wartet nicht, bis wir zu Ihm kommen. Er kommt uns zuvor mit untrüglichen Erweisen seiner väterlichen Liebe.

Guter Hirte und Führer

34 Wenn die Berufung das erste ist, wenn der Stern vorausleuchtet, um uns auf unserem Weg der Liebe zu leiten, dann gibt es keinen Grund zu zweifeln, wenn er sich einmal vor uns verbirgt. In unserem inneren Leben wiederholen sich jene Augenblicke – und fast immer sind wir es selbst schuld –, in denen es uns wie den Weisen auf ihrer Reise ergeht: der Stern verschwindet. Wir wissen zwar schon um den göttlichen Glanz unserer Berufung, und wir sind auch überzeugt von ihrer Endgültigkeit, aber es kann geschehen, daß der Staub, den wir beim Gehen aufwirbeln – unsere Erbärmlichkeiten –, eine trübe Wolke bildet, die das Licht nicht durchdringen läßt.
Was sollen wir in dieser Situation tun? Dem Beispiel jener heiligen Menschen folgen und fragen. Herodes diente die Wissenschaft dazu, Unrecht zu tun; den Weisen dient sie zum Guten. Wir Christen freilich haben es nicht nötig, einen Herodes oder die Weisen dieser Welt zu fragen. Denn Christus hat seiner Kirche die sichere Lehre, den Gnadenstrom der Sakramente gegeben. Er hat es so gefügt, daß es Menschen gibt, die uns den Weg weisen, uns leiten und uns ständig an den rechten Weg erinnern. Uns steht ein unendlicher Wissensschatz zur Verfügung: das Wort Gottes, das die Kirche bewahrt; die Gnade Christi, die in den Sakramenten ausgespendet wird; das Zeugnis und das Beispiel jener, die ein aufrechtes Leben führen und es verstanden haben, einen Weg der Treue zu Gott einzuschlagen.
Ich möchte euch einen Rat geben: Solltet ihr einmal den klaren Blick verlieren, dann nehmt eure Zuflucht immer zum guten Hirten. Wer dieser gute Hirte ist? Wer hineingeht durch die Tür der Treue zur Lehre der Kirche; wer sich nicht wie ein Mietling benimmt, der den Wolf kommen sieht und die Schafe verläßt und flieht; und der Wolf fällt die Schafe an und zersprengt sie [Vgl. Jo 10,1-21]. Das Wort Gottes hat seinen tiefen Sinn; wenn Christus mit solchem Nachdruck von Hirten und Schafen, vom Stall und der Herde spricht und wem könnte entgehen, mit welcher Liebe Er spricht –, dann ist dies ein lebensnaher Hinweis darauf, wie nötig für unsere Seele ein guter Führer ist.
Der heilige Augustinus schreibt: Gäbe es nicht schlechte Hirten, dann hätte Er nicht vom guten gesprochen. Wer ist der Mietling? Derjenige, der den Wolf sieht und flieht. Wer seine Ehre und nicht die Ehre Christi sucht; wer es nicht wagt, in aller Freiheit des Geistes die Sünder zu schelten. Der Wolf packt ein Schaf an der Kehle, der Teufel verführt einen Gläubigen zum Ehebruch. Und du schweigst und weist nicht zurecht. Du bist ein Mietling.
Du hast den Wolf kommen sehen und bist geflohen. Vielleicht leugnet er und sagt: Ich bin hier, bin nicht geflohen. Ich aber antworte: Nein, du bist geflohen, da du geschwiegen hast; und geschwiegen hast du, da du Angst gehabt hast
[Augustinus, In Ioannis Evangelium tractatus, 46, 8 (PL 35, 1732)].
Die Heiligkeit der Braut Christi hat sich immer – genau wie heute – in der Fülle guter Hirten erwiesen. Wenn auch der christliche Glaube Einfachheit von uns verlangt, verleitet er uns doch nicht zur Naivität. Es gibt Mietlinge, die schweigen, und es gibt solche, die sprechen, deren Worte aber nicht Worte Christi sind. Wenn der Herr zuläßt, daß wir uns in der Finsternis nicht zurechtfinden – auch in kleinen Dingen –, wenn wir spüren, daß unser Glaube nicht stark ist, dann sollen wir beim guten Hirten Zuflucht suchen. Er tritt durch die Tür ein und übt sein Recht aus, er gibt sein Leben für die andern, er will in Wort und Tat bezeugen, daß sein Herz erfüllt ist von Liebe. Vielleicht ist auch er ein Sünder, aber er vertraut immer auf die Vergebung und Barmherzigkeit Christi.
Wenn ein Fehler euer Gewissen beunruhigt – auch wenn ihr ihn nicht für schwer haltet –, wenn euch Zweifel kommen, so empfangt das Sakrament der Buße; geht zu dem Priester, der sich wirklich um euch kümmert, der von euch einen festen Glauben, ein feinfühliges Herz und echten christlichen Starkmut verlangt. In der Kirche ist jeder vollkommen frei, bei jedwedem Priester zu beichten, der die entsprechende Vollmacht dazu hat. Ein Christ jedoch, der geradlinig lebt, wird eben aus dieser Freiheit heraus zu dem gehen, den er als guten Hirten kennt, und der ihm helfen kann, den Blick zu erheben, damit er von neuem den Stern des Herrn über sich sieht.

Gold, Weihrauch und Myrrhe

35 Videntes autem stellam gavisi sunt gaudio magno valde Videntes autem stellam gavisi sunt gaudio magno valde [Mt 2,10], heißt es in einer eindrucksvollen Fülle des lateinischen Textes: Als sie den Stern wieder sahen, waren sie hocherfreut. Warum eine derartige Freude? Weil jene, die nie zweifelten, vom Herrn den Beweis erhalten, daß der Stern nicht verschwunden war. Sie hatten ihn zwar nicht mehr sehen können, aber in ihrer Seele hatten sie sein Bild bewahrt. Genauso ist es mit der Berufung des Christen: Wenn man den Glauben nicht verliert und die Hoffnung auf Jesus Christus nicht aufgibt, der bei uns sein wird bis ans Ende der Welt [Mt 28,20], dann wird der Stern wieder hervortreten. Und wenn wir dann von neuem die Wirklichkeit unserer Berufung erfahren, entbrennt in uns eine um so größere Freude, die unseren Glauben, unsere Hoffnung und unsere Liebe vermehrt.
Sie traten in das Haus und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter. Sie fielen nieder und beteten Es an [Mt 2,11]. Auch wir knien uns vor Jesus nieder, dem in der Menschheit verborgenen Gott: Wir wiederholen vor Ihm, daß wir sein göttliches Rufen niemals mehr überhören und uns nie wieder von Ihm trennen wollen; daß wir auf unserem Weg alles beseitigen wollen, was der Treue hinderlich ist; daß wir den aufrichtigen Wunsch haben, seinen Eingebungen zu folgen. Wir beide: du, im Innern deiner Seele, und ich, wir sind gerade dabei – denn ich bete in meinem Innersten mit stummen Schreien aus der Tiefe –, dem Kind zu erzählen, wie sehr wir Ihm, gleich jenen Knechten im Gleichnis, treu sein wollen, damit Christus auch uns sagen kann: Recht so, du guter und treuer Knecht! [Mt 25,23]
Dann taten sie ihre Schätze auf und brachten Ihm Geschenke dar; Gold, Weihrauch und Myrrhe [Mt 2,11]. Wir wollen zum besseren Verständnis ein wenig bei dieser Stelle des Evangeliums verweilen. Wie können wir, die wir doch nichts sind und nichts taugen, Gott Geschenke darbringen? In der Heiligen Schrift heißt es: Jede gute Gabe und jedes vollkommene Geschenk kommt von oben [Jak 1,17]. Der Mensch vermag nicht einmal, die Tiefe und Schönheit der Gaben des Herrn vollkommen zu ermessen: Wenn du die Gabe Gottes kenntest [Jo 4,10], erwidert Jesus der Samariterin. Jesus Christus hat uns gelehrt, alles vom Vater zu erhoffen, vor allem anderen das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu suchen, weil uns alles andere hinzugegeben wird. Denn Er weiß genau, wessen wir bedürfen [Vgl. Mt 6,32-33].
Unser Vater sorgt voll Liebe für jede Seele: Jeder hat von Gott seine besondere Gabe, der eine von dieser, der andere von jener Art [1 Kor 7,7]. Daher wäre es müßig, dem Herrn etwas anbieten zu wollen, wessen Er bedürfte. Insofern wir Schuldner sind, unfähig, unsere Schuld zu begleichen [Vgl. Mt 18,25], würden unsere Gaben denen des Alten Bundes ähnlich sein, die der Herr nicht mehr annimmt: Schlacht- und Speiseopfer, Brand- und Sühnopfer willst Du nicht, Du hast daran kein Wohlgefallen [Hebr 10, 8].
Der Herr weiß aber, daß Verliebte immer schenken wollen, und so sagt Er uns, was Er sich von uns wünscht. Ihn interessieren nicht Reichtümer, nicht die Früchte der Erde, nicht die Tiere der Erde, des Meeres oder der Luft, denn alles das gehört Ihm ja. Er will etwas ganz Persönliches, das wir Ihm aus freien Stücken geben sollen: Gib mir dein Herz, mein Kind [Spr 23, 26]. Seht, Er gibt sich nicht zufrieden, wenn Er mit anderen teilen muß, Er will alles. Er ist nicht auf der Suche nach unseren Gütern, ich wiederhole es: uns selbst will Er.
Hier, und nur hier liegt der Grund für alle anderen Geschenke, die wir dem Herrn anbieten können.
So wollen wir Ihm Gold geben: das feine Gold des Losgelöstseins vom Geld und den materiellen Dingen. Wir wollen nicht vergessen, daß es gute Dinge sind, die aus Gottes Hand kommen. Der Herr hat jedoch gewollt, daß wir sie benutzen, ohne das Herz an sie zu hängen, daß wir sie einsetzen zum Wohl aller Menschen.
Die Güter der Welt sind nicht schlecht. Der Mensch wendet sie jedoch zum Bösen, wenn er sie zu Götzen erhebt und sich vor ihnen niederwirft. Sie werden geadelt, wenn wir sie – in einer christlichen Arbeit, in Gerechtigkeit und Liebe – in Werkzeuge des Guten verwandeln. Wir können nicht den wirtschaftlichen Gütern nachjagen wie jemand, der auf Schatzsuche geht. Unser Schatz ist hier und liegt in einer Krippe. Es ist Christus, und auf Ihn muß sich unsere ganze Liebe richten, denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz [Mt 6,21].

36 Wir bringen Weihrauch dar: Wir lassen unseren Wunsch zum Herrn emporsteigen, ein rechtschaffenes Leben zu führen, von dem der bonus odor Christi [2 Kor 2,15], Christi Wohlgeruch ausgeht. Unsere Worte und Taten mit diesem bonus odor durchdringen heißt, Verständnis und Freundschaft verbreiten. Unser Leben muß im Leben der Menschen um uns aufgehen, damit keiner einsam ist oder sich so fühlt. Unsere Liebe muß voll menschlicher Wärme und Zuneigung sein.
So lehrt es uns Jesus. Seit Jahrhunderten erwartete die Menschheit die Ankunft des Erlösers; die Propheten hatten Ihn hundertfach angekündigt. Obwohl ein Großteil der Offenbarung Gottes an die Menschen aus Sünde und Unwissenheit verlorengegangen war, blieben das Verlangen nach Gott und die Sehnsucht nach der Erlösung selbst im letzten Winkel der Erde lebendig.
Endlich kommt die Fülle der Zeit. Doch es erscheint kein philosophisches Genie wie Platon oder Sokrates, um diese Aufgabe zu erfüllen. Ebensowenig zeigt sich ein mächtiger Welteneroberer wie Alexander der Große. Ein Kind wird in Bethlehem geboren. Es ist der Retter der Welt. Doch bevor Es spricht, liebt Es mit Werken. Es bringt keine Zauberformel mit, denn Es weiß, daß die Erlösung, die Es anbietet, sich nur in den Herzen der Menschen vollziehen kann. Zuerst geschieht nichts anderes als das Lachen und Weinen eines Kindes, der unschuldige Schlaf eines fleischgewordenen Gottes: dies alles, damit in uns die Liebe aufbricht und wir das Kind ohne Scheu in die Arme nehmen.
Wir erkennen von neuem, daß hierin das Christentum besteht. Wenn der Christ nicht mit Werken liebt, dann ist er als Christ und damit auch als Mensch gescheitert. In deinem Denken dürfen die anderen nicht Nummern sein oder eine Masse, die, je nachdem, gepriesen oder gedemütigt, umworben oder verachtet wird. In deinem Denken sollen die anderen – vor allem aber diejenigen in deiner unmittelbaren Nähe – das sein, was sie wirklich sind: Kinder Gottes, ausgestattet mit aller Würde, welche dieser erhabene Titel verleiht.
Den Kindern Gottes gegenüber müssen wir uns als Kinder Gottes verhalten; mit einer opferbereiten Liebe, die sich täglich in unzähligen kleinen Beweisen der Verständnisbereitschaft, des stillen Opfers, der unbemerkten Hingabe niederschlägt. Dies ist der bonus odor Christi, der diejenigen, die unter unseren ersten Glaubensbrüdern lebten, zu der Bemerkung veranlaßte: Seht, wie sie einander lieben!
Es geht nicht um ein fernes Ideal. Der Christ ist kein Sonderling, der wie ein Tartarin de Tarascon Löwen jagen will, wo es keine gibt: in den Gängen seines Hauses. Es geht um das konkrete tägliche Leben: die Heiligung der Arbeit, des Familienlebens, der Freundschaft. Wenn wir da keine Christen sind, wo sonst sollten wir es sein? Der Wohlgeruch des Weihrauchs wird genährt von einer Glut, die unauffällig Korn um Korn verzehrt. Die Menschen bemerken den bonus odor Christi nicht am Aufflackern eines Strohfeuers, sondern an der verborgenen, aber wirksamen Glut der Tugenden: der Gerechtigkeit, der Zuverlässigkeit, der Treue, des Verständnisses, der Großzügigkeit und der Freude.

37 Schließlich bringen wir mit den Königen auch Myrrhe dar, das Opfer nämlich, das im Leben keines Christen fehlen darf. Die Myrrhe erinnert uns an das Leiden des Herrn: Am Kreuz gibt man Ihm Myrrhe mit Wein zu trinken [Vgl. Mk 15,23]; und mit Myrrhe salbten sie seinen Leib zum Begräbnis [Vgl. Jo 19,39]. Wenn wir über die Notwendigkeit des Opfers und der Abtötung nachdenken, so dürft ihr nicht meinen, dies hieße, dem frohen Fest, das wir heute feiern, einen traurigen Beigeschmack geben.
Abtötung ist nicht Ausdruck von Pessimismus und auch nicht von Verbitterung. Ohne Liebe ist die Abtötung wertlos. Deswegen müssen wir solche Abtötungen suchen, die uns eine innere Überlegenheit gegenüber den Dingen dieser Welt vermitteln, gleichzeitig aber jene nicht abtöten, die mit uns zusammenleben. Der Christ darf weder ein Scharfrichter sein noch eine klägliche Figur abgeben. Er ist ein Mensch, der mit Taten zu lieben versteht und für den das Leid Prüfstein seiner Liebe ist.
Ich muß jedoch noch einmal betonen, daß diese Abtötung im allgemeinen nicht im Verzicht auf große Dinge besteht – letzten Endes sind die Gelegenheiten hierzu ja auch gar nicht so häufig –, sondern in kleinen Überwindungen: jenem zuzulächeln, der ungelegen kommt, dem Körper die Annehmlichkeiten überflüssiger Dinge zu verwehren, uns daran zu gewöhnen, anderen zuzuhören, die Zeit auszunützen, die Gott uns zur Verfügung stellt… und viele andere, scheinbar unbedeutende Kleinigkeiten, die im Laufe des Tages auf uns zukommen, ohne daß wir sie suchen: Widriges, Schwierigkeiten, Unangenehmes.

Sancta Maria, Stella Orientis

38 Ich möchte mit einigen Worten des Evangeliums von heute schließen: Sie traten in das Haus und sahen das Kind mit Maria, seiner Mutter. Unsere Herrin trennt sich nicht von ihrem Sohn. Die Weisen werden nicht von einem König, auf seinem Thron erhöht, empfangen, sondern von einem Kind in den Armen seiner Mutter. Wir wollen die Mutter Gottes, die auch unsere Mutter ist, darum bitten, daß sie uns den Weg zur vollkommenen Liebe bereite: Cor Mariae dulcissimum, iter para tutum! Ihr liebenswertes Herz kennt den sicheren Weg, auf dem wir zu Christus gelangen.
Die Weisen hatten den Stern, wir haben Maria, Stella maris, Stella orientis. Wir rufen sie heute an: Heilige Maria, Meerstern, Morgenstern, hilf deinen Kindern. Unser Eifer für die Seelen darf keine Grenzen kennen, denn niemand ist von der Liebe Christi ausgeschlossen. Die Weisen waren die Erstlingsgabe der Heiden. Seit aber die Erlösung vollbracht ist, gilt nicht mehr Jude oder Heide, nicht mehr Knecht oder Freier, nicht mehr Mann oder Frau – es gibt nicht die geringste Unterscheidung – ihr seid alle eins in Christus Jesus [Gal 3,28].
Wir Christen können nicht exklusivistisch denken, wir dürfen die Seelen nicht voneinander trennen und in verschiedene Klassen einteilen. Viele werden von Osten und von Westen kommen [Mt 8,11]. Im Herzen Christi ist für alle Platz. Seine Arme sind – betrachten wir Ihn nochmals in der Krippe – die eines Kindes. Aber es sind dieselben Arme, die Er am Kreuz ausbreiten wird, um alle Menschen an sich zu ziehen [Vgl. Jo 12,32].
Einen letzten Gedanken wollen wir noch dem heiligen Josef widmen, diesem gerechten Mann, unserem Vater und Herrn. Wie gewöhnlich bleibt er auch in dieser Szene der Epiphanie unbemerkt. Ich stelle mir ihn gesammelt im betrachtenden Gebet vor, wie er liebevoll den menschgewordenen Sohn Gottes beschützt, der seiner väterlichen Sorge anvertraut wurde. Mit dem Feingefühl eines Menschen, der nicht für sich selbst lebt, gibt sich der heilige Josef großzügig hin in einem gleichermaßen stillen wie wirksamen Dienst.
Wir haben heute vom Leben des Gebetes und vom apostolischen Eifer gesprochen.
Wer wäre dafür ein besserer Meister als der heilige Josef? Wenn ihr wollt, gebe ich euch einen Rat, den ich seit Jahren beständig wiederhole: Ite ad Joseph [Gn 41,55], wendet euch an Josef. Er wird euch konkrete Wege zeigen, zu Jesus zu kommen, menschliche und göttliche Wege, euch Ihm zu nähern. So wie er werdet ihr es dann auch bald wagen, das Gotteskind, das uns geboren wurde, in die Arme zu nehmen, zu küssen, zu kleiden und zu pflegen [Aus dem Gebet zum heiligen Josef im Missale Romanum als Vorbereitung auf die heilige Messe: O felicem virum, beatum Joseph, cui datum est, Deum, quem multi reges voluerunt videre et non viderunt, audire et non audierunt; non solum videre et audire, sed portare, deosculari, vestire et custodire!]. Bei ihrer Huldigung und Verehrung haben die Weisen Jesus Gold, Weihrauch und Myrrhe geschenkt; Josef gab Ihm sein junges und liebendes Herz, voll und ganz.

 «    IN JOSEFS WERKSTATT    » 

(Homilie, gehalten am 19. März 1963.)

39 Die ganze Kirche sieht im heiligen Josef ihren Beschützer und Schirmherrn. Vieles ist im Verlauf der Jahrhunderte über ihn gesagt worden, man hat die verschiedenen Aspekte eines Lebens beleuchtet, das sich durch ungebrochene Treue gegenüber der ihm von Gott anvertrauten Aufgabe auszeichnet. Deshalb rufe ich ihn gern, schon seit vielen Jahren, mit einem besonders herzlichen Titel an: Unser Vater und Herr.
Denn der heilige Josef ist wirklich unser Vater und Herr. Jene, die ihn verehren, beschützt und begleitet er auf ihrem irdischen Weg, so wie er den zum Mann heranwachsenden Jesus beschützt und begleitet hat. Im Umgang mit diesem heiligen Patriarchen entdecken wir außerdem, daß er auch ein Lehrmeister des inneren Lebens ist: Er lehrt uns, Jesus kennenzulernen, mit Ihm zusammen zu leben und uns als Teil der Familie Gottes zu betrachten. All dies lehrt er uns als der, der er war: als einfacher Mann, als Familienvater, als einer, der sich den Lebensunterhalt mit seiner Hände Arbeit verdienen mußte. Auch dies ist für uns bedeutsam, ermutigend und nachahmenswert.
Da wir heute sein Fest feiern, möchte ich seine Gestalt und die Worte des Evangeliums über ihn betrachten, damit wir so besser erkennen können, was Gott uns durch das einfache Leben des Gemahls Unserer Lieben Frau sagen will.

Die Gestalt des heiligen Josef im Evangelium

40 Matthäus und Lukas berichten uns, daß der heilige Josef aus einem hervorragenden Geschlecht stammte: dem königlichen Geschlecht Davids und Salomons.
Die geschichtlichen Einzelheiten sind unklar. Wir wissen nicht, welche der beiden Ahnenreihen, die uns die Evangelisten überliefern, Maria, der leiblichen Mutter Jesu, und welche Josef, dem Vater Jesu nach jüdischem Gesetz, zuzuordnen ist. Wir wissen auch nicht, ob er in Bethlehem, wohin er sich zur Volkszählung begab, oder in Nazareth, wo er gelebt und gearbeitet hat, geboren wurde.
Aber wir wissen, daß er kein reicher Mann war; er war ein Arbeiter wie Millionen Menschen auf der ganzen Welt ; er hatte den bescheidenen und anstrengenden Beruf, den auch Gott sich wählte, als Er unser Fleisch annahm und dreißig Jahre wie einer von uns leben wollte.
Die Heilige Schrift nennt Josef einen Handwerker. Einige Kirchenväter fügen noch hinzu, er sei Zimmermann gewesen. Der heilige Justinus sagt an einer Stelle über das Arbeitsleben Jesu, er habe Pflüge und Joche hergestellt [Justinus, Dialogus cum Tryphone, 88, 2, 8 (PG 6, 687)]. Wahrscheinlich dachte der heilige Isidor von Sevilla an diese Worte, als er schrieb, Josef sei Schmied gewesen.
Jedenfalls war er ein Arbeiter, der sein handwerkliches Können, das er mühsam und im Schweiß vieler Jahre erworben hat, in den Dienst seiner Mitmenschen stellte.
In den Berichten des Evangeliums läßt sich die starke Persönlichkeit Josefs erkennen. Er erscheint nie verzagt oder ängstlich; im Gegenteil, er weiß, Probleme anzupacken, schwierige Situationen zu meistern und Aufgaben, die ihm anvertraut werden, mit Verantwortung und Initiative zu übernehmen.
Den heiligen Josef, wie es üblich ist, als greisen Mann darzustellen – mag man damit auch in bester Absicht die immerwährende Jungfräulichkeit Mariens hervorheben wollen –, finde ich unglücklich. Ich stelle ihn mir so vor: jung und stark, vielleicht etwas älter als Unsere Liebe Frau, aber doch im besten Mannesalter und voller Lebenskraft.
Um die Tugend der Keuschheit zu leben, braucht man nicht zu warten, bis man alt geworden ist oder die Kräfte geschwunden sind. Die Reinheit wächst aus der Liebe, und für eine reine Liebe sind die Kraft und die Freude der Jugend kein Hindernis. Jung war Josef an Herz und Leib, als er Maria zur Frau nahm, als er vom Geheimnis ihrer Gottesmutterschaft erfuhr, als er an ihrer Seite lebte und ihre Unversehrtheit achtete, die Gott der Welt als ein weiteres Zeichen seines Kommens geben wollte. Wer eine solche Liebe nicht zu begreifen vermag, weiß sehr wenig von wahrer Liebe und gar nichts vom christlichen Sinn der Keuschheit.
Ein Handwerker aus Galiläa, ein Mensch wie viele andere: das also war Josef, wie wir sagten. Was kann schon ein Mensch aus einem so winzigen Dorf wie Nazareth vom Leben erwarten? Arbeit und immer wieder Arbeit, Tag für Tag, immer die gleiche Mühsal; eine Behausung, ärmlich und klein, wo man nach der Mühe des Tages neue Kräfte sammelt für den nächsten Tag.
Aber der Name "Josef" bedeutet auf Hebräisch: Gott wird hinzufügen. Dem heiligmäßigen Leben jener, die seinen Willen erfüllen, verleiht Gott neue, ungeahnte Dimensionen: das Entscheidende, das, was allem anderen seinen Wert gibt, das Göttliche. Gott hat dem demütigen und heiligen Leben Josefs das Leben der Jungfrau Maria und das Leben Jesu Christi, unseres Herrn – wir wollen es so ausdrücken – hinzugefügt. Gott läßt sich an Großzügigkeit nicht übertreffen. Josef hätte die Worte Mariens, seiner Frau, selbst sprechen können: Quia fecit mihi magna qui potens est, Großes hat an mir getan, der mächtig ist, quia respexit humilitatem, denn Er hat herabgeschaut auf meine Niedrigkeit [Lk 1,48-49].
Josef war wirklich ein gewöhnlicher Mensch, auf den Gott vertraut hat, um Großes zu wirken. Er verstand es, sich in jeder Situation seines Lebens so zu verhalten, wie Gott es erwartete. Deshalb preist die Heilige Schrift Josef als einen Gerechten [Vgl. Mt 1,19]. Und im hebräischen Sprachgebrauch bedeutet "gerecht" soviel wie fromm, untadelhafter Diener Gottes, Erfüller des göttlichen Willens [Vgl. Gn 7,1; 18,23-32; Ez 18, 5 ff.; Spr 12,10], oder auch gut und hilfsbereit gegenüber dem Nächsten [Vgl. Tob 7,5; 9, 9]. Mit einem Wort: gerecht ist jener, der Gott liebt und diese Liebe auch zeigt, indem er die Gebote erfüllt und sein ganzes Leben in den Dienst an den Mitmenschen, seinen Brüdern, stellt.

Glaube, Liebe und Hoffnung Josefs

41 Gerechtsein besteht nicht in der bloßen Unterordnung unter eine Norm: Die Rechtschaffenheit muß aus dem Innersten kommen, muß tief und lebendig sein, denn der Gerechte lebt aus dem Glauben [Hab 2,4]. Aus dem Glauben leben: diese Worte, die der Apostel Paulus später so oft betrachten sollte, erfüllen sich ganz im heiligen Josef. Er lebt den Willen Gottes weder oberflächlich noch formalistisch, sondern spontan und lebendig. Das Gesetz, das ein gläubiger Jude befolgte, war für ihn keine trockene Sammlung von Geboten, sondern Willensausdruck des lebendigen Gottes. Deswegen war er auch in der Lage, die Stimme des Herrn zu erkennen, als sie sich ihm unerwartet und überraschend offenbarte.
Die Lebensgeschichte des heiligen Josef ist wohl die Geschichte eines einfachen, aber keineswegs eines bequemen Lebens. Erst nach einer qualvollen Zeit der Ungewißheit erfährt er, daß Maria ihr Kind vom Heiligen Geist empfangen hat. Dieses Kind, Sohn Gottes und Nachkomme Davids dem Fleische nach, kommt in einem Stall zur Welt. Engel feiern seine Geburt, und Menschen aus fernen Ländern kommen, Ihn anzubeten; der König von Judäa aber will seinen Tod. Es bleibt nur die Flucht. Der Sohn Gottes soll offensichtlich als wehrloses Kind in Ägypten leben.

42 Der heilige Matthäus betont in seinem Evangelium beim Schildern dieser Ereignisse immer wieder die Treue Josefs, der ohne Zögern den Weisungen Gottes folgt, auch wenn er ihren Sinn manchmal nicht durchschaut, oder ihm ihr Zusammenhang mit den göttlichen Plänen verborgen bleibt.
Die Kirchenväter und geistlichen Autoren haben oft auf diesen festen Glauben des heiligen Josef hingewiesen. Johannes Chrysostomus äußert sich zu Josefs Reaktion auf die Weisung des Engels [Vgl. Mt 2,13], vor Herodes zu fliehen und sich nach Ägypten zu begeben, so: Da er das hörte, war er nicht entrüstet und sagte auch nicht: Dies ist ein Rätsel! Du hast doch selbst vor kurzem wissen lassen, daß er sein Volk retten wird, und jetzt kann er sich nicht einmal selbst helfen, und wir müssen fliehen, eine Reise antreten und lange Zeit fortbleiben. Das widerspricht doch Deiner Verheißung. Josef denkt nicht auf diese Weise, denn er ist ein treuer Mann. Er fragt auch nicht nach dem Tag der Heimkehr, obwohl der Engel dies unklar gelassen hatte, da er sprach: Bleibe dort – in Ägypten – bis ich es dir sage. Josef tut sich deswegen nicht schwer, sondern gehorcht, glaubt und erträgt freudig alle Prüfungen [Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae, 8, 3 (PG 57, 85)].
Sein Glaube wankt nicht, er gehorcht ohne Zögern. Wir begreifen besser die Lehre, die er uns hier gibt, wenn wir uns klar machen, daß er einen tätigen Glauben lebt und daß seine Fügsamkeit nichts von jenem Gehorsam hat, der sich nur von den Ereignissen treiben läßt. Denn nichts widerspricht dem christlichen Glauben mehr als Konformismus, Nichtstun oder innere Schlaffheit.
Josef überließ sich rückhaltlos den Händen Gottes, aber er verzichtete nicht darauf, über den Sinn der Ereignisse nachzudenken; so konnte er vom Herrn jenen Grad der Einsicht in die Werke Gottes erlangen, die die wahre Weisheit ausmacht. Auf diese Weise sah er nach und nach, daß die übernatürlichen Fügungen einem göttlichen Plan entsprechen, der manchmal den menschlichen Plänen zuwiderläuft .
In den verschiedenartigsten Situationen seines Lebens verzichtet der heilige Josef weder darauf zu denken noch verantwortlich zu handeln. Im Gegenteil: er stellt seine ganze menschliche Erfahrung in den Dienst des Glaubens. Als er bei der Heimkehr aus Ägypten vernahm, daß Archelaus an Stelle seines Vaters Herodes in Judäa regiere, fürchtete er sich, dorthin zu gehen [Mt 2,22]. Er hat gelernt, sich im Rahmen des göttlichen Planes zu bewegen, und er erhält als Bestätigung dafür, daß Gott tatsächlich das will, was Josef ahnt, die Weisung, sich in Galiläa niederzulassen.
So war der Glaube des heiligen Josef: vorbehaltlos, vertrauensvoll, bezeugt durch eine wirksame Hingabe an den Willen Gottes im bewußt gelebten Gehorsam. Und mit dem Glauben kommt die Liebe. Sein Glaube verbindet sich mit dieser Liebe, mit der Liebe zu Gott, der die Verheißungen an Abraham, Jakob und Moses erfüllt, mit der Liebe des Gatten zu Maria und mit der väterlichen Liebe zu Jesus. Josef glaubt und liebt in der Hoffnung auf das große Werk, das Gott in der Welt beginnt und in das Er auch ihn, den Zimmermann aus Galiläa, mit hineinnimmt: das Werk der Erlösung.

43 Glaube, Liebe, Hoffnung: das Rückgrat im Leben des heiligen Josef und in jedem christlichen Leben! Die Hingabe des heiligen Josef erscheint uns wie ein Geflecht aus treuer Liebe, liebendem Glauben, vertrauender Hoffnung. Sein Fest kann uns daher willkommener Anlaß sein, die Hingabe an die christliche Berufung zu erneuern, die der Herr einem jeden von uns geschenkt hat.
Wenn man ehrlich bemüht ist, aus dem Glauben, aus der Liebe und aus der Hoffnung zu leben, dann bedeutet die Erneuerung der Hingabe nicht ein Zurück zu etwas, das in Vergessenheit geraten war. Wo Glaube, Liebe und Hoffnung sind, bedeutet Erneuerung, in der Hand Gottes verweilen trotz aller persönlichen Irrtümer, Schwächen und allen Versagens; es bedeutet, den Weg der Treue bekräftigen. Erneuerung der Hingabe ist mit anderen Worten ein Erneuern dessen, was der Herr von uns will: tätige Liebe.
Die Liebe äußert sich notwendig in Formen, die ihr eigentümlich sind. Gelegentlich spricht man von der Liebe, als ob sie nur ein Drang zur eigenen Befriedigung oder ein bloßes Mittel zur egoistischen Ergänzung des eigenen Ichs wäre; aber das ist falsch.
Wahre Liebe ist ein Herausgehen aus sich selbst, ist Hingabe seiner selbst. Liebe bringt Freude, eine Freude aber, deren Wurzeln die Form des Kreuzes haben. Solange wir hier auf Erden leben und noch nicht zur Vollendung des zukünftigen Lebens gelangt sind, kann es wahre Liebe ohne die Erfahrung von Schmerz und Opfer nicht geben: Schmerz, den man auskostet, der liebenswert und freudespendend ist, aber dennoch wirklicher Schmerz, denn er schließt ein, daß wir den Egoismus überwinden und die Liebe zum Richtmaß jedweder Handlung machen.

44 Die Werke der Liebe sind immer groß, mögen sie auch manchmal klein erscheinen. Gott hat sich uns Menschen, uns armen Geschöpfen, genähert und gesagt, daß Er uns liebt: Deliciae meae .esse cum filiis hominum, es ist meine Freude, unter den Menschenkindern zu sein [Spr 8,31]. Der Herr läßt uns erkennen, daß alles wichtig ist: das, was wir aus irdischer Sicht als außergewöhnlich ansehen, und das, was wir für unbedeutend halten. Nichts geht verloren. Gott verschmäht niemanden. Er lädt alle Menschen ein, am Himmelreich teilzuhaben, und dafür soll jeder seiner eigenen Berufung folgen: daheim, im eigenen Beruf, in der Erfüllung der eigenen Standespflichten, und als Staatsbürger, der seine Rechte und Pflichten ernst nimmt.
Das Leben des heiligen Josef macht uns dies deutlich; es ist ein einfaches, gewöhnliches Leben, ein Leben der Arbeit tagaus, tagein, immer dasselbe, immer gleich eintönig. Oft mußte ich hieran denken, wenn ich die Gestalt des heiligen Josef betrachtet habe, und dies ist einer der Gründe, weshalb ich ihn besonders verehre.
Als Papst Johannes XXIII. am 8. Dezember vergangenen Jahres bei der Schlußansprache der ersten Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils ankündigte, daß der Name des heiligen Josef künftig in den Canon der heiligen Messe aufgenommen werde, rief mich ein hoher kirchlicher Würdenträger an: Rallegramenti!
Herzlichen Glückwunsch!
sagte er. Als ich diese Ankündigung gehört habe, mußte ich sofort an Sie denken und an Ihre Freude hierüber. Und meine Freude war tatsächlich groß: denn das Konzil, das die im Heiligen Geist versammelte Kirche darstellt, hatte den unschätzbaren Wert des Lebens des heiligen Josef verkündet, den Wert eines einfachen, arbeitsreichen Lebens vor Gott und in der vollkommenen Erfüllung des göttlichen Willens.

Die Arbeit heiligen, sich durch die Arbeit heiligen, andere durch die Arbeit heiligen

45 Wenn ich nach dem Geist des Opus Dei gefragt werde, der Vereinigung, der ich mein Leben gewidmet habe, sage ich immer, daß er sich um die gewöhnliche Arbeit, um die berufliche Arbeit in der Welt wie um eine Achse dreht. Die göttliche Berufung stellt uns eine Aufgabe, sie lädt uns ein, an der einen Sendung der Kirche teilzuhaben, damit wir so vor unsresgleichen, vor allen Menschen, Zeugnis für Christus ablegen und alles zu Gott hinführen.
Die Berufung zündet ein Licht an, das uns den Sinn unseres Lebens erkennen läßt. Im klaren Licht des Glaubens sehen wir das Warum unseres irdischen Daseins. Unser Leben – das vergangene, das gegenwärtige und das zukünftige – erscheint dann in einer neuen Dimension, mit einer nicht geahnten Tiefe. Alles, was in unserem Leben geschieht, gewinnt so seinen wahren Bezugspunkt: Wir begreifen, wohin uns der Herr führen will, und wir fühlen uns mitgerissen von der uns anvertrauten Aufgabe.
Gott führt uns aus dem Dunkel unserer Unwissenheit heraus, Er setzt unserem unschlüssigen Umhertappen durch tausend Zufälligkeiten des Lebens ein Ende und ruft uns mit lauter Stimme, so wie Er eines Tages Petrus und Andreas rief: Venite post me, et faciam vos fieri piscatores hominum, folget mir nach, und ich will euch zu Menschenfischern machen [Mt 4,19], ganz gleich, wo unser Platz in der Welt ist.
Wer aus dem Glauben lebt, mag Kampf und Hindernissen, Schmerz und selbst Bitterkeit begegnen, aber er wird niemals Mutlosigkeit oder Angst spüren, denn er weiß, daß sein Leben nicht vergebens ist, er weiß, wozu er auf der Erde ist. Ego sum lux mundi, rief Christus aus, qui sequitur me non ambulat in tenebris, sed habebit lumen vitae [Jo 8,12]. Ich bin das Licht der Welt. Wer mir folgt, wandelt nicht im Dunkel, sondern wird das Licht des Lebens haben.
Um dieses Lichtes würdig zu sein, müssen wir lieben, demütig unsere Heilsbedürftigkeit anerkennen und wie Petrus ausrufen: Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast Worte ewigen Lebens. Wir glauben und wissen, daß Du Christus, der Sohn Gottes bist [Jo 6,69-70]. Wenn wir uns wirklich so verhalten und den Ruf Gottes in unser Herz eindringen lassen, dann werden auch wir sagen können, daß wir nicht im Dunkel wandeln; denn über unserem Elend und Versagen erstrahlt das Licht Gottes wie die Sonne über Gewitterwolken.

46 Der Glaube und die christliche Berufung erfassen unser ganzes Dasein, nicht nur einen Teil. Die Beziehung zu Gott ist notwendig eine Beziehung der Hingabe, und sie erhält so einen Totalitätsanspruch. Es gehört zur Haltung eines Menschen, der glaubt, daß er das Leben und all seine Zusammenhänge aus einer neuen Perspektive sieht: aus der Perspektive, die Gott ihm gibt.
Wenn ich euch hier mit mir zur Feier dieses Tages versammelt sehe, muß ich unweigerlich daran denken, daß ihr Menschen seid, die den verschiedensten Berufen nachgehen; ihr habt eure eigene Familie, kommt aus den verschiedensten Ländern und Rassen, sprecht verschiedene Sprachen. Ihr habt eure Ausbildung im Hörsaal einer Hochschule, im Büro eines Unternehmens oder in einer Fabrikhalle erhalten; durch eure Arbeit sind berufliche und persönliche Kontakte zu euren Kollegen entstanden, mit eurer Arbeit beteiligt ihr euch an der Lösung der gemeinsamen Probleme, die sich in eurer Arbeitswelt und in der Gesellschaft stellen.
Nun, ich möchte euch erneut daran erinnern, daß alles dies den göttlichen Plänen nicht zuwiderläuft. Eure menschliche Berufung ist Teil, und zwar ein wichtiger Teil eurer göttlichen Berufung. Dies ist der Grund, weshalb ihr euch heiligen sollt, indem ihr zugleich zur Heiligung der anderen Menschen beitragt; anders gesagt: ihr sollt euch heiligen, indem ihr eure Arbeit und eure Umgebung heiligt: diesen Beruf, der eure Tage ausfüllt, eure Eigenart prägt und euer Dasein in der Welt bestimmt; euer familiäres Zuhause und dieses Land, die Heimat, die ihr liebt.

47 Die Arbeit begleitet notwendig das Leben des Menschen auf der Erde. Sie bringt Ermüdung, Mühsal, Erschöpfung mit sich: Äußerungen des Schmerzes und des Kampfes, die einen Teil unseres gegenwärtigen Lebens ausmachen und Zeichen der Wirklichkeit der Sünde und der Notwendigkeit der Erlösung sind. Aber die Arbeit an sich ist weder Leid noch Fluch, noch Strafe: Wer das behauptet, hat die Heilige Schrift nicht gut gelesen.
Es wird Zeit für uns Christen, laut und deutlich zu verkünden, daß die Arbeit eine Gabe Gottes ist und daß es unsinnig ist, die Menschen nach der Art ihrer Arbeit in verschiedene Gruppen einzuteilen, indem man ihre Tätigkeit je nachdem als mehr oder weniger würdig einstuft. Die Arbeit – jede Arbeit – zeugt von der Würde des Menschen und seiner Herrschaft über die Schöpfung. Sie ist ein Feld, auf dem wir unsere Persönlichkeit entwickeln. Sie verbindet uns mit den anderen Menschen, sie schafft die Mittel zum Unterhalt der eigenen Familie, sie läßt uns mithelfen an der Verbesserung der gesellschaftlichen Bedingungen und am Fortschritt der ganzen Menschheit.
Diese Sicht der Arbeit wird für den Christen noch weiter und tiefer, da für ihn die Arbeit Teilnahme am Schöpfungswerk Gottes ist. Gott erschuf den Menschen, segnete ihn und sprach: Wachset und mehret euch und macht euch die Erde untertan und herrscht über die Fische des Meeres, die Vögel des Himmels und alles Getier, das sich auf der Erde herumtreibt [Gn 1,28]. Und außerdem: da Christus die Arbeit auf sich genommen hat, erscheint sie uns als erlöste und erlösende Wirklichkeit, nicht nur als der Lebensbereich des Menschen, sondern auch als Mittel und Weg der Heiligkeit, als etwas, das geheiligt werden kann und selbst heiligt.

48 Wir dürfen deshalb nicht vergessen, daß die Würde der Arbeit auf der Liebe gründet. Des Menschen Größe liegt in seiner Fähigkeit zu lieben; so schreitet er über das Kurzlebige und Anekdotische hinaus. Er kann andere Geschöpfe lieben, er kann Du und Ich in ihrer ganzen Tiefe aussprechen. Und er kann Gott lieben, der uns den Zugang zum Himmel öffnet, uns in seine Familie aufnimmt und damit fähig macht, mit Ihm auf du und Du zu stehen.
Darum soll sich der Mensch nicht darauf beschränken, nur zu schaffen, herzustellen, anzufertigen. Die Arbeit wächst aus der Liebe, ist Zeichen der Liebe und zielt hin auf die Liebe. Wir erkennen Gott nicht nur im Betrachten der Natur , sondern auch im Erfahren des eigenen Tuns, im Erleben der eigenen Mühe. So wird die Arbeit zu Gebet und Danksagung, denn wir wissen uns von Gott auf die Erde gestellt, von Ihm geliebt und zu Erben seiner Verheißungen berufen. So ist die Aufforderung des Apostels nur logisch: Möget ihr also essen oder trinken oder sonst etwas tun, so tut alles zur Ehre Gottes [1 Kor 10,31].

49 Die berufliche Arbeit ist auch Apostolat, denn durch sie haben wir die Möglichkeit, uns um unsere Mitmenschen zu kümmern, ihnen Christus zu offenbaren und sie als Folge der Liebe, die der Heilige Geist in die Seelen eingießt, zu Gott, unserem Vater, zu führen. Paulus schreibt den Ephesern, als er sie auf ihr neues Verhalten, das ihrer Bekehrung folgen muß, hinweist: Wer zu stehlen pflegte, stehle nicht wieder, sondern mühe sich ab und erwerbe sich durch seiner Hände Arbeit ehrlichen Verdienst, wovon er dem Notleidenden noch mitteilen kann [Eph 4,28]. Die Menschen brauchen das irdische Brot, das sie am Leben erhält, und sie brauchen das himmlische Brot, damit ihre Herzen Licht und Wärme empfangen. Und ihr könnt und müßt dieses Gebot des Apostels durch eure Arbeit und durch alles, was sie begleitet – Initiativen, Gespräche, Begegnungen – konkrete Wirklichkeit werden lassen.
Wenn wir in diesem Geist arbeiten, wird unser Leben, trotz aller Einschränkungen unseres irdischen Daseins, wie ein Vorgeschmack auf die himmlische Herrlichkeit, auf die Gemeinschaft mit Gott und seinen Heiligen sein: Liebe, Hingabe, Treue, Freundschaft, Freude. Und ihr werdet in eurer beruflichen Arbeit – so gewöhnlich, so alltäglich – den greifbaren und wertvollen Stoff finden, der euch erlaubt, euer Leben ganz und gar christlich zu leben und die Gnade, die von Christus kommt, wirken zu lassen. Glaube, Hoffnung und Liebe werden so wirksam werden in dieser eurer auf Gott ausgerichteten beruflichen Arbeit. Was darin an Ereignissen, Begegnungen und Sorgen ist, wird euer Gebet nähren. Im Bemühen, in eurer alltäglichen Arbeit euren Mann zu stehen, werdet ihr dem Kreuz begegnen: eine für den Christen wesentliche Erfahrung. Eure Schwachheit und eure Mißerfolge, die jedes menschliche Streben begleiten, werden euch mehr Wirklichkeitssinn, mehr Demut und mehr Verständnis für die anderen geben. Die Erfolge und die Freuden werden euch zur Dankbarkeit bewegen und zu der Einsicht führen, daß ihr nicht für euch allein lebt, sondern für die anderen und für Gott.

Dienen

50 Um den Beruf zu heiligen, ist es vor allem nötig, gut zu arbeiten und diese Arbeit menschlich und übernatürlich ernst zu nehmen. Hören wir als Kontrast dazu – eine Stelle aus einem apokryphen Evangelium: Der Vater Jesu, der Zimmermann war, so heißt es da, machte Pflüge und Joche. Eines Tages wurde bei ihm ein Bett für eine angesehene Person bestellt. Als man am Ende feststellte, daß das eine Seitenbrett kürzer als das andere geworden war, wußte Josef sich nicht zu helfen. Darauf sagte das Jesuskind zu seinem Vater: Lege die zwei Bretter so auf die Erde, daß sie an einem Ende in gleicher Höhe abschließen. Josef tat so. Dann nahm Jesus das Ende des kürzeren Brettes und zog daran, bis es genau so lang war wie das andere. Josef, der Vater, staunte über das Wunder, küßte und umarmte das Kind und sagte: Welch ein Glück, daß mir Gott dieses Kind geschenkt hat [Kindheitsevangelium, fälschlich dem Apostel Thomas zugeschrieben, Nr. 13].
Nein, Josef würde nicht deswegen Gott gedankt haben, er hat sicherlich nicht so gearbeitet. Der heilige Josef ist nicht der wundergierige Bestauner solch einfältiger Lösungen, sondern ein Mann der Ausdauer, der Anstrengung und, wenn nötig, des Einfallsreichtums. Der Christ weiß, daß Gott Wunder wirkt: Er wirkte sie vor Jahrhunderten, Er hat sie gestern gewirkt, und auch heute wirkt Er sie noch, denn non est abbreviata manus Domini [Is 59,1], Gottes Macht ist nicht geringer geworden.
Die Wunder sind eine Äußerung der heilbringenden Allmacht Gottes, nicht aber ein Ausweg für unsere eigene Unfähigkeit oder eine Ermunterung zur Bequemlichkeit. Das Wunder, das der Herr von euch erwartet, ist die Beharrlichkeit in eurer gottgewollten christlichen Berufung, die Heiligung der täglichen Arbeit: Er erwartet von euch das Wunder, daß ihr durch die Liebe, mit der ihr eure gewohnte Arbeit erfüllt, die Prosa des Alltags in epische Dichtung verwandelt. Hier erwartet euch Gott, Er will, daß ihr Menschen seid, die ihre Verantwortung spüren, die im Apostolat und beruflich kompetent sind.
Als Motto für eure Arbeit schlage ich euch vor: Para servir, servir. [Unübersetzbares Wortspiel, da der Ausdruck "servir" im Spanischen die doppelte Bedeutung von "dienen" und "taugen" hat, die eine doppelte Übersetzung erlaubt: "Um zu dienen, muß man taugen", oder auch umgekehrt: "um zu taugen, muß man dienen."] Denn um ein Vorhaben zu verwirklichen, muß man an erster Stelle lernen, die Arbeit zu Ende zu führen. Ich glaube nicht an die gute Absicht eines Menschen, der sich nicht bemüht, das notwendige Fachkönnen zu erlangen, um gute Arbeit zu leisten. Gutes tun zu wollen genügt nicht, man muß auch lernen, wie man es tut. Und wenn wir es wirklich wollen, dann wird sich dieser Wunsch in unserem Bemühen äußern, die notwendigen Mittel einzusetzen, damit unsere Arbeit vollendet, damit sie menschlich vollkommen ist.

51 Aber diese Tauglichkeit und diese berufliche Kompetenz in der eigenen Arbeit müssen ihrerseits vom Geist des Dienens getragen sein, von dem Wunsch, durch die eigene Arbeit zum Wohl der anderen Menschen beizutragen. Dies ist ein wesentlicher Zug in der Arbeit des heiligen Josef, und er sollte ebenso wesentlich in der Arbeit jedes Christen sein. Der heilige Josef war in seiner Arbeit nicht auf Selbstbestätigung aus, obwohl sein arbeitsreiches Leben aus ihm eine reife, profilierte Persönlichkeit gemacht hat. Josef arbeitete vielmehr im Bewußtsein, daß er den Willen Gottes erfüllte, und er hatte das Wohl der ihm Anvertrauten – Jesus und Maria – und aller Bewohner des kleinen Nazareth vor Augen.
Josef mag einer von den wenigen Handwerkern gewesen sein, die es in Nazareth gab, vielleicht sogar der einzige. Er war wohl als Zimmermann tätig. Wie es aber in einem Dorf üblich ist, wird er auch die Fertigkeiten für viele andere Arbeiten besessen haben: eine ausgefallene Mühle wieder in Gang zu setzen oder kurz vor dem Winter die Schäden an einem Dach auszubessern. Sicherlich hat Josef vielen Menschen mit seiner soliden Arbeit aus einer Verlegenheit geholfen. Seine berufliche Arbeit war auf Dienst ausgerichtet, um den anderen im Dorf das Leben angenehm zu machen, und er konnte mit einem Lächeln, einem freundlichen Wort oder einer beiläufigen Bemerkung demjenigen den Glauben und die Hoffnung wiedergeben, der sie schon verloren hatte.

52 Manchmal hat Josef sicherlich nur einen kleinen Betrag in Rechnung gestellt, um Menschen, die ärmer waren als er, nicht die Befriedigung zu nehmen, bezahlt zu haben.
Für gewöhnlich wird er aber einen angemessenen Lohn verlangt haben: nicht zuviel und nicht zuwenig. Er hat sicherlich das gefordert, was ihm gerechterweise zustand, denn Treue zu Gott heißt nicht, auf Rechte verzichten, die eigentlich Pflichten sind. Josef mußte einen gerechten Lohn verlangen, denn mit dem Ertrag seiner Arbeit hatte er die ihm von Gott anvertraute Familie zu unterhalten.
Das Pochen auf das eigene Recht darf nicht die Folge eines individualistischen Egoismus sein. Man liebt die Gerechtigkeit nicht, wenn man sie nicht im Hinblick auf die anderen lebt. Ebensowenig ist es erlaubt, sich auf Kosten der anderen hinter einer bequemen Frömmigkeit zu verstecken. Wer vor Gott gerecht sein will, kämpft auch um die Verwirklichung der Gerechtigkeit unter den Menschen; und er tut es nicht nur in der guten Absicht, daß der Name Gottes nicht beleidigt wird, sondern auch, weil Christsein bedeutet, alle echten menschlichen Anliegen zu den eigenen zu machen. In Abwandlung eines bekannten Textes des Apostels Johannes [Vgl. 1 Jo 4,20] können wir sagen, daß jener lügt, der behauptet, vor Gott gerecht zu sein, und zu seinen Mitmenschen ungerecht ist: Er lügt, und die Wahrheit ist nicht in ihm.
Wie alle Christen, die jenen Augenblick erlebten, habe auch ich voll Freude die Entscheidung begrüßt, das Fest Josefs des Arbeiters in die Liturgie aufzunehmen. Dieses Fest ist wie eine Heiligsprechung der Arbeit als gottgewollter Wert, und es zeigt, wie in der Gemeinschaft der Kirche jene Kernwahrheiten des Evangeliums widerhallen, die nach dem Willen Gottes in unserer Zeit besonders bedacht und beherzigt werden sollen.

53 Erlaubt mir, daß ich noch einmal erwähne, wie natürlich und einfach der heilige Josef gelebt hat, auch wenn wir bei anderen Gelegenheiten schon oft genug darüber gesprochen haben. Er sonderte sich nicht von seinen Nachbarn ab, er richtete keine Schranken auf.
Deshalb spreche ich gewöhnlich nicht gern von katholischen Arbeitern, katholischen Ingenieuren oder katholischen Ärzten – mag dies auch in bestimmten Situationen angebracht sein –, so als ob es sich um eine bestimmte Art innerhalb einer Gattung handelte, als ob die Katholiken eine von den anderen getrennte Gruppe bildeten – als wären die Christen wie durch einen Graben von der übrigen Menschheit getrennt. Ich respektiere jene, die anders denken, halte es aber für richtiger, von Arbeitern zu sprechen, die katholisch sind, oder von Katholiken, die Arbeiter sind; von Ingenieuren, die katholisch sind, oder von Katholiken, die Ingenieure sind. Denn der Mensch, der glaubt und einen Beruf hat – sei er nun Intellektueller, Techniker oder Handwerker –, ist mit den anderen verbunden, und so versteht er sich: ihnen gleich in allem, in Rechten und Pflichten, im Wunsch, vorwärts zu kommen, oder im Eifer, die gemeinsamen Probleme in Angriff zu nehmen und zu lösen.
Ein Katholik mit dieser Einstellung wird imstande sein, durch sein tägliches Leben ein Zeugnis des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe zu geben; ein normales und einfaches Zeugnis, ohne Spektakel. So wird er mit der Echtheit seines Lebens von der steten Präsenz der Kirche in der Welt Zeugnis geben, denn alle Katholiken sind als vollberechtigte Glieder des einen Volkes Gottes Kirche.

Josef und Jesus

54 Schon seit langem rufe ich den heiligen Josef mit jenen Worten an, die die Kirche unter die Gebete zur Vorbereitung auf die heilige Messe aufgenommen hat: Josef, du Glückseliger, dir war es vergönnt, Gott zu sehen und zu hören, den viele Könige sehen und hören wollten, aber weder sahen noch hörten. Du hast Ihn nicht nur gesehen und gehört, sondern auf Händen getragen, geküßt, gekleidet und beschützt. Bitte für uns!
Dieses Gebet soll uns als Einleitung zum letzten Thema unserer heutigen Betrachtung dienen: dem liebevollen Umgang Josefs mit Jesus.
Für den heiligen Josef war das Leben Jesu die ständige Entdeckung seiner eigenen Berufung. Wir haben vorher jene ersten Jahre betrachtet, die scheinbar voller Widersprüche waren: Verherrlichung und Flucht, Majestät der Weisen und Ärmlichkeit des Stalles, Gesang der Engel und Schweigen der Menschen. Im Augenblick der Darstellung im Tempel hört Josef, der als bescheidene Opfergabe ein Paar Turteltauben mitbringt, wie Simeon und Anna Jesus als Messias preisen: Sein Vater und seine Mutter waren voll Staunen über das, was von Ihm gesagt wurde [Lk 2,33], schreibt der heilige Lukas. Später, als der Knabe ohne Wissen seiner Eltern im Tempel blieb, wie es weiter beim heiligen Lukas heißt, wunderten sie sich [Lk 2,48], als sie Ihn erst nach drei Tagen wiederfanden.
Josef staunt, Josef wundert sich. Gott eröffnete ihm nach und nach seine Pläne, und Josef bemüht sich, sie zu verstehen. Wie jeder Mensch, der Jesus ganz nahe folgen will, entdeckt auch Josef, daß es nicht möglich ist, Ihm mit schleppendem Schritt, mit träger Seele zu folgen. Denn Gott begnügt sich nicht damit, daß wir beim einmal Erreichten stehenbleiben und uns darauf ausruhen. Gott fordert immer noch mehr, und seine Wege sind nicht unsere Wege. Wie kein anderer vor oder nach ihm hat Josef von Jesus gelernt, Seele und Herz offen zu halten und aufmerksam zu bleiben für die Erkenntnis der Großtaten Gottes.

55 Josef hat so von Jesus gelernt, nach der Art Gottes zu leben. Aber ich wage zu sagen, daß er im Menschlichen den Sohn Gottes in vielem unterwiesen hat. Die Bezeichnung Stiefvater, die man gelegentlich für Josef braucht, hat etwas Unbefriedigendes, da man meinen könnte, die Beziehungen zwischen Josef und Jesus seien kühl und äußerlich gewesen. Freilich lehrt uns der Glaube, daß Josef dem Fleische nach nicht der Vater Jesu war, aber es gibt nicht nur diese Vaterschaft.
In einer Predigt des heiligen Augustinus lesen wir: Josef steht die Anrede "Vater" nicht nur zu, sondern er verdient sie mehr als irgendein anderer. Und später heißt es: Wieso war er Vater? Er war in einem um so tieferen Sinn Vater, als seine Vaterschaft keuscher war. Einige glaubten, daß er auf gleiche Weise Vater unseres Herrn Jesus Christus geworden sei, wie es andere Väter geworden sind, die ihre Kinder nicht nur als Frucht ihrer geistigen Zuneigung sondern auch dem Fleisch nach hervorgebracht haben. Deshalb sagt der heilige Lukas: Man glaubte, daß er der Vater Jesu sei. Warum sagt er nur: Man glaubte? Weil einerseits Gedanken und Urteil der Menschen sich auf das beziehen, was üblicherweise unter den Menschen geschieht, und andererseits der Herr nicht aus den Lenden Josefs hervorgegangen ist. Zweifellos aber wurde der Frömmigkeit und der tätigen Liebe Josefs aus der Jungfrau Maria ein Sohn geboren, der Sohn Gottes war [Augustinus, Sermo, 51, 20 (PL 38, 351)].
Josef liebte Jesus wie ein Vater seinen Sohn liebt. Er gab Ihm sein Bestes. Er hat das Kind gepflegt, wie ihm aufgetragen war, und aus Ihm einen Handwerker gemacht, er hat Ihm seinen Beruf mitgegeben. Deshalb nennen Ihn die Leute aus Nazareth sowohl faber als auch fabri filius: Handwerker und Sohn eines Handwerkers [Mk 6,3; Mt 13,55]. Jesus arbeitete mit Josef in dessen Werkstatt. Wie mag Josef gewesen sein, was mag die Gnade in ihm gewirkt haben, um ihn fähig zu machen, den Sohn Gottes im Menschlichen zu unterweisen?
Es muß wohl so gewesen sein, daß Jesus in seiner Arbeitsweise, in seinem Charakter und in seiner Redeweise Josef ähnlich war. Die Kindheit und die Jugend Jesu, sein Umgang mit Josef werden sich später im Leben des Herrn widerspiegeln: in seinem Wirklichkeitssinn, in seiner Art, sich zu Tisch zu setzen und das Brot zu brechen, in seiner Vorliebe für die konkrete Darstellung der Lehre anhand alltäglicher Beispiele.
Wir können dieses Geheimnis unmöglich übersehen. Da ist Jesus, ein Mensch, der in seinem Sprechen den Tonfall seiner Landsleute hat, ein Mensch, der im Aussehen dem Handwerker Josef ähnelt – und dieser Mensch ist Gottes Sohn. Kann überhaupt jemand Gott etwas lehren? Und doch ist dieser Jesus wirklicher Mensch und lebt wie alle anderen: zuerst als Kind, dann als Jugendlicher, als Lehrling in Josefs Werkstatt, und später als erwachsener Mann in der Fülle des Alters. Jesus nahm zu an Weisheit, Alter und Wohlgefallen vor Gott und den Menschen [Lk 2,52].

56 Im Menschlichen ist Josef der Lehrmeister Jesu gewesen; er hat sich täglich voll Liebe um Ihn gekümmert, er sorgte für Ihn mit freudiger Opferbereitschaft. Ist das nicht Grund genug, in diesem gerechten Menschen, in diesem heiligen Patriarchen, der den Glauben des Alten Bundes verkörpert, einen Lehrmeister des inneren Lebens zu sehen?
Das innere Leben ist nichts anderes als der stete, persönliche Umgang mit Christus, durch den wir mit Ihm eins werden. Josef wird uns so vieles über Jesus sagen können.
Vernachlässigt also niemals seine Verehrung, ite ad Joseph, geht zu Josef, wie die christliche Überlieferung mit einem Wort des Alten Testamentes sagt [Gn 41,55].
Ein Lehrmeister des inneren Lebens, ein Arbeiter, der mit Verantwortung sein Werk tut, ein treuer Diener Gottes im steten Umgang mit Jesus: das ist Josef. Ite ad Joseph.
Denn von ihm lernt der Christ, was es heißt, ganz für Gott und ganz für die Menschen da zu sein, die Welt zu heiligen. Geht zu Josef und ihr werdet Jesus finden. Geht zu Josef und ihr werdet Maria finden, die jene liebenswerte Werkstatt in Nazareth mit Frieden erfüllte.

 «    DIE BEKEHRUNG DER KINDER GOTTES    » 

(Homilie, gehalten am 2. März 1952, 1. Fastensonntag.)

57 Die Fastenzeit hat begonnen, eine Zeit der Buße, der Läuterung, der Umkehr. Leicht ist diese Aufgabe nicht. Christsein ist kein bequemer Weg: Es ist nicht damit getan, der Kirche anzugehören und dann einfach Jahr um Jahr verstreichen zu lassen. Die erste Bekehrung – ein einmaliger, unvergeßlicher Augenblick, in dem wir klar erkannt haben, was Gott von uns erwartet – ist in unserem Leben, im Leben des Christen, sehr wichtig; aber noch wichtiger und schwieriger sind alle anderen Bekehrungen, die der ersten folgen.
Und um das Wirken der Gnade in diesen späteren Bekehrungen zu erleichtern, müssen wir die Seele jung erhalten, den Herrn anrufen, hellhörig sein, um Falsches in uns zu entdecken, und um Verzeihung bitten.
Invocabit me et ego exaudiam eum, lesen wir in der Liturgie dieses Sonntags [Ps 91,15 (Introitus der heiligen Messe)]: Wenn ihr zu mir ruft, werde ich euch erhören, sagt der Herr. Betrachtet die Sorge des Herrn um uns: Er ist immer bereit, uns zu erhören, Er ist immer offen für das Wort des Menschen. Er ist immer für uns da, aber besonders jetzt, da unser Herz willig ist und entschlossen, sich zu läutern, wird Er die Bitten eines zerknirschten und demütigen Herzens [Ps 51,19] nicht verschmähen.
Er erhört uns, um dann einzugreifen, sich in unser Leben einzumischen, uns vom Bösen zu befreien und mit Gutem zu überhäufen: Eripiam eum et glorificabo eum [Ps 91,15 (Introitus der heiligen Messe)], sagt Er vom Menschen, ich will ihn befreien und verherrlichen. Hoffnung also auf die Herrlichkeit: wieder stehen wir hier, wie schon so oft, am Beginn jenes inneren Weges, der das geistliche Leben ist. Die Hoffnung auf diese Verherrlichung festigt unseren Glauben und entzündet unsere Liebe. Die drei göttlichen Tugenden, die uns unserem Vater Gott ähnlich machen, beginnen sich auf diese Art zu entfalten.
Wie könnten wir die Fastenzeit besser beginnen? Wir erneuern Glauben, Hoffnung und Liebe, und daraus erwächst die Bußgesinnung, das Verlangen nach Läuterung. Die Fastenzeit bietet uns nicht nur die Gelegenheit, mehr äußere Werke der Buße zu tun; bliebe es dabei, dann würde uns die tiefe Bedeutung dieser Zeit für das christliche Leben entgehen, denn diese äußeren Werke müssen, wie gesagt, aus dem Glauben, aus der Hoffnung und aus der Liebe entstehen.

Die kühne Sicherheit des Christen

58 Qui habitat in adiutorio Altissimi, in protectione Dei coeli commorabitur Qui habitat in adiutorio Altissimi, in protectione Dei coeli commorabitur [Ps 91,1 (Introitus der heiligen Messe)], im Schutz des Allerhöchsten zu wohnen, mit Gott zu leben, darin liegt die kühne Sicherheit des Christen. Unser Herz wird sich nur dann mit Frieden erfüllen, wenn wir uns davon überzeugen, daß Gott uns erhört und für uns da ist. Aber mit Gott zu leben, ist auch ein Wagnis, denn der Herr will nicht teilen, Er will alles. Ihm näher kommen bedeutet daher, bereit sein zu neuer Umkehr und Begradigung des Lebens, zum aufmerksameren Hinhören auf seine Eingebungen, auf die heiligen Wünsche, die Er in unserer Seele weckt, und bereit sein, sie in die Tat umzusetzen.
Sicher sind wir auf dem Weg der Treue zum Worte Christi ein gutes Stück vorangekommen, seitdem wir uns zum ersten Male bewußt dazu entschieden haben, ganz nach seiner Lehre zu leben. Und dennoch: Bleibt nicht noch vieles zu tun? Ist es nicht so, daß in uns noch sehr viel Hochmut steckt? Uns wieder einmal zu erneuern, tut not; wir müssen treuer werden und brauchen eine tiefere Demut. damit unsere Selbstsucht schwindet und Christus in uns wächst, denn illum oportet crescere, me autem minui [Jo 3,30], Er muß wachsen und ich abnehmen.
Es darf keinen Stillstand geben, wir müssen vielmehr auf das Ziel zusteuern, das uns der heilige Paulus weist: Nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir [Gal 2,20]. Es ist ein hohes, erhabenes Ziel: eins zu werden mit Christus, heilig zu werden. Aber es gibt keinen anderen Weg, wenn wir konsequent sein wollen mit dem göttlichen Leben, das der Herr durch die Taufe in uns hat aufkeimen lassen. Fortschritt heißt Vorankommen in der Heiligkeit; Rückschritt heißt, sich der normalen Entfaltung des christlichen Lebens verschließen. Denn das Feuer der Liebe zu Gott muß angefacht werden, auf daß es jeden Tag weiter um sich greife und tiefer die Seele erfasse; und Feuer hält sich nur dann, wenn wir es immer wieder schüren: Wenn es sich nicht ausbreiten kann, wird es erlöschen.
Beim heiligen Augustinus heißt es: Wenn du "genug" sagst, bist du verloren. Orientiere dich immer am "Mehr", bewege dich, geh immer vorwärts. Bleibe nicht auf dem Fleck stehen, weiche nicht zurück, irre nicht vom Wege ab [Augustinus, Sermo, 169, 15 (PL 38, 926)].
Die Fastenzeit stellt uns heute vor diese entscheidenden Fragen: Wachse ich in meiner Treue zu Christus, in meinem Verlangen nach Heiligkeit? Lebe ich großzügig das Apostolat im Alltag, in meiner gewöhnlichen Arbeit, unter meinen Berufskollegen?
Jeder, der in seinem Innern diese Fragen zu beantworten sucht, wird einsehen, wie notwendig eine erneute Umgestaltung ist, damit Christus in uns lebt und sich sein Bild in unserem Verhalten unverzerrt widerspiegelt.
Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich, und so folge er mir [Lk 9,23]. Christus sagt es aufs neue, wie ins Ohr geflüstert, jedem von uns: täglich das Kreuz. Nicht nur in Zeiten der Verfolgung, schreibt der heilige Hieronymus, oder wenn sich die Möglichkeit zum Martyrium bietet, sondern in jeder Situation, mit jedem Werk, jedem Gedanken und jedem Wort müssen wir verneinen, was wir vorher waren, und bekennen, was wir jetzt sind, denn wir sind wiedergeboren in Christus [Hieronymus, Epistola, 121, 3 (PL 22, 1013)].
Diese Gedanken sind im Grunde nur ein Echo jener Worte des Apostels: Einst wart ihr Finsternis. Jetzt aber seid ihr Licht im Herrn. Wandelt nun als Kinder des Lichtes. Die Frucht des Lichtes zeigt sich in lauter Güte, Gerechtigkeit und Wahrheit. Prüft, was dem Herrn wohlgefällig ist [Eph 5,8-10].
Sich bekehren ist Sache eines einzigen Augenblicks, sich heiligen Sache eines ganzen Lebens. Der göttliche Samen der Liebe, den der Herr in uns gelegt hat, will wachsen, sich in Taten erweisen und Früchte bringen, die jederzeit dem Herrn wohlgefällig sind. Deshalb müssen wir bereit sein, neu anzufangen und in jeder neuen Situation, vor die uns das Leben stellt, das Licht und die Kraft der ersten Bekehrung wiederzufinden, uns durch eine gründliche Gewissenserforschung vorzubereiten und den Herrn um Hilfe zu bitten, damit wir Ihn und uns selbst besser kennenlernen. Es gibt keinen anderen Weg, wenn wir uns von neuern bekehren wollen.

Die rechte Zeit

59 Exhortamur ne in vacuum gratiam Dei recipiatis [2 Kor 6, 1(Epistel der heiligen Messe)], wir ermahnen euch: Empfanget die Gnade Gottes nicht vergeblich! Die göttliche Gnade wird uns in dieser Fastenzeit erfüllen, wenn wir ihr unser Herz nicht verschließen. Wir müssen empfänglich sein, bereit, uns wirklich zu ändern und nicht mit der Gnade Gottes zu spielen.
Ich spreche nicht gern von Furcht, denn, was den Christen bewegt, ist die Liebe Gottes, die sich uns in Christus geoffenbart hat und die uns lehrt, alle Menschen und die ganze Schöpfung zu lieben; aber von Verantwortung und Ernsthaftigkeit müssen wir sprechen. Täuscht euch nicht, Gott läßt seiner nicht spotten [Gal 6,7], mahnt uns der Apostel.
Man muß sich entscheiden. Es geht nicht, daß in unserem Leben jene zwei Kerzen brennen, die – nach dem Volksmund – jeder Mensch besitzt: eine für den heiligen Michael und eine andere für den Teufel. Wir müssen die Kerze des Teufels auslöschen, wir müssen unser ganzes Leben in Brand stecken, damit es sich im Dienst am Herrn verzehre. Wenn unser Bemühen um Heiligkeit aufrichtig ist und wir fügsam genug sind, uns der Hand Gottes anzuvertrauen, wird alles gut gehen. Denn Er ist immer bereit, uns seine Gnade, und besonders in dieser Zeit die Gnade einer neuen Bekehrung, einer Besserung unseres christlichen Lebens zu schenken.
Wir müssen in dieser Fastenzeit mehr sehen als nur eine beliebige Zeitspanne, die im liturgischen Jahr regelmäßig wiederkehrt. Dieser Augenblick ist unwiederbringlich, er ist ein göttliches Hilfsangebot, das wir entgegennehmen müssen. Der Herr tritt an unsere Seite und erwartet von uns – hier und jetzt –, daß wir uns ernsthaft ändern.
Ecce nunc tempus acceptabile, ecce nunc dies salutis [2 Kor 6,2 (Epistel der heiligen Messe)], seht, jetzt ist die rechte Zeit, seht, jetzt ist der Tag des Heils. Aufs neue hören wir den liebevollen Ruf des Guten Hirten: ego vocavi te nomine tuo [Is 43,1]. Er ruft einen jeden von uns bei seinem Namen, wie es jene zu tun pflegen, die uns lieben. Die innige Liebe Jesu zu uns läßt sich nicht in Worte fassen.
Betrachtet mit mir dieses Wunder der Liebe Jesu: Da ist der Herr, der uns begegnen will und am Wegrande wartet, damit wir Ihn nicht übersehen können. Er ruft einen jeden von uns persönlich zu sich und spricht mit uns über unsere Angelegenheiten, die auch die seinen sind. Er schenkt uns reuevolle Einsicht, macht uns großzügig und weckt in uns den Wunsch, treu zu sein und uns seine Jünger nennen zu können. Dieser innige Anruf der Gnade klingt wie ein liebevoller Vorwurf, der uns merken läßt, daß der Herr uns in all der Zeit, in der wir Ihn schuldhaft aus dem Blick verloren haben, nicht vergessen hat. Christus liebt uns mit der unermeßlichen Liebe, zu der nur sein göttliches Herz fähig ist.
Seht, wie Er es bekräftigt: Zur rechten Zeit erhöre ich dich, am Tage des Heiles helfe ich dir [2 Kor 6,2 (Epistel der heiligen Messe)]. Er verheißt dir die Herrlichkeit seine Liebe – und schenkt sie dir im rechten Augenblick. Er ruft dich; du aber, was willst du Ihm dafür geben, was wirst du und was werde ich selbst antworten auf diese Liebe Jesu, der nahe an uns vorübergeht?
Ecce nunc dies salutis, jetzt haben wir den Tag des Heiles vor uns. Der Ruf des Guten Hirten erreicht uns: ego vocavi te nomine tuo, ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Und wir müssen antworten, Liebe mit Liebe vergeltend: ecce ego quia vocasti me [1 Sm 3.9]: Du hast mich gerufen, hier bin ich, fest entschlossen, diese Fastenzeit nicht spurlos dahinfließen zu lassen wie Wasser über Granit. Ich will mich durchtränken lassen, mich bekehren, mich erneut dem Herrn zuwenden und Ihn lieben, wie Er geliebt werden will.
Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Gemüt [Mt 22,37]. Der heilige Augustinus sagt dazu: Was von deinem Herzen bleibt noch, womit du dich selbst lieben könntest? Was bleibt von deiner Seele, was von deiner Vernunft? "Ex toto" heißt es. "Totum exigit te, qui fecit te" [Augustinus, Sermo, 34, 4, 7 (PL 38, 212)]. Der dich schuf, Er verlangt alles von dir.

60 Wenn Gott seine Liebe so bekräftigt, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns wie Menschen zu verhalten, die Gott lieben. In omnibus exhibeamus nosmetipsos sicut Dei ministros [2 Kor 6,4 (Epistel der heiligen Messe)], erweisen wir uns in allem als Diener Gottes. Wenn du dich so verhältst, wie Er es will, dann wird sich das Wirken der Gnade in deinem Berufsleben zeigen, in der Arbeit, im Bemühen, das Menschliche auf göttliche Weise zu tun, gleichgültig, ob es sich um große oder kleine Dinge handelt, denn durch die göttliche Liebe gewinnen sie alle eine neue Dimension.
Wir dürfen aber in dieser Fastenzeit nicht vergessen, daß es nicht leicht ist, Gott wirklich zu dienen. Folgen wir weiter dem Text des heiligen Paulus, den uns die Kirche an diesem Sonntag vorlegt, und achten wir auf die Schwierigkeiten: In allem erweisen wir uns als Diener Gottes: Durch große Standhaftigkeit in Trübsal, Not und Bedrängnis, bei Schlägen, in Gefangenschaft und bei Aufruhr, in Mühen, Nachtwachen und Fasten; durch Reinheit und Erkenntnis, durch Langmut und Güte; durch den Heiligen Geist und aufrichtige Liebe; durch Wahrhaftigkeit und Gottes Kraft, durch Waffen der Gerechtigkeit zu Schutz und Kraft [2 Kor 6,4-7].
In den verschiedensten Augenblicken des Lebens, in allen Situationen müssen wir uns als Diener Gottes verhalten und uns bewußt sein, daß der Herr bei uns ist und wir seine Kinder sind. Stets müssen wir vor Augen haben, daß der Herr einen göttlichen Samen in unser Leben eingesenkt hat, und entsprechend handeln.
Diese Worte des Apostels sollten euch mit Freude erfüllen. Denn sie sind eine unverbrüchliche Bestätigung eurer Berufung als gewöhnliche Christen, die mitten in der Welt leben und alle Mühen, Arbeiten und Freuden mit ihren Mitmenschen, ihresgleichen, teilen. Alles das sind Wege Gottes. Der Herr bittet euch um nichts anderes, als daß ihr in jedem Augenblick als seine Kinder und Diener handelt.
Aber nur dann werden die gewöhnlichen Lebensumstände zu einem göttlichen Weg, wenn wir wirklich umkehren und uns hingeben. Denn der heilige Paulus spricht eine harte Sprache. Er sagt dem Christen ein schweres Leben voraus, voller Wagnisse und in ständiger Anspannung. Es ist eine Entstellung des Christentums, aus ihm einen bequemen Weg machen zu wollen. Aber ebenso wäre es eine Entstellung der Wahrheit, dieses tiefe, ernste Leben, das alle Bedrängnisse der menschlichen Existenz kennt, als ein Leben voller Angst, Bedrückung und Furcht darzustellen.
Der Christ ist ein Realist, er lebt einen übernatürlichen und zugleich menschlichen Realismus, der alle Schattierungen des Lebens wahrnimmt: den Schmerz und die Freude, eigenes und fremdes Leid, die Sicherheit und das Verzagen, die Großzügigkeit und den Hang zum Egoismus. Der Christ kennt alles das und stellt sich allem –mit menschlicher Festigkeit und mit der Stärke, die er von Gott empfängt.

Die Versuchungen Christi

61 Die Fastenzeit erinnert uns an die vierzig Tage, die Jesus in der Wüste als Vorbereitung auf die Jahre seines öffentlichen Wirkens verbrachte, die im Kreuz gipfeln und in der österlichen Herrlichkeit. Vierzig Tage des Gebetes und der Buße. An ihrem Ende steht jenes Ereignis, das uns heute das Evangelium der heiligen Messe vor Augen führt: die Versuchungen Christi [Vgl Mt 4,1-11].
Eine geheimnisvolle Szene, die wir Menschen vergeblich zu verstehen suchen: Gott erlaubt dem Bösen, Ihn zu versuchen. Aber wir können uns ihr betrachtend nähern und den Herrn bitten, uns die Lehre verstehen zu lassen, die sie enthält.
Jesus Christus wird versucht. Die Überlieferung erhellt diese Szene mit der Überlegung, daß der Herr, um uns in allem Beispiel zu sein, auch die Versuchung auf sich nehmen wollte. So ist es, denn Christus war in allem Mensch wie wir, die Sünde ausgenommen [Vgl Hebr 4,15]. Nach vierzigtägigem Fasten, währenddessen er nur Kräuter, Wurzeln und etwas Wasser zu sich genommen hatte, so dürfen wir uns das wohl vorstellen, verspürt Jesus Hunger, wirklichen Hunger wie jedes andere Geschöpf. Und als der Teufel Ihm vorschlägt, Steine in Brot zu verwandeln, weist unser Herr nicht nur die Nahrung zurück, nach der sein Leib verlangt, sondern widersetzt sich einer viel größeren Versuchung: sich der göttlichen Macht zu bedienen, um sozusagen ein persönliches Problem zu lösen.
Ihr werdet es in den Evangelien bemerkt haben: Jesus wirkt keine Wunder um des eigenen Vorteils willen. Er verwandelt das Wasser in Wein für das Brautpaar in Kana [Vgl Jo 2,1-11]; die Brote und Fische vermehrt Er, um die hungrige Menge zu speisen [Vgl Mk 6,33-46]. Doch sein Brot verdient Er sich während langer Jahre mit seiner Hände Arbeit. Und später, auf seinen Wanderungen durch Israel, lebt Er von der Hilfe derer, die Ihm nachfolgen [Vgl Mt 27,55].
Der heilige Johannes berichtet, daß Jesus, als Er nach einer langen Wegstrecke den Brunnen von Sichar erreicht hat, seine Jünger in ein Dorf schickte, um Lebensmittel zu kaufen. Als eine Samariterin kommt, bittet Er sie um Wasser, weil Er kein Schöpfgefäß hat [Vgl. Jo 4,4ff]. Sein vom langen Weg ermüdeter Körper spürt die Anstrengung. Andere Male sucht Er den Schlaf, um wieder zu Kräften zu kommen [Vgl. Lk 8,23]. Hier zeigt sich die Großzügigkeit des Herrn, der sich erniedrigt und vorbehaltlos die menschliche Natur angenommen hat. Er bedient sich nicht seiner Macht als Gott, um Schwierigkeiten oder Anstrengungen zu umgehen. Er lehrt uns, genügsam zu sein, die Arbeit zu lieben und jene noble – göttliche und menschliche – Haltung zu schätzen, die alle Folgen der Hingabe auf sich nimmt.
Als der Teufel bei der zweiten Versuchung dem Herrn vorschlägt, sich von den Zinnen des Tempels hinabzustürzen, lehnt es Jesus abermals ab, sich seiner göttlichen Macht zu bedienen. Christus ist nicht aus auf Eitelkeit, Prunk oder Schauspiel, auf nichts, was seine Göttlichkeit mißbrauchen könnte für Eigendünkel oder Selbstruhm. Jesus will den Willen des Vaters erfüllen, ohne der Zeit vorzugreifen und ohne den Zeitpunkt für ein Wunder vorwegzunehmen. Vielmehr will Er Schritt für Schritt den harten Weg der Menschen gehen, den liebenswerten Weg des Kreuzes.
Ganz ähnlich die dritte Versuchung: Ihm werden Königreiche, Macht und Ehre angeboten. Der Teufel will dem menschlichen Ehrgeiz jene Stelle einräumen, die allein Gott zukommt; und so verspricht er dem ein leichtes Leben, der sich vor ihm, dem Götzen, niederwirft. Unser Herr aber richtet die Anbetung wieder auf ihr einzig wahres Ziel, auf Gott aus, und bekräftigt seinen Wunsch zu dienen: Hinweg, Satan! Es steht geschrieben: Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und Ihm allein dienen [Mt 4,10].

62 Wir wollen aus dieser Haltung Jesu lernen. Während seines Erdenlebens wollte Er nicht einmal die Ehre, die Ihm zustand; denn obwohl Er das Recht hatte, als Gott behandelt zu werden, nahm Er die Gestalt eines Knechtes, eines Sklaven an [Vgl. Phil 2,6-7]. Auf diese Weise weiß jeder Christ, daß alle Ehre Gott zukommt, und daß niemand die Erhabenheit und die Größe des Evangeliums als Werkzeug für Eigennutz und menschliche Ambitionen mißbrauchen darf.
Wir wollen von Jesus lernen. Seine Haltung – wie Er sich jeder menschlichen Ehre entzieht – steht vollkommen in Einklang mit der Größe seiner einzigartigen Sendung als vielgeliebter Sohn Gottes, der Fleisch annimmt zum Heil der Menschen; einer Sendung, welche die Liebe des Vaters mit Erweisen seiner unendlichen Fürsorge überhäuft hat: Filius meus es tu, ego hodie genui te. Postula a me et dabo tibi gentes hereditatem tuam [Ps 2,7-8], du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt. Begehre von mir, so will ich dir geben die Heiden zu deinem Erbe.
Auch der Christ, der, Christus nachfolgend, in dieser Haltung vollkommener Anbetung des Vaters lebt, hört vom Herrn Worte liebevoller Fürsorge: Weil er auf mich hofft, werde ich ihn befreien; ich werde ihn beschützen, weil er meinen Namen kennt [Ps 91,14 (Tractus der heiligen Messe)].

63 Jesus hat dem Teufel, dem Fürsten der Finsternis, widersagt, und sofort wird das Licht offenbar. Da verließ Ihn der Teufel, und siehe, Engel kamen herbei und dienten Ihm [Mt 4,11]. Jesus hat die Prüfung bestanden. Es war eine echte Probe, denn der heilige Ambrosius sagt dazu: Er handelte nicht als Gott mit seiner Macht (wozu hätte uns dann auch sein Beispiel gedient?), vielmehr bediente Er sich als Mensch der Hilfsmittel, die auch jedem von uns zur Verfügung stehen [Ambrosius, Expositio Evangelii secundum Lucam, 1, 4, 20 (PL 15, 1525)].
Der Teufel hat mit hinterhältiger Absicht das Alte Testament zitiert: Der Herr wird seine Engel zum Schutze des Gerechten befehlen, damit sie wachen über ihn auf allen seinen Wegen [Ps 91,11 (Tractus der heiligen Messe)]. Aber Jesus weigert sich, den Vater zu versuchen, und gibt der biblischen Stelle ihre wahre Bedeutung wieder. Als die Stunde kommt, erscheinen die Boten des Vaters und dienen Ihm als Lohn für seine Treue.
Es lohnt sich, genauer darauf zu achten, wie der Satan unserem Herrn gegenüber auftritt: Er argumentiert mit den Texten der Heiligen Schrift, verdreht ihren Sinn und verstellt ihn in blasphemischer Weise. Jesus läßt sich jedoch nicht täuschen: Zu gut kennt das fleischgewordene Wort Gottes das Wort, das zur Erlösung, und nicht zur Verwirrung und zur Verdammnis der Menschen geschrieben wurde. Wer durch die Liebe mit Jesus vereint ist – so können wir daraus schließen –, wird sich nie durch eine trügerische Auslegung der Heiligen Schrift hinters Licht führen lassen. Hinter dem Versuch, das christliche Gewissen mit Hilfe von Begriffen, die aus der ewigen Weisheit stammen, zu verwirren und aus Licht Finsternis zu machen, wird er gleich die geübte Hand des Teufels sehen.
Achten wir ein wenig auf die Rolle der Engel im Leben Jesu. So werden wir besser ihre Sendung in jedem menschlichen Leben begreifen. Die christliche Überlieferung zeigt uns die Schutzengel als große Freunde des Menschen, von Gott an seine Seite gestellt, damit sie ihn auf seinen Wegen begleiten. Deshalb empfiehlt sie uns ihren Umgang und rät uns, bei ihnen unsere Zuflucht zu suchen.
Die Kirche läßt uns diese Begebenheiten im Leben Christi betrachten, um uns daran zu erinnern, daß auch die Fastenzeit, in der wir uns als Sünder, voller Erbärmlichkeiten und der Läuterung bedürftig, bekennen, Raum für die Freude läßt. Denn die Fastenzeit ist gleichermaßen eine Zeit der Stärkung wie der Freude. Wir sollen wieder Mut fassen, weil uns die Gnade des Herrn nicht fehlen wird : Gott wird uns zur Seite stehen und seine Engel senden, damit sie uns auf dem langen Weg Reisegefährten, weise Ratgeber und Mitstreiter bei allen unseren Unternehmungen sind. In manibus portabunt te, ne forte offendas ad lapidem pedem tuum [Ps 91,12(Tractus der heiligen Messe)], heißt es in dem Psalm weiter: Auf ihren Händen werden sie dich tragen, daß niemals deinen Fuß an einen Stein du stoßest.
Der Umgang mit den Engeln will gelernt sein. Wende dich jetzt an sie, sag deinem Schutzengel, daß das gnadenbringende Wasser der Fastenzeit nicht spurlos an deiner Seele vorübergeflossen ist, daß es deine Seele ganz durchdrungen hat, weil dein Herz zerknirscht ist. Bitte sie, deinen guten Willen vor den Herrn zu tragen, diesen guten Willen, den die Gnade aus unseren Erbärmlichkeiten keimen ließ wie eine Blume aus dem Dunghaufen. Sancti Angeli, Custodes nostri: defendite nos in proelio, ut non pereamus in tremendo iudicio [Aus einem Gebet zum heiligen Michael an seinem liturgischen Fest]. Heilige Schutzengel, verteidigt uns im Kampfe, auf daß wir im Schreckensgericht nicht zugrunde gehen.

Gotteskindschaft

64 Wie läßt sich dieses vertrauensvolle Gebet erklären, diese Überzeugung, daß wir im Kampf nicht untergehen werden? Daraus, daß wir von einer Wirklichkeit überzeugt sind, die mich immer wieder aufs neue tief ergreift: unsere Gotteskindschaft. Der Herr, der uns in dieser Fastenzeit um Bekehrung bittet, ist kein tyrannischer Herrscher und kein strenger, unversöhnlicher Richter: Er ist unser Vater . Er spricht uns auf unsere mangelnde Großzügigkeit, auf unsere Sünden und Fehler an; dies aber, um uns davon zu befreien und uns seine Freundschaft und seine Liebe anzubieten. Unsere Umkehr vollzieht sich mit Freude, denn im Bewußtsein unserer Gotteskindschaft wissen wir, daß wir heimkehren zum Haus des Vaters.
Der Geist des Opus Dei gründet auf der Gotteskindschaft. Alle Menschen sind Kinder Gottes. Ein Kind kann sich jedoch sehr verschieden seinem Vater gegenüber verhalten.
Wir müssen uns bemühen, Kinder zu sein, die begreifen, daß der Herr – in seiner Liebe zu uns als seinen Kindern – will, daß wir in seinem Haus wohnen, inmitten dieser Welt, daß Er dafür gesorgt hat, daß wir zu seiner Familie gehören, daß Er alles mit uns und wir alles mit Ihm teilen, daß wir diesen familiären und vertrauensvollen Umgang mit Ihm haben, der uns erlaubt, wie ein kleines Kind um alles zu bitten, selbst um den Mond.
Ein Kind Gottes begegnet dem Herrn als seinem Vater: Sein Umgang ist weder liebedienerische Unterwürfigkeit noch höfische Ehrerbietung; es ist ein Umgang voll Aufrichtigkeit und Vertrauen. Gott nimmt nicht Anstoß an den Menschen. Gott wird unser nicht überdrüssig wegen unserer Treulosigkeiten. Unser himmlischer Vater verzeiht jede Beleidigung, wenn nur der Sohn umkehrt und sich Ihm wieder zuwendet, wenn er bereut und um Verzeihung bittet. Unser Herr ist so sehr Vater, daß Er sogar unserem Verlangen nach Vergebung zuvorkommt und uns mit ausgebreiteten Armen entgegengeht, um uns seine Gnade zu schenken.
Ihr könnt euch selber überzeugen, daß ich nichts erfinde. Erinnert euch doch nur an jenes Gleichnis, das uns der Sohn Gottes erzählt, um uns die Liebe des Vaters im Himmel begreiflich zu machen: das Gleichnis vom verlorenen Sohn [Vgl. Lk 15,11 ff].
In der Schrift heißt es: Schon von weitem sah ihn sein Vater und ward von Erbarmen gerührt. Er eilte ihm entgegen, fiel ihm um den Hals und küßte ihn [Lk 15,20]. Das sind Worte der Heiligen Schrift: Er küßte ihn, er überhäuft ihn mit Küssen. Kann man noch menschlicher sprechen? Kann man noch einprägsamer die väterliche Liebe Gottes zu den Menschen beschreiben?
Einem Gott gegenüber, der uns entgegeneilt, können wir nicht stumm bleiben, wir werden mit dem heiligen Paulus sagen: Abba, Pater! [Röm 8,15]Vater, mein Vater! Denn Er , der doch der Schöpfer des Alls ist, legt keinen Wert auf klingende Titel, Ihm kommt es nicht auf feierliche Bekundungen seiner Herrschaft an. Er hat es gern, daß wir Ihn Vater nennen, daß wir dieses Wort freudig auskosten.
In gewisser Weise ist das menschliche Leben eine ständige Heimkehr ins Haus unseres Vaters. Heimkehr durch die Reue, diese Bekehrung des Herzens, die den Wunsch, uns zu ändern, in sich schließt, den festen Entschluß, unser Leben zu bessern, und die sich daher auch in Werken des Opfers und der Hingabe äußert. Wir kehren heim ins Haus unseres Vaters durch das Sakrament der Vergebung, indem wir, unsere Sünden bekennend, Christus anziehen und so seine Brüder werden, Glieder der Familie Gottes.
Gott erwartet uns, wie der Vater im Gleichnis, mit ausgebreiteten Armen, obgleich wir es nicht verdienen. Unsere Schuld spielt keine Rolle. Wie beim verlorenen Sohn zählt allein, daß wir unser Herz öffnen, Sehnsucht nach dem Hause des Vaters haben und uns freuen über die Gabe Gottes, durch die wir Kinder Gottes heißen und es tatsächlich sind, obwohl wir sooft der Gnade nicht entsprechen.

65 Wie merkwürdig ist die Fähigkeit des Menschen, die herrlichsten Dinge zu vergessen und sich an das Geheimnis zu gewöhnen. In dieser Fastenzeit wollen wir erneut daran denken, daß ein Christ nicht oberflächlich sein darf. Auch wenn er ganz mit seiner gewöhnlichen Arbeit beschäftigt ist, mit Aufgaben überhäuft und in dauernder Anspannung wie alle anderen Menschen, muß der Christ zugleich doch ganz in Gott geborgen sein, da er Kind Gottes ist.
Die Gotteskindschaft ist eine herrliche Wahrheit, ein tröstliches Geheimnis. Sie erfüllt ganz unser inneres Leben. Denn durch sie lernen wir, mit unserem himmlischen Vater umzugehen, Ihn kennenzulernen, Ihn zu lieben. Sie gründet unseren inneren Kampf auf die Hoffnung, und sie ist es schließlich, die uns die vertrauensvolle Einfachheit kleiner Kinder schenkt. Mehr noch: gerade weil wir Kinder Gottes sind, schauen wir mit Liebe und Bewunderung auf alle Dinge, die aus der Hand des göttlichen Vaters und Schöpfers stammen. Auf diese Weise leben wir kontemplativ inmitten der Welt und lieben diese Welt.
Die Liturgie der Fastenzeit verdeutlicht die Folgen der Sünde Adams im Leben der Menschen. Adam wollte kein guter Sohn Gottes sein und lehnte sich gegen Ihn auf.
Gleichzeitig hören wir aber auch ständig den Widerhall des felix culpa – selige, glückbringende Schuld –, das die ganze Kirche in der Osternacht singen wird [Österlicher Preisgesang].
Als die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt, damit Er den Frieden wiederherstelle. Der Sohn erlöste uns Menschen von der Sünde, ut adoptionem filiorum reciperemus [Gal 4,5], damit wir Kinder Gottes würden, befreit von der Sünde und befähigt zur Teilnahme am Leben der Heiligsten Dreifaltigkeit. Und so hat Er diesen neuen Menschen, dieses Pfropfreis der Gotteskinder [Vgl. Röm 6,4-5], befähigt, die gesamte Schöpfung von der Unordnung zu befreien und in Christus alles zu erneuern [Vgl. Eph 1,5-10], der ja alles mit Gott versöhnt hat [Vgl. Kol 1,20].
Zeit der Buße also. Aber wie wir sehen, ist dies nichts Negatives. Die Fastenzeit will gelebt sein aus dem Geist der Kindschaft, den Christus uns mitgeteilt hat und der in unserer Seele lebendig ist [Vgl. Gal 4,6]. Der Herr ruft uns, damit wir uns Ihm mit dem Wunsch nähern, Ihm gleich zu werden: Nehmt Gott zum Vorbild als seine geliebten Kinder [Eph 5,1]. So können wir demütig, aber kraftvoll an dem göttlichen Plan mitwirken: zu einen, was getrennt ist, zu retten, was verloren ist, zusammenzufügen, was durch den sündigen Menschen aus den Fugen geraten ist, zu einem guten Ende zu führen, was verfahren ist, und die gottgewollte Eintracht der ganzen Schöpfung wiederherzustellen.

66 Die Liturgie der Fastenzeit hat manchmal etwas Tragisches, wenn sie uns zeigt, was die Trennung von Gott für den Menschen bedeutet. Aber dies ist nicht das letzte Wort.
Das letzte Wort spricht Gott, und es ist das Wort seiner erlösenden und erbarmenden Liebe und deshalb das Wort unserer Gotteskindschaft. Deswegen wiederhole ich heute mit dem heiligen Johannes: Seht, welch eine Liebe uns der Vater erwiesen hat: Wir heißen Kinder Gottes, und wir sind es [1 Jo 3,1]. Kinder Gottes, Brüder des fleischgewordenen Wortes, von dem es heißt: In Ihm war das Leben, und das Leben war das Licht der Menschen [Jo 1,4].
Wir sind Kinder des Lichtes, Brüder des Lichtes, Träger des einzigen Feuers, das ein menschliches Herz zu entzünden vermag.
Ich schließe jetzt und setze die heilige Messe fort; jeder von uns sollte aber überlegen, was der Herr von ihm erwartet, welche Vorsätze, welche Entschlüsse Er durch das Wirken der Gnade in ihm wecken möchte. Wenn ihr merkt, was alles an übernatürlichem und an Menschlichem erforderlich ist für eure Hingabe und euren Kampf, dann erinnert euch daran, daß Jesus unser Vorbild ist. Obwohl Gott, ließ Er es zu, daß auch Er versucht wurde, damit wir den Mut nicht verlieren und uns des Sieges sicher sind.
Denn Er verliert keine Schlachten, und wenn wir mit Ihm verbunden bleiben, werden wir nie unterliegen, sondern uns wirklich Sieger nennen können und Sieger sein: gute Kinder Gottes.
Wir sollen zufrieden sein. Ich bin es, obwohl ich nicht zufrieden sein dürfte, wenn ich mein Leben in der persönlichen Gewissenserforschung betrachte, die die Fastenzeit uns nahelegt. Ich bin es dennoch, weil ich sehe, daß der Herr mich von neuem aufsucht, daß Er mein Vater ist und bleibt. Ich bin überzeugt: Ihr und ich, wir werden mit dem Licht und dem Beistand der Gnade sehen, was alles verbrannt werden muß, und wir werden es verbrennen, was ausgerissen werden muß, und wir werden es ausreißen, was hingegeben werden muß, und wir werden es hingeben.
Leicht ist diese Aufgabe nicht. Aber uns leitet ein Motiv, auf das wir nicht verzichten dürfen und nicht verzichten können: Gott liebt uns. So wollen wir den Heiligen Geist in uns wirken lassen, damit Er uns reinige. Nur so können wir den Sohn Gottes am Kreuz umarmen und mit Ihm auferstehen. Denn die Freude der Auferstehung wurzelt im Kreuz.
Maria, unsere Mutter, auxilium christianorum, refugium peccatorum: tritt bei deinem Sohn dafür ein, daß Er uns den Heiligen Geist sende, in unseren Herzen den Entschluß wecke, unseren Weg sicher und entschlossen zu gehen, und daß Er in der Tiefe unserer Seele jenen Ruf erklingen lasse, der das Martyrium eines der ersten Christen mit Frieden erfüllte: veni ad Patrem [Ignatius von Antiochien, Epistola ad Romanos, 7, 2 (PG 5, 694)], komm, kehr heim zu deinem Vater , der auf dich wartet.

 «    DER CHRIST UND DIE ACHTUNG DER PERSON UND IHRER FREIHEIT    » 

(Homilie, gehalten am 15. März 1961, Mittwoch nach dem 4. Fastensonntag.)

67 In der heiligen Messe haben wir einen Text aus dem Johannes-Evangelium gehört: die Szene der wunderbaren Heilung des Blindgeborenen. Ich denke, daß die Macht und die Barmherzigkeit Gottes, der angesichts der Not des Menschen nicht gleichgültig bleibt, aufs neue unser Herz berührt haben. Jetzt aber möchte ich auf andere Züge dieses Geschehens hinweisen, die uns zeigen werden, daß auch der Christ, wenn die Liebe Gottes ihn bewegt, angesichts des Schicksals anderer nicht gleichgültig bleibt und es versteht, alle Menschen zu achten; und wir werden auch sehen, wie die Gefahr eines rücksichtslosen, fanatischen Einbruchs in das Gewissen anderer droht, sobald diese Liebe verkümmert.
Beim Vorübergehen sah Jesus einen Mann, der von Geburt an blind war [Jo 9,1], heißt es im Evangelium. Jesus geht vorüber. Oft habe ich diese einfache Art bewundert, die göttliche Barmherzigkeit zu schildern. Jesus geht vorüber und bemerkt sogleich das Leid.
Wie ganz anders waren hingegen die Gedanken seiner Jünger. Sie fragen Ihn: Meister, wer hat gesündigt, er oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde? [Jo 9,2]Böswilliges Urteilen
Es soll uns nicht wundern, daß viele Menschen, solche, die sich für Christen halten, ähnlich reagieren: zunächst einmal denken sie Schlechtes vom anderen. Sie setzen es unbewiesen voraus und denken es nicht nur, sondern erdreisten sich, es in aller Öffentlichkeit böswillig auszusprechen.
Gelinde ausgedrückt, könnte das Verhalten der Jünger als leichtfertig bezeichnet werden. In jener Gesellschaft gab es – nicht anders als heute: darin hat sich wenig geändert – gewisse Menschen, die Pharisäer, die diese Verhaltensweise zur Norm erhoben. Erinnert euch, wie der Herr sie anklagt: Es kam Johannes. Er aß nicht und trank nicht; da hieß es: Er ist vom Teufel besessen. Der Menschensohn tritt auf, ißt und trinkt; da heißt es: Seht den Schlemmer und Trinker, den Freund der Zöllner und Sünder [Mt 11,18-19].
Systematische Angriffe auf den guten Ruf, Herabsetzung eines über jeden Tadel erhabenen Verhaltens: dies ist die beißende und verletzende Kritik, der Jesus Christus ausgesetzt war, und es ist nicht verwunderlich, daß sie ebenso auch auf jene niedergeht, die im Bewußtsein der eigenen Armseligkeiten und häufigen – angesichts der menschlichen Schwachheit würde ich hinzufügen: unvermeidlichen – Fehler Christus nachfolgen wollen. Wenn wir feststellen, daß es sich tatsächlich so verhält, dürfen wir uns jedoch nicht dazu verleiten lassen, solche Sünden und Vergehen wider den guten Ruf – Gerede nennt man sie, mit einer Nachsicht, die Verdacht erregt – zu rechtfertigen. Zwar sagt Christus, daß es den Hausgenossen kaum besser ergehen wird als dem Hausherrn, den sie Beelzebub genannt haben [Vgl. Mt 10,25], aber Er sagt auch, wer zu seinem Bruder sagt: Du Tor! soll dem Feuer der Hölle verfallen [Mt 5,22].
Wie kommt es zu dieser ungerechten Beurteilung der anderen? Es sieht so aus, als würden einige Menschen ständig eine Brille tragen, die ihnen die Sicht verzerrt. Sie bezweifeln grundsätzlich die Möglichkeit, daß jemand rechtschaffen ist oder sich zumindest immer um Lauterkeit bemüht. Sie empfangen alles nach der Art des Empfangenden, ad modum recipientis, wie es in der alten philosophischen Sentenz heißt: in Übereinstimmung mit ihrem eigenen, verbildeten Gewissen. Selbst hinter der aufrechtesten Handlung verbirgt sich für sie eine verschlagene Haltung, die sich heuchlerisch den Anschein des Guten gibt. Wenn sie das Gute klar vor sich sehen, schreibt der heilige Gregor, forschen sie weiter nach, um festzustellen, ob sich nicht doch Übles dahinter verbirgt [Gregor der Große, Moralia, 6,22 (PL 75, 750)].

68 Es ist sehr schwer, diesen Menschen, denen die Verzerrung gleichsam zur zweiten Natur geworden ist, einsichtig zu machen, daß es menschlicher und wahrheitsgemäßer ist, gut vom Nächsten zu denken. Vom heiligen Augustinus stammt der Ratschlag: Bemüht euch, die Tugenden zu erwerben, die nach eurer Meinung euren Brüdern fehlen, und so werdet ihr ihre Fehler nicht mehr sehen, da ihr sie selbst nicht habt7 [Augustinus, Enarrationes in psalmos, 30, 2, 7 (PL 36, 243)]. Einige meinen, dies sei naiv, ihre eigene Einstellung sei realistischer, vernünftiger.
Solche erheben das Vorurteil zur Urteilsnorm; und so beleidigen sie von vornherein jeden, bevor sie sich überhaupt auf Vernunftsgründe einlassen. Erst dann, sachlich und wohlwollend, werden sie vielleicht dem Beleidigten die Möglichkeit zugestehen, sich zu verteidigen: und dies gegen jede Moral und alles Recht, denn statt selbst die Beweislast für die Unterstellung zu übernehmen, gewähren sie dem Unschuldigen das Privileg, seine Unschuld zu beweisen.
Ich will euch nicht verhehlen – es wäre unaufrichtig –, daß hinter den vorangegangenen Überlegungen mehr steht als lediglich eine verkürzte Nachlese aus moraltheologischen und juristischen Nachschlagewerken. Sie entstammen vielmehr der Erfahrung, die nicht wenige am eigenen Leib gemacht haben; sie und viele andere sind oft und jahrelang Zielscheibe für üble Nachrede, Ehrabschneidung und Verleumdungen gewesen. Die Gnade Gottes und ein nicht nachtragendes Wesen haben bewirkt, daß dies alles keine Spur der Verbitterung hinterlassen hat. Mihi pro minimo est, ut a vobis iudicer [1 Kor 4,3], mir liegt wenig daran, von euch beurteilt zu werden, könnten sie mit dem heiligen Paulus sagen. Und manchmal haben sie vielleicht – mit einem Ausdruck der Umgangssprache – hinzugefügt: es läßt mich kalt. Denn so ist es.
Anderseits aber betrübt mich doch der Gedanke, daß derjenige, der zu Unrecht den guten Ruf eines anderen antastet, sich selbst damit zugrunde richtet. Und es schmerzt mich auch wegen der vielen Menschen, die angesichts des willkürlichen Anklagegeschreis entsetzt und ratlos weder ein noch aus wissen und meinen, all dies sei ein Alptraum.
Vor wenigen Tagen hörten wir in der Lesung der heiligen Messe die Geschichte der Susanna, jener keuschen Frau, die von zwei lüsternen Greisen fälschlich der Unzucht beschuldigt wurde. Susanna brach in Weinen aus und antwortete ihren Anklägern: „Von allen Seiten bin ich bedrängt; denn wenn ich dieses tue, ist mir der Tod gewiß; tue ich es aber nicht, so kann ich euren Händen nicht entrinnen" [Dn 13,22]. Wie oft bringt die Durchtriebenheit der Neidischen oder Intriganten viele unschuldige Menschen in diese Lage, die dann vor der Alternative stehen, entweder den Herrn zu beleidigen oder die eigene Ehre geschmäht zu sehen. Die einzige ehrenhafte und würdige Lösung ist zugleich äußerst schmerzlich, und sie müssen sich entscheiden: Lieber will ich unschuldig in eure Hände fallen, als wider den Herrn sündigen [Dn 13,23].

Recht auf Privatleben

69 Wenden wir uns wieder der Heilung des Blindgeborenen zu. Christus hat den Jüngern geantwortet, daß jenes Unglück nicht die Folge der Sünde ist, sondern der Anlaß, daß sich die Macht Gottes erweise. Und mit verblüffender Einfachheit beschließt Er, daß der Blinde sehe.
Für diesen Menschen beginnt nun aber mit seinem Glück auch seine Qual. Sie werden ihn nicht in Ruhe lassen. Da sind zunächst die Nachbarn und die ihn vordem als Bettler gesehen hatten [Jo 9,8]. Das Evangelium berichtet nichts darüber, daß sie sich gefreut hätten, sondern nur, daß sie es nicht zu glauben vermochten, obwohl der Geheilte immer wieder bekräftigte, der Blinde von früher und der Sehende von jetzt seien ein und dieselbe Person, er selbst. Sie lassen ihm keine Zeit, sich über sein Glück zu freuen, sondern führen ihn zu den Pharisäern, die ihn wiederum fragen, wie er sehend geworden sei. Er muß es erneut erzählen: Er strich mir einen Teig auf die Augen, ich wusch mich und kann nun sehen [Jo 9,15].
Aber die Pharisäer wollen beweisen, daß das Geschehene – eine Wohltat und ein großes Wunder – gar nicht geschehen ist. Einige verstecken ihre Voreingenommenheit hinter kleinlichen, heuchlerischen Argumenten: Er habe ja an einem Sabbat geheilt, und da man am Sabbat nicht arbeiten darf, bestreiten sie das Wunder. Andere beginnen mit dem, was man heute eine Umfrage nennen würde, sie gehen zu den Eltern des Blindgeborenen: Ist das euer Sohn, der blind geboren wurde, wie er sagt? Wie kommt es, daß er nun sieht? [Jo 9,19]Die Angst vor den Mächtigen läßt die Eltern eine Antwort geben, die allen Erfordernissen einer wissenschaftlichen Methodik genügt: Wir wissen, das ist unser Sohn, der blind geboren wurde. Wie er aber sehend geworden ist, wissen wir nicht und ebensowenig wissen wir, wer ihm die Augen geöffnet hat. Fragt ihn selbst. Er ist alt genug und kann selbst Auskunft über sich geben [Jo 9,20-21].
Die Veranstalter dieser Umfrage können nicht glauben, weil sie nicht glauben wollen: Nun ließen sie den Mann, der blind gewesen war, nochmals rufen und sagten zu ihm: …
Wir wissen, daß dieser Mensch –
Jesus Christus – ein Sünder ist [Jo 9,24].
Mit wenigen Worten zeichnet der Bericht beim heiligen Johannes den Modellfall eines ungeheueren Attentats auf ein Grundrecht, das jedem Menschen von Natur aus zusteht: das Recht, geachtet zu werden.
Das Thema ist nach wie vor aktuell. Es wäre nicht schwer, in der heutigen Zeit auf Fälle solcher aggressiven Neugierde zu verweisen, die zu einem krankhaften Herumschnüffeln im Privatleben anderer Menschen führt. Ein Mindestmaß an Gerechtigkeitssinn verlangt selbst beim Erforschen eines mutmaßlichen Vergehens Bedachtsamkeit und Zurückhaltung, damit eine bloße Möglichkeit nicht gleich als Tatsache hingestellt wird. Und wenn etwas nicht nur kein Vergehen, sondern womöglich sogar etwas Gutes ist, dann wird man nicht umhin können, die krankhafte Sucht, es zu verbreiten, als pervers zu bezeichnen.
Gegenüber den Geschäftemachern mit der Verdächtigung, die einen regelrechten Handel mit der Intimsphäre zu treiben scheinen, tut es not, die Würde des einzelnen, sein Recht auf Privatleben zu verteidigen. Diese Verteidigung ist Sache aller rechtschaffenen Menschen, seien sie nun Christen oder nicht, denn es steht ein gemeinsamer Wert auf dem Spiel: der legitime Wille, der zu sein, der man ist; sich nicht der Schaustellung auszuliefern, sondern die Freuden, Sorgen und Schmerzen nicht über den Kreis der Familie hinausdringen zu lassen; vor allem aber ohne Spektakel Gutes zu tun und aus reiner Liebe dem Bedürftigen zu helfen, ohne die Verpflichtung, den Dienst am Nächsten an die große Glocke zu hängen oder gar das Intimste der eigenen Seele dem argwöhnischen und scheelen Blick von Leuten auszusetzen, denen das innere Leben eines Menschen nicht mehr bedeutet als Anlaß zu Frevel und Spott.
Doch wie schwer ist es, diesem aggressiven Herumschnüffeln zu entkommen. Die Methoden, jemanden nicht in Ruhe zu lassen, sind zahlreicher geworden; man denke nur an die Möglichkeiten der Technik, aber auch an bestimmte, gängige Argumentationsweisen, gegen die man sich nur schwer wehren kann, will man den guten Ruf nicht verlieren. So setzt man mitunter einfach voraus, daß alle Menschen schlecht handeln, und in einem solchen Denkschema erscheint natürlich die Selbstkritik, der Meaculpismus unvermeidlich. Bewirft sich nun jemand nicht mit einer Fuhre Schlamm, so folgert man daraus, daß er nicht nur ein Übeltäter, sondern auch noch ein arroganter Heuchler ist.
Zuweilen geht man anders vor: Jemand schreibt Verleumdungen und läßt dann verlauten er selbst sei ja bereit, deine Ehrenhaftigkeit anzunehmen, aber andere Menschen vielleicht nicht; sie könnten verbreiten, du seiest ein Gauner: Wollen Sie also bitte beweisen, daß Sie kein Gauner sind? Oder aber sie sagen: Sie haben immer wieder behauptet, Ihr Verhalten sei untadelig, lauter, redlich; würden Sie bitte von neuem prüfen, ob es nicht doch schmutzig, unehrlich und verlogen ist?

70 Diese Beispiele sind nicht erfunden. Ich bin sicher, daß jeder Mensch oder jede einigermaßen bekannte Institution weitere Beispiele liefern könnte. In einigen Bereichen ist die verbogene Mentalität aufgekommen, der "Öffentlichkeit", dem " Volk", oder welchen Ausdruck man auch immer gebrauchen mag, stehe das Recht zu, die intimsten Einzelheiten aus dem Leben der anderen zu erfahren und zu begutachten.
Gestattet mir hier eine sehr persönliche Bemerkung: Seit mehr als dreißig Jahren habe ich immer wieder gesagt und geschrieben, daß das Opus Dei keine zeitlichen, politischen Ziele verfolgt; daß es einzig und allein die Heilslehre Christi und ein ihr gemäßes Leben unter Menschen aller Rassen, Gesellschaftsschichten und aller Länder verbreiten will; es will dazu beitragen, daß Gott auf der Erde mehr geliebt wird, und daß es so mehr Frieden und mehr Gerechtigkeit unter den Menschen gibt, die alle Kinder des einen Vaters sind.
Tausende, ja Millionen Menschen auf der ganzen Welt haben das verstanden, anderen – wenigen – scheint dies, aus welchen Gründen auch immer, nicht einzugehen.
Auch wenn ich mit dem Herzen jenen näherstehe, achte und liebe ich auch diese, denn alle haben ihre Würde, die Respekt und Achtung verdient, und alle sind zur Herrlichkeit Gottes berufen.
Aber es gibt eine sektiererische Minderheit, die nicht nur nicht begreift, was ich und viele andere Menschen lieben, sondern darüber hinaus Erklärungen und Begründungen verlangt, die ihrer eigenen, ausschließlich politischen Kategorien verhafteten Denkweise entsprechen – eine Denkweise, die sich dem Übernatürlichen verschließt und nur auf das Gleichgewicht und Zusammenspiel von Gruppeninteressen bedacht ist. Erhalten diese Menschen aber nicht eine derart nach ihrem Geschmack zurechtgelegte und deswegen irrige Erklärung, so argwöhnen sie Lüge, Verstellung und dunkle Pläne.
Laßt mich offen sagen, daß ich angesichts solcher Fälle weder traurig noch bekümmert bin; ja, ich würde sie sogar als belustigend empfinden, wenn ich darüber hinwegsehen könnte, daß hier der Nächste beleidigt und eine Sünde begangen wird, die zum Himmel schreit. Ich stamme aus Aragonien, jener Landschaft Spaniens, deren Menschenschlag den Ruf hat, die Offenheit zu lieben; schon meinem Naturell nach liebe ich die Aufrichtigkeit und empfinde instinktiv Abscheu vor jeder Art von Verschleierung. Ich habe mich immer bemüht, ohne Überheblichkeit und ohne Anmaßung die Wahrheit zu sagen, auch jenen, die sich ungehörig benahmen, Arroganz und Feindseligkeit an den Tag legten und jede Spur von Menschlichkeit vermissen ließen.
Oft habe ich daran denken müssen, welche Antwort der Blindgeborene den Pharisäern gab, als diese ihn zum x-ten Male fragten, wie das Wunder geschehen sei: Ich habe es euch schon gesagt. Aber ihr habt nicht darauf gehört. Warum wollt ihr es nochmals hören? Wollt etwa auch ihr seine Jünger werden? [Jo 9,27] Balsam für die Augen

71 Die Sünde der Pharisäer bestand nicht darin, daß sie in Christus nicht Gott sahen, sondern daß sie sich willentlich in sich verschlossen und nicht duldeten, daß Jesus, das Licht selbst, ihnen die Augen öffnete [Vgl. Jo 9,39-41]. Dieses Sichverschließen hat unmittelbare Auswirkungen auf unsere Beziehungen zu den Mitmenschen. Der Pharisäer, der meint, selbst Licht zu sein, und nicht zuläßt, daß Gott ihm die Augen öffnet, wird dem Nächsten voller Hochmut und Ungerechtigkeit begegnen: Gott, ich danke dir, daß ich nicht bin wie die übrigen Menschen, wie die Räuber, Betrüger, Ehebrecher, oder wie der Zöllner da [Lk 18,11] – das ist sein Gebet. Und der Blindgeborene, der bei der Wahrheit bleiben will und von einer wunderbaren Heilung spricht, muß sich sagen lassen: Du bist ganz in Sünden geboren und willst uns belehren? Und sie stießen ihn aus [Jo 9,34].
Unter jenen, die Christus nicht kennen, gibt es viele gute Menschen, die sich aus einer natürlichen Haltung heraus feinfühlig verhalten: Sie sind aufrichtig, herzlich, aufmerksam. Wenn sie und wir uns nicht dagegen stemmen, daß Christus die Blindheit heilt, die unsere Augen noch trübt, wenn wir es zulassen, daß der Herr diese Augen mit einem Teig bestreicht, der in seinen Händen zu heilender Salbe wird, dann werden wir in einem neuen Licht – mit dem Licht des Glaubens – die irdischen Dinge wahrnehmen und die ewigen erahnen: wir werden einen lauteren Blick erwerben.
Dazu ist der Christ berufen, zur Fülle der Liebe. Diese Liebe ist langmütig, gütig, nicht eifersüchtig. Sie prahlt nicht, sie überhebt sich nicht, sie handelt nicht unschicklich, sie sucht nicht das Ihre, kennt keine Erbitterung, trägt das Böse nicht nach. Am Unrecht hat sie kein Gefallen, mit der Wahrheit freut sie sich. Alles erträgt sie, alles glaubt sie , alles hofft sie, alles duldet sie [1 Kor 13,4-7].
Die Liebe Christi ist nicht bloß ein Gefühl des Wohlwollens gegenüber dem Nächsten, sie ist nicht lediglich eine philanthropische Laune. Die Liebe, die Gott der Seele eingießt, verwandelt Verstand und Willen von innen her, sie gibt der Freundschaft und der Freude an guten Werken eine übernatürliche Grundlage.
Führt euch die Heilung des Gelähmten vor Augen, von der die Apostelgeschichte berichtet. Petrus und Johannes steigen zum Tempel hinauf und stoßen beim Vorübergehen auf einen Mann, der am Tor des Tempels sitzt. Er ist lahm von Geburt.
Alles erinnert an die Heilung des Blindgeborenen. Doch jetzt bringen die Jünger dieses Schicksal nicht mehr in Zusammenhang mit den persönlichen Sünden des Kranken oder mit den Verfehlungen seiner Eltern. Sie sagen zu ihm: Im Namen Jesu Christi von Nazareth geh umher [Apg 3,6]. Früher waren sie voll Unverstand, jetzt sind sie voll Erbarmen, früher urteilten sie voreilig, jetzt heilen sie auf wunderbare Weise im Namen des Herrn.
Seht, wieder ist es Christus, der vorübergeht! Christus geht immer noch vorüber auf den Straßen der Welt, in der Gestalt seiner Jünger, in der Gestalt der Christen. Und ich bitte Ihn aus ganzem Herzen, Er möge dicht an der Seele so mancher vorübergehen, die mich jetzt hören.

Achtung und Liebe

72 Am Anfang wunderte uns die Einstellung der Jünger Jesu gegenüber dem Blindgeborenen. Ihr Denken war geprägt von jener unglücklichen Geisteshaltung, wie sie das Sprichwort festhält: Denke Böses und du irrst dich nicht. Später, als sie den Meister näher kennengelernt und begriffen haben, was es bedeutet, ein Christ zu sein, lassen sie sich von Verständnis leiten.
Bei jedem Menschen, schreibt der heilige Thomas von Aquin, läßt sich etwas finden, auf Grund dessen ihn die anderen als überlegen betrachten können gemäß den Worten des Apostels: "In Demut erachte jeder den anderen höher als sich selbst" (PhiI2, 3). Und deshalb müssen alle Menschen einander Ehre erweisen [Thomas von Aquin, S. Th., II-II, q. 103, a. 2-3]. Die Demut ist jene Tugend, die uns entdecken läßt, daß die Achtung vor einem Menschen – vor seiner Ehre, seinem Glauben, seiner Intimsphäre – nicht bloße Äußerlichkeit ist, sondern erster Erweis der Liebe und der Gerechtigkeit.
Die christliche Nächstenliebe beschränkt sich nicht darauf, dem Bedürftigen in seiner materiellen Not zu helfen; sie zielt zuallererst darauf, jeden einzelnen auf Grund seiner Würde als Mensch und als Kind des Schöpfers zu achten und zu verstehen. Darum verraten die Anschläge auf die Würde der Person – auf ihren guten Ruf, auf ihre Ehre –, daß derjenige, der sie verübt, einige Wahrheiten unseres christlichen Glaubens nicht bekennt oder nicht lebt; auf jeden Fall aber, daß ihm die wahre Gottesliebe fehlt. Die Liebe, mit der wir Gott und den Nächsten lieben, ist ein und dieselbe Tugend, denn Gott selber ist der Grund, warum wir den Nächsten lieben, und im Nächsten lieben wir niemand anderen als Gott [Thomas von Aquin, S. Th., II-II, q. 103, a. 2-3].
Ich hoffe, daß es uns gelingen wird, aus diesem kurzen Gespräch in der Gegenwart des Herrn einige konkrete Folgerungen zu ziehen. Vor allem sollten wir den Vorsatz fassen, die anderen nicht zu richten, nicht zu beleidigen, nicht einmal durch den Zweifel; das Böse im Überfluß des Guten zu ersticken und überall, wo wir sind, ein loyales Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit zu fördern.
Nehmen wir uns auch fest vor, niemals traurig zu werden, wenn unser aufrichtiges Verhalten mißdeutet wird; wenn das Gute, das wir uns – immer mit der Hilfe des Herrn – zu tun bemühen, durch eine willkürliche Interpretation unserer Absichten als Verschlagenheit und Heuchelei verketzert wird. Verzeihen wir immer, mit einem Lächeln auf den Lippen. Reden wir deutlich, ohne Groll, wenn wir im Gewissen meinen, daß wir reden sollen. Und legen wir alles in die Hände Gottes, unseres Vaters, indem wir jenes göttliche Schweigen nachahmen – Iesus autem tacebat [Mt 26,63], Jesus aber schwieg –, wenn es sich um Angriffe auf unsere eigene Person handelt, mögen sie noch so brutal und schamlos sein. Bemühen wir uns einzig und allein darum, gute Werke zu tun; Er wird schon dafür sorgen, daß sie leuchten vor den Menschen [Mt 5,16].

 «    DER INNERE KAMPF    » 

(Homilie, gehalten am 4. April 1971, Palmsonntag.)

73 Wie jedes christliche Fest ist auch der heutige Tag in besonderer Weise ein Fest des Friedens. Mit ihrer uralten Symbolkraft rufen uns die Palmzweige jene Szene aus dem Buch der Genesis ins Gedächtnis: Dann wartete Noah sieben weitere Tage und sandte abermals die Taube von der Arche aus. Es stellte sich aber die Taube bei ihm zur Abendzeit ein, und siehe, sie hatte ein frisches Olivenblatt in ihrem Schnabel. Da erkannte Noah, daß die Wasser sich von der Erde verlaufen hatten [Gn 8,10-11]. Und wir erinnern uns auch daran, daß der Bund zwischen Gott und seinem Volk in Christus geschlossen wurde, denn Er ist unser Frieden [Eph 2,14]. Die Liturgie unserer heiligen katholischen Kirche läßt auf wunderbare Weise im Neuen das Alte wieder aufklingen; und so lesen wir heute voller Freude: Die Kinder der Hebräer trugen Olivenzweige in den Händen. Sie zogen dem Herrn entgegen und riefen: Ehre in der Höhe! [Antiphon zur Austeilung der Zweige] Dieser Lobruf verbindet sich in unserer Seele mit jenem jubelnden Ruf bei seiner Geburt in Bethlehem. Während Jesus dahinzog, erzählt der heilige Lukas, breiteten sie ihre Kleider auf den Weg. Als Er sich bereits dem Abstieg des Ölbergs näherte, fing die ganze Schar der Jünger an, Gott mit lauter Stimme zu preisen ob all der Wundertaten, deren Zeugen sie gewesen waren; "Hochgelobt sei der König, der im Namen des Herrn kommt; Frieden im Himmel und Ehre in der Höhe" [Lk 19,36-38].
Frieden auf Erden
Pax in coelo
, Frieden im Himmel. Doch behalten wir auch die Welt im Auge: Warum gibt es keinen Frieden auf Erden? In der Tat, es herrscht kein Frieden, nur einen scheinbaren Frieden gibt es, ein Gleichgewicht der Angst, notdürftige Kompromisse. Auch in der Kirche gibt es keinen Frieden. Sie ist von Spannungen gezeichnet, die das makellose Gewand der Braut Christi zu zerreißen drohen. Und ebenso gibt es keinen Frieden in vielen Herzen, die vergebens versuchen, die Unruhe der Seele durch beständige Betriebsamkeit zu überspielen, durch billigen Genuß von Dingen, die nicht sättigen, weil sie immer einen traurigen und bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
Der heilige Augustinus schreibt: Die Palmzweige bedeuten Verehrung, weil sie Zeichen des Sieges sind. Der Herr stand kurz vor seinem Sieg durch seinen Tod am Kreuz. Im Zeichen des Kreuzes überwand Er den Teufel, den Fürsten des Todes [Augustinus, In Ioannis Evangelium tractatus, 51, 2, (PL 35, 1764)].
Christus ist unser Frieden, weil Er gesiegt hat. Er siegte, weil Er gekämpft hat in einem unerbittlichen Kampf gegen alle Bosheit in den Herzen der Menschen.
Christus, unser Frieden, ist auch der Weg [Jo 14.6].Wenn wir den Frieden wollen, müssen wir seinen Schritten folgen. Der Frieden ist eine Folge des Krieges, des Kampfes, eines asketischen Kampfes, den jeder Christ in seinem Innern ausfechten muß gegen alles, was in seinem Leben nicht von Gott ist: gegen den Hochmut, gegen Sinnlichkeit, Egoismus, Oberflächlichkeit und Engherzigkeit. Vergeblich ruft man nach äußerer Ruhe, wenn im Gewissen, im Grunde der Seele, die Ruhe fehlt, denn aus dem Herzen kommen die bösen Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Gotteslästerung [Mt 15,19].

Kämpfen aus Liebe und Gerechtigkeit

74 Aber ist eine solche Sprache nicht überholt? Ist sie nicht ersetzt worden durch ein Reden nach der Mode, das die Preisgabe persönlicher Ideale mit einem pseudowissenschaftlichen Kostüm umhüllt? Besteht nicht stillschweigendes Einvernehmen darüber, daß die wirklichen Güter andere sind: Geld, für das alles käuflich ist, irdische Macht, Verschlagenheit, die dazu verhilft, immer oben zu schwimmen, und menschliche Weisheit, die sich selbst für mündig erklärt und glaubt, das Heilige überwunden zu haben?
Ich bin kein Pessimist und war auch nie einer; denn der Glaube sagt mir, daß Christus endgültig gesiegt und uns als Unterpfand seines Sieges ein Gebot gegeben hat, das von uns zugleich eine Antwort der Treue verlangt: zu kämpfen. Wir Christen haben uns aus Liebe gebunden. Durch die Gnade Gottes gerufen, sind wir diese Bindung aus freien Stücken eingegangen. Sie verpflichtet uns, beherzt zu kämpfen, gerade weil wir uns wie alle anderen Menschen schwach wissen. Gleichzeitig dürfen wir aber nicht vergessen, daß wir – wenn wir nur die Mittel anwenden – das Salz, das Licht, der Sauerteig der Welt sein werden und die Wonne Gottes.
Der Wille, unerschütterlich zu dieser Liebe zu stehen, ist außerdem eine Pflicht der Gerechtigkeit; eine Verpflichtung, die alle Christen bindet und deren Gegenstand nichts anderes ist als der beständige Kampf. Die kirchliche Überlieferung hat die Christen stets als milites Christi, als Streiter Christi bezeichnet, die anderen den inneren Frieden bringen, während sie selbst unablässig gegen die eigenen bösen Neigungen ankämpfen. Aus Mangel an übernatürlicher Sicht, aus praktischem Unglauben, will man bisweilen nichts davon wissen, daß das Leben auf Erden ein Kriegsdienst ist. Und man verweist arglistig darauf, daß wir, wenn wir uns als milites Christi betrachten, unseren Glauben für irdische Zwecke – Gewalt und Sektierertum – mißbrauchen könnten. Hinter der allzu simplen Logik solcher Gedankengänge verbirgt sich oft nichts anderes als Bequemlichkeit und Feigheit.
Denn nichts widerspricht dem christlichen Glauben mehr als der Fanatismus, der für die sonderbaren Verquickungen des Profanen mit dem Religiösen so charakteristisch ist, unter welchen Vorzeichen diese auch immer stehen mögen. Diese Gefahr ist jedoch nicht gegeben, wenn wir den Kampf so verstehen, wie Christus ihn uns gelehrt hat: als eine Fehde des Menschen mit sich selbst, als ständig erneuertes Bemühen, Gott mehr zu lieben, die Eigenliebe auszumerzen und allen Menschen zu dienen. Wer zu kämpfen aufhört, mag er auch noch so schönlautende Entschuldigungen anführen, erklärt sich im voraus für besiegt und geschlagen: eine ausgebrannte Seele, die den Glauben fallen läßt und sich selbstgefällig in Nichtigkeiten verliert.
Der geistliche Kampf vor Gott und vor unseren Brüdern im Glauben ist für einen Christen die notwendige Folge seines Christseins. ,Wer nicht kämpft, übt Verrat an Jesus Christus und an seinem mystischen Leib, der Kirche.

Ständiger Kampf

75 Der Christ führt einen ständigen Krieg. Denn in seinem Innenleben muß er stets beginnen und immer wieder neu beginnen. Dies verhindert, daß wir hochmütig werden und uns einbilden, wir seien bereits vollkommen. Schwierigkeiten auf unserem Weg sind unvermeidlich. Würden wir nicht auf Hindernisse stoßen, wären wir keine Menschen aus Fleisch und Blut; immer werden wir mit Leidenschaften zu tun haben, die uns nach unten ziehen, und immer werden wir uns gegen diese mehr oder weniger heftigen Angriffe zur Wehr setzen müssen.
Es dürfte für uns nichts Neues sein, wenn wir an Leib und Seele den Stachel des Stolzes, der Sinnlichkeit, des Neides, der Faulheit und die Neigung spüren, die Menschen um uns zu tyrannisieren. Es ist ein altbekanntes Übel, das uns die eigene Erfahrung immer wieder bestätigt ; es ist der Ausgangspunkt und der gewohnte Hintergrund unseres inneren Wettkampfes um den Sieg, unseres Laufs zum Hause des Vaters. Deshalb sagt uns der heilige Paulus: Ich laufe daher, aber nicht ins Ungewisse; ich kämpfe, aber nicht wie einer, der bloße Luftstreiche ausführt, sondern ich züchtige meinen Leib und bringe ihn in Dienstbarkeit, damit ich nicht, nachdem ich anderen gepredigt habe, selbst verworfen werde [1Kor 9, 26-27].
Der Christ kann nicht auf äußere Zeichen oder auf eine günstige innere Stimmung warten, um diesen Kampf aufzunehmen oder durchzustehen. Das innere Leben ist nicht Sache des Gefühls oder der Stimmung, sondern Sache der Gnade Gottes und unseres Wollens, Sache der Liebe. Alle Jünger vermochten Christus am Tage seines Triumphes in Jerusalem nachzufolgen, aber fast alle ließen Ihn im Stich zur Stunde der Schande des Kreuzes.
Um wirklich zu lieben, sind Starkmut und Treue nötig, das Herz muß fest verankert sein in Glauben, Hoffnung und Liebe. Nur wer leichtfertig und oberflächlich ist, ändert launenhaft den Gegenstand seiner Liebe, die dann aber nicht Liebe ist, sondern Befriedigung des Egoismus. Wo Liebe ist, da ist auch vollständige Hingabe: die Fähigkeit, sich zu schenken, die Bereitschaft zu Opfer und Verzicht. Und gerade in dieser Hingabe, im Opfer und im Verzicht, in der Qual der Widrigkeiten finden wir Glück und Freude. Diese Freude wird uns nichts und niemand nehmen können.
In diesem Kampf aus Liebe dürfen uns Stürze nicht betrüben – selbst schwere nicht – , wenn wir reuevoll und mit guten Vorsätzen im Sakrament der Buße bei Gott unsere Zuflucht suchen. Der Christ ist nicht krampfhaft darauf bedacht, von Gott einen tadellosen Leistungsnachweis zu erhalten. So sehr Jesus Christus, unser Herr, ergriffen ist von der Unschuld und Treue des Johannes – als Petrus nach seinem Fall reuevoll umkehrt, wendet Er sich ihm voll Liebe wieder zu. Jesus hat Verständnis für unsere Schwachheit und zieht uns wie über eine sanft ansteigende Ebene zu sich hin. Er erwartet nur, daß wir uns immer wieder bemühen, täglich ein wenig höher zu kommen. Er sucht uns auf, wie Er die beiden Jünger von Emmaus aufsuchte und sie begleitete, und wie Er den Thomas aufsuchte, ihm die offenen Wunden seiner Hände und seiner Seite zeigte und ihn aufforderte, sie mit seinen Fingern zu berühren. Gerade weil Jesus unsere Schwachheit kennt, wartet Er ständig darauf, daß wir zu Ihm zurückkehren.

Der innere Kampf

76 Ertrage die Schwierigkeiten als tüchtiger Streiter Christi Jesu Ertrage die Schwierigkeiten als tüchtiger Streiter Christi Jesu [2 Tim 2,3], sagt uns der heilige Paulus. Das Leben des Christen ist ein Kriegsdienst, ein herrlicher Krieg für den Frieden, der nichts gemein hat mit den kriegerischen Auseinandersetzungen der Menschen. Denn diese atmen den Geist der Trennung und oft des Hasses, während der Krieg der Kinder Gottes gegen ihre Eigenliebe im Bestreben nach Einheit und Liebe wurzelt. Wohl wandeln wir noch im Fleische, doch führen wir unsern Kampf nicht auf fleischliche Weise .Denn die Waffen, mit denen wir kämpfen, sind nicht fleischlicher Art, sondern machtvoll, um für Gott Bollwerke niederzureißen. So zerstören wir die Pläne der Menschen und allen Hochmut, der sich gegen die Erkenntnis Gottes erhebt [2 Kor 10,3-5]. Dies ist die unerbittliche Schlacht gegen den Stolz, gegen die Selbstgefälligkeit, die uns zum Bösen bereit macht, gegen aufgeblähte Überheblichkeit.
Wir wollen uns an diesem Palmsonntag, da der Herr in die entscheidende Woche unserer Erlösung eintritt, nicht bei oberflächlichen Überlegungen aufhalten. Stoßen wir zum Entscheidenden vor, zu dem, was wirklich wichtig ist. Seht, was wir erstreben sollen, ist, in den Himmel zu kommen; sonst würde sich unser Leben nicht lohnen. Um in den Himmel zu gelangen, müssen wir treu der Lehre Christi folgen; und um treu zu sein, müssen wir ständig gegen Hindernisse kämpfen, die sich unserer ewigen Seligkeit entgegenstellen.
Ich weiß schon, wenn von Kampf die Rede ist, haben wir sogleich unsere Schwachheit vor Augen, wir ahnen kommende Niederlagen, Irrwege. Doch Gott rechnet damit. Da wir unterwegs sind, läßt es sich nicht vermeiden, daß wir beim Voranschreiten den Staub des Weges aufwirbeln. Wir sind Geschöpfe, voller Gebrechen. Ja, mir scheint sogar, daß es Gebrechen in unserer Seele geben muß wie Schatten, von denen sich als Kontrast die Gnade Gottes und unser Bemühen, diesem göttlichen Geschenk zu entsprechen, um so klarer abheben. Erst beides zusammen Licht und Dunkel macht uns menschlich, demütig, verständnisvoll und großzügig.
Betrügen wir uns doch nicht selbst: Wenn wir in unserem Leben mit Glanz und Erfolg rechnen, werden wir auch mit Niederlagen und Rückschlägen rechnen müssen. So ist immer der Weg des Christen auf der Erde gewesen, auch der Weg jener, die wir heute als Heilige verehren. Denkt nur an Petrus, Augustinus und Franziskus. Mir haben nie jene Lebensbeschreibungen gefallen, die, aus Naivität, aber auch aus Mangel an christlicher Lehre, die Heiligen so darstellen, als wären sie vom Mutterschoß an unfehlbar mit der Gnade Gottes ausgestattet gewesen. Nein, die wahren Lebensgeschichten der christlichen Heiligen gleichen den unsrigen aufs Haar: Sie kämpften und unterlagen, um von neuem, reuevoll, den Kampf wieder aufzunehmen.
Es sollte uns nicht wundern, daß wir relativ häufig Niederlagen einstecken müssen, auch wenn es sich dabei gewöhnlich, ja vielleicht immer um geringfügige Dinge handelt, die uns weh tun, als wären sie von großer Bedeutung. Wenn wir Gott lieben, demütig sind und kämpfen, werden solche Niederlagen nie von großem Ernst sein. Denn wir werden dann auch Kämpfe bestehen können, große Siege davontragen in den Augen Gottes.
Wenn wir mit lauterer Absicht arbeiten und Gottes Willen zu erfüllen trachten, ist uns, in unserer Nichtigkeit, seine Gnade gewiß; und dann gibt es keine Niederlagen.

77 Aber ein mächtiger Feind lauert uns auf, der sich unserem Streben widersetzt, die Lehre Christi voll zu leben: der Stolz. Er wächst, wenn wir es nach einer Niederlage oder einer Schlappe unterlassen, die helfende Hand des Herrn zu suchen. Dann erfüllen Zwielicht und Dunkel die Seele; sie glaubt sich verloren. Die Einbildung erfindet Hindernisse, die in Wirklichkeit gar keine sind und die verschwinden würden, wenn nur ein wenig Demut uns den Blick freihielte. In ihrem Stolz und ihrer Einbildung schafft sich die Seele manchmal ein qualvolles GoIgotha. Dort findet sie aber nicht Christus, denn wo der Herr ist, herrschen Frieden und Freude, auch wenn die Seele eine einzige Wunde ist und sich von Finsternis umgeben sieht.
Und mit einem weiteren verlogenen Feind unserer Heiligung müssen wir rechnen: mit dem Gedanken, in diesem inneren Kampf hätten wir es mit außergewöhnlichen Hindernissen, mit feuerspeienden Drachen zu tun. Hier zeigt sich der Stolz in anderem Kleid. Wir sind bereit zu kämpfen, aber nur mit Pauken und Trompeten und mit fliegenden Fahnen.
Vergessen wir nicht: weder die Spitzhacke noch die Axt, noch die Schläge sonst eines Werkzeugs, so scharf es auch sein mag, sind die gefährlichsten Feinde des Gesteins, sondern das Wasser , das tropfenweise in die Ritzen des Felsen sickert, bis es das Gefüge sprengt. Hier liegt für den Christen die große Gefahr: die täglichen Scharmützel zu vernachlässigen, was nach und nach seine Spuren in der Seele hinterläßt, so daß sie schließlich schlaff und spröde wird, gleichgültig und unempfänglich für die Stimme Gottes.
Hören wir, was der Herr uns sagt: Wer im Kleinsten treu ist, der ist auch im Großen treu; wer im Kleinsten untreu ist, der ist auch im Großen untreu [Lk 16,10]. Es ist, als sagte Er uns: Kämpfe unentwegt in diesen scheinbar unbedeutenden Kleinigkeiten, denn sie sind groß in meinen Augen; sei pünktlich in der Erfüllung deiner Pflichten; hab ein Lächeln für den, der es braucht, auch wenn dir der Sinn nicht danach steht; feilsche nicht mit der Zeit, die du dem Gebet widmest; geh dem entgegen, der deine Hilfe sucht; übe Gerechtigkeit und geh über sie hinaus mit dem Gnadengeschenk der Liebe.
Solche und ähnliche Anregungen spüren wir täglich in unserem Innern wie eine stille Aufforderung zum Training in diesem übernatürlichen Sport der Selbstüberwindung. Das Licht Gottes möge uns erleuchten, damit wir seine Anregungen besser wahrnehmen; der Herr möge uns im Kampf helfen und im Sieg zur Seite stehen; Er möge bei uns bleiben in der Stunde der Niederlage, damit wir so immer wieder aufstehen und weiter kämpfen können.
Wir dürfen nicht stehen bleiben. Der Herr verlangt von uns, den Kampf immer zügiger, gründlicher und an immer mehr Fronten zu führen. Wir sind verpflichtet, uns immer weiter zu steigern, denn das einzige Ziel in diesem Wettkampf ist die himmlische Herrlichkeit. Wenn wir den Himmel nicht erreichen, war alles umsonst.

Die Sakramente der Gnade Gottes

78 Wer wirklich kämpfen will, setzt die entsprechenden Mittel ein; und diese haben sich in den zwanzig Jahrhunderten des Christentums nicht geändert: Gebet, Abtötung und Empfang der Sakramente. Da die Abtötung ebenfalls Gebet ist – das Gebet der Sinne –, können wir diese Mittel in zwei Worten zusammenfassen: Gebet und Sakramente.
Betrachten wir jetzt gemeinsam die Sakramente, diese Quelle göttlicher Gnade, diesen wunderbaren Erweis des göttlichen Erbarmens. Wir wollen ihre Definition im Katechismus Pius V. sorgfältig bedenken: bestimmte sinnfällige Zeichen, welche die Gnade, die sie bewirken, andeuten und gewissermaßen vor Augen stellen [Römischer Katechismus nach dem Beschluß des Konzils von Trient, II. Kap. I,3]. Gott unser Herr ist unendlich, seine Liebe unerschöpflich, seine Milde und sein Erbarmen mit uns sind grenzenlos. Obwohl Er uns seine Gnade auf vielfache Weise gewährt, hat Er ausdrücklich und weil Er es so wollte – Er allein konnte dies tun – jene sieben wirksamen Zeichen eingesetzt, damit wir Menschen auf sichere, einfache und allen zugängliche Weise an den Verdiensten der Erlösung teilhaben können.
Ohne den Empfang der Sakramente schwindet jedes wahre christliche Leben. Und dennoch kann man nicht übersehen, daß es gerade in unserer Zeit nicht wenige gibt, die diesen Gnadenstrom der Erlösung Christi zu vergessen oder gar zu verachten scheinen.
Es ist zwar schmerzlich, auf diese offene Wunde einer Gesellschaft, die sich christlich nennt, den Finger zu legen, aber es ist notwendig, damit wir in uns den Wunsch stärken, mit mehr Liebe und Dankbarkeit diese Quellen der Heiligung aufzusuchen.
Bedenkenlos schiebt man die Taufe der Neugeborenen hinaus und beraubt sie so – indem man schwer gegen die Liebe und Gerechtigkeit verstößt – der Gnade des Glaubens und der Einwohnung der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, dieses unermeßlichen Schatzes der Seele, die befleckt mit der Erbsünde zur Welt kommt. Ebenso geht man daran, das Wesen der Firmung in Frage zu stellen. Die Tradition hat immer einmütig in diesem Sakrament eine Stärkung des geistlichen Lebens gesehen und eine stille, fruchtbare Eingießung des Heiligen Geistes, damit die Seele, übernatürlich gekräftigt, als miles Christi in diesem inneren Kampf gegen Egoismus und Begierlichkeit bestehen kann.
Wenn das Gespür für die Dinge Gottes verlorengeht, ist das Bußsakrament kaum zu verstehen. Die sakramentale Beichte ist kein menschlicher Dialog, sondern ein Gespräch mit Gott; sie ist ein Gericht vor Gottes unfehlbarer Gerechtigkeit, vor allem aber vor dem Erbarmen jenes liebevollen Richters, der kein Wohlgefallen hat am Tode des Frevlers, sondern daran, daß der Frevler sich von seinem Wandel bekehre und lebe [Ez 33,11].
Die zärtliche Liebe unseres Herrn ist wahrhaft unendlich. Seht, mit welcher Zuneigung Er seine Kinder behandelt. Die Ehe hat Er zu einem heiligen Band gemacht, zum Abbild der Vereinigung Christi mit seiner Kirche [Vgl. Eph 5,32], zu einem großen Sakrament und zur Grundlage der christlichen Familie, die mit Hilfe der Gnade Gottes als Schule der Heiligkeit Frieden und Eintracht ausstrahlen soll. Die Eltern sind Mitarbeiter Gottes, und daher haben die Kinder die liebenswerte Pflicht, sie zu ehren. Man könnte das vierte Gebot – so schrieb ich schon vor vielen Jahren – das liebenswerteste Gebot des Dekalogs nennen. Wenn die Ehe, so wie Gott es will, heilig gelebt wird, dann wird das Zuhause ein friedlicher, heller und fröhlicher Ort.

79 Mit der Priesterweihe hat Gott uns die Möglichkeit gegeben, daß einige Gläubige in neuer und unaussprechlicher Weise den Heiligen Geist und damit ein unauslöschliches Zeichen in ihrer Seele empfangen, das sie dem Priester Christus gleichförmig macht und befähigt, im Namen Jesu Christi, des Hauptes seines mystischen Leibes, zu handeln [Vgl. Konzil von Trient, Sitzung XXIII, c. 4; II. Vatikanisches Konzil, Dekret Presbyterorum ordinis, Nr. 2].
Aufgrund dieses Amtspriestertums, das sich dem Wesen, nicht bloß dem Grade nach vom allgemeinen Priestertum aller Gläubigen unterscheidet [Vgl. II. Vatikanisches Konzil, Konstitution Lumen gentium, Nr 10], können die geweihten Diener den Leib und das Blut Christi konsekrieren, Gott das heilige Opfer darbringen, in der sakramentalen Beichte die Sünden vergeben und das Amt der Verkündigung der Lehre unter allen Völkern ausüben in iis quae sunt ad Deum [Hebr 5,1]in all dem und nur in dem, was Bezug hat auf Gott.
Deswegen soll der Priester ausschließlich ein Mann Gottes sein und den Gedanken von sich weisen, in Bereichen glänzen zu wollen, in denen die anderen Christen ihn nicht nötig haben. Der Priester ist kein Psychologe, kein Soziologe und kein Anthropologe. Er ist ein anderer Christus, Christus selbst, und hat sich um die Seelen seiner Brüder zu kümmern. Es wäre traurig, wenn der Priester – gestützt auf eine Profanwissenschaft, die er, wenn er seinen priesterlichen Aufgaben nachgeht, nur als Amateur pflegen kann sich ohne weiteres für befähigt hielte, in Fragen der Moraltheologie oder Dogmatik Lehrsätze zu verkünden. Er würde nur seine doppelte – theologische und profanwissenschaftliche – Unwissenheit unter Beweis stellen, auch wenn eine oberflächliche fachmännische Attitüde es fertigbringen könnte, einige unvorbereitete Leser oder Hörer irrezuführen.
Es ist kein Geheimnis, daß einige Kirchenmänner heute anscheinend darauf aus sind, eine neue Kirche zu fabrizieren, indem sie Verrat an Christus üben und an die Stelle der geistlichen Ziele – des Heils der Seelen, und zwar des Heils jeder einzelnen – irdische Ziele setzen. Wenn sie dieser Versuchung nicht widerstehen, werden sie ihr heiliges Amt nicht mehr ausfüllen und beim Volk Vertrauen und Respekt einbüßen. Sie werden in der Kirche selbst eine furchtbare Zerstörung anrichten und zudem eigenmächtig die politische Freiheit des Christen, ja aller Menschen, beeinträchtigen, sie werden so selbst zu einer Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft. Die Priesterweihe ist das Sakrament des übernatürlichen Dienstes an den Brüdern im Glauben. Aber es scheint, als wollten manche dieses Sakrament zum irdischen Werkzeug eines neuen Despotismus machen.

80 Doch betrachten wir weiter, wie wunderbar die Sakramente sind. In der Krankensalbung, wie die Letzte Ölung jetzt heißt, erfahren wir eine liebevolle Wegbereitung für eine Reise, die im Hause des Vaters endet. In der heiligen Eucharistie schließlich – wir könnten sie das Sakrament der verschwenderischen Großzügigkeit Gottes nennen – gewährt Gott uns seine Gnade und schenkt sich uns selbst : Jesus Christus ist in der Eucharistie wirklich gegenwärtig und nicht nur während der heiligen Messe – mit seinem Leib und mit seinem Blut, mit seiner Seele und mit seiner Gottheit.
Ich denke oft an die Verantwortung, die auf den Priestern lastet, diesen göttlichen Gnadenstrom der Sakramente allen Christen zu sichern. Gottes Gnade kommt jeder Seele zu Hilfe. Jedes Geschöpf braucht seinen ganz bestimmten, persönlichen Beistand. Man kann Seelen einfach nicht in Massen abfertigen! Es hieße die Menschenwürde und die Würde der Kinder Gottes verletzen, wollte der Priester nicht auf jeden einzelnen persönlich eingehen im demütigen Wissen darum, daß er nur Werkzeug und Vermittler der Liebe Christi ist: denn jede Seele ist ein herrlicher Schatz, jeder Mensch ist einzigartig und unersetzlich, jeder Mensch ist das ganze Blut Christi wert.
Wir haben vom Kampf gesprochen. Der Kampf jedoch erfordert Training, eine richtige Ernährung und sofortige Medizin bei Krankheit, Verletzungen und Wunden. Die Sakramente, Hauptheilmittel der Kirche, sind kein Luxus. Wer willentlich auf sie verzichtet, ist nicht mehr fähig, auch nur einen Schritt vorwärts zu tun auf dem Weg der Nachfolge Christi. Wir benötigen sie wie das Atmen, wie den Blutkreislauf, wie das Licht, um jederzeit erkennen zu können, was der Herr von uns will.
Die Askese des Christen erfordert Stärke und diese Stärke findet er im Schöpfer. Wir sind das Dunkel, Er ist hellstes Licht. Wir sind die Krankheit, Er die unangreifbare Gesundheit. Wir sind die Dürftigkeit, Er ist der unendliche Reichtum. Wir sind die Schwachheit, Er ist unser Halt, quia tu es, Deus, fortitudo mea [Ps 43,2], denn immer bist Du, mein Gott, unsere Stärke. Nichts auf dieser Welt kann sich dem erlösenden und nie versiegenden Strom des Blutes Christi widersetzen. Aber menschliche Niedrigkeit kann uns den Blick für die Größe Gottes trüben. Allen Gläubigen und besonders jenen, die das Amt haben, das Volk Gottes geistlich zu leiten – ihm zu dienen –, obliegt deshalb die Verantwortung, die Quellen der Gnade nicht versiegen zu lassen und sich nicht des Kreuzes Christi zu schämen.

Verantwortung der Hirten

81 Alle sind in der Kirche Gottes angehalten, sich beharrlich zu bemühen, mit wachsender Treue nach der Lehre Christi zu leben. Keiner ist davon ausgenommen.
Scheuten die Hirten das persönliche Bemühen um ein feinfühliges Gewissen und um Treue in der Glaubens- und Sittenlehre – die ja das depositum fidei und das gemeinsame Erbe ausmachen –, dann würden die prophetischen Worte des Ezechiel Wirklichkeit: Menschensohn, tritt wider die Hirten Israels als Prophet auf, weissage und sprich zu ihnen, den Hirten; So spricht der Gebieter und Herr; Wehe den Hirten Israels, die sich selber weiden! Sollen nicht vielmehr die Hirten die Schafe weiden? Die Milch genießt ihr, mit der Wolle bekleidet ihr euch. ..Das Schwache habt ihr nicht gestärkt, das Kranke nicht geheilt, das Verletzte nicht verbunden, das Versprengte nicht heimgeführt, das Verirrte nicht gesucht und das Kräftige in roher Weise niedergezwungen [Ez 34, 2-4].
Das sind harte Vorwürfe. Aber weit schwerwiegender ist es, wenn jene Gott beleidigen, die den Auftrag erhalten haben, sich um das geistliche Wohl aller zu kümmern, stattdessen aber die Seelen mißhandeIn und ihnen das reinigende Wasser der Taufe vorenthalten, ihnen das stärkende Salböl der Firmung entziehen, das verzeihende Gericht und die Speise zum ewigen Leben.
Wann kann das geschehen? Wenn der Kampf für den Frieden aufgegeben wird. Wer nicht kämpft, setzt sich den vielfältigen Formen der Knechtschaft aus, die ein Herz aus Fleisch in Ketten legen können: der Knechtschaft einer rein irdischen Sicht, der Knechtschaft des gierigen Strebens nach Macht und Ansehen in der Welt, der Knechtschaft der Eitelkeit, der Knechtschaft des Geldes, der Sklaverei der Sinnlichkeit…
Wenn Gott irgendwann einmal diese Prüfung zuläßt, und ihr Hirten begegnet, die diesen Namen nicht verdienen, dann nehmt daran keinen Anstoß. Christus hat der Kirche seinen unfehlbaren und immerwährenden Beistand versprochen, aber Er bürgt nicht dafür, daß die Menschen, die die Kirche bilden, treu bleiben. An Gnade wird es ihnen nicht fehlen, Gott gewährt sie immer im Übermaß, wenn sie ihrerseits das Wenige aufbringen.
das Gott von ihnen erwartet: sich in Wachsamkeit zu bemühen, mit der Gnade Gottes die Hindernisse auf dem Weg zur Heiligkeit zu beseitigen. Wer nicht kämpft, kann in Gottes Augen sehr niedrig stehen, mag er auch noch so hochgestellt scheinen. Ich kenne deine Werke: du hast den Namen, daß du lebst. Doch du bist tot. Wach auf! Stärke den Rest deiner Herde, der am Absterben ist. Ich finde deine Werke nicht vollwertig vor meinem Gott. Gedenke also dessen, was du empfangen und gehört hast. Halte daran fest und geh in dich! [Offb 3,1-3] Mit diesen Worten ermahnte der Apostel Johannes im ersten Jahrhundert denjenigen, der in der Stadt Sardes die Verantwortung für die Kirche trug. Denn das mögliche Schwinden des Verantwortungsbewußtseins bei einigen Hirten ist nicht neu. Das gab es schon zur Zeit der Apostel, im seIben Jahrhundert, in dem unser Herr Jesus Christus auf Erden gelebt hat. Tatsächlich kann sich keiner sicher fühlen, der aufhört, mit sich selbst zu kämpfen. Niemand kann sich allein retten. Wir alle in der Kirche sind auf die konkreten Mittel angewiesen, die uns stärken: die Demut, die uns zugänglich macht für die Hilfe und den guten Rat; die Abtötung, die unser Herz bereit macht, damit Christus in ihm herrschen kann; das Studium der immer gültigen Lehre, das uns den Glauben bewahren und verbreiten hilft.

Heute und gestern

82 Die Liturgie des Palmsonntag legt den Christen diesen Gesang in den Mund: Weitet euch, ihr Tore, erhebt euch, ihr alten Pforten, daß einziehen kann der König der Herrlichkeit [Antiphon zur Austeilung der Zweige]. Wer sich in der Bastion seines Egoismus verschanzt, wird nicht das Schlachtfeld suchen. Wenn er freilich die Tore öffnet und den König des Friedens einläßt, wird er gemeinsam mit Ihm den Kampf aufnehmen gegen alles Erbärmliche, das den Blick trübt und das Gewissen stumpf macht.
Öffnet die alten Pforten. Diese Aufforderung zum Kampf ist nichts Neues im Christentum. Es ist die ewige Wahrheit. Ohne Kampf kein Sieg. Ohne Sieg kein Frieden.
Und ohne Frieden ist die Freude des Menschen nur Schein und Trug; sie bleibt unfruchtbar, sie drängt nicht dazu, den Menschen zu helfen, Werke der Liebe zu tun und der Gerechtigkeit, des Verzeihens und Erbarmens, des Dienens vor Gott.
Heute gewinnt man den Eindruck, daß viele, innerhalb wie außerhalb der Kirche, oben wie unten, zu kämpfen aufgehört haben, den persönlichen Krieg gegen das eigene Versagen eingestellt und sich in voller Waffenrüstung der Knechtschaft ausgeliefert haben, die die Seele erniedrigt. Diese Gefahr droht uns Christen immer.
Deshalb tut es not, die Allerheiligste Dreifaltigkeit inständig zu bitten, Sie möge sich unser aller erbarmen. Wenn ich von diesen Dingen spreche, erzittere ich beim Gedanken an die Gerechtigkeit Gottes. Doch ich nehme meine Zuflucht zu seiner Barmherzigkeit und seinem Erbarmen, damit Er nicht auf unsere Sünden schaue, sondern auf die Verdienste Christi und seiner heiligen Mutter – die auch unsere Mutter ist – und auf die Verdienste des heiligen Josef, der Ihm Vater war, und die Verdienste aller Heiligen.
Am heutigen Fest lesen wir in den Meßtexten, daß Gott den Christen bei der Hand nimmt. Wir alle können in dieser Gewißheit leben, wenn wir nur bereit sind zu kämpfen.
Jesus, der auf einem armseligen Esel in Jerusalem einzieht, Er, der König des Friedens, hat gesagt: Das Himmelreich erleidet Gewalt, und die Gewalt gebrauchen, reißen es an sich [Mt 11,12]. Diese Gewalt ist nicht gegen andere gerichtet. Sie ist die Stärke im Kampf gegen die eigenen Schwächen und Erbärmlichkeiten, der Mut, die persönlichen Treulosigkeiten nicht zu vertuschen, und die Kühnheit, den Glauben auch in feindseliger Umgebung zu bekennen.
Heute wie gestern wird vom Christen erwartet, daß er heroisch lebt. Heroisch, wenn es nötig ist, in den großen Kämpfen. Heroisch – und das wird das Normale sein – in den kleinen, alltäglichen Dingen. Wenn wir ohne Unterlaß kämpfen, aus Liebe und in dem, was scheinbar bedeutungslos ist, dann wird der Herr seinen Kindern zur Seite stehen wie ein liebevoller Hirte: Ich selbst werde meine Schafe weiden, ich selbst lasse sie lagern. Das Verirrte werde ich suchen, das Versprengte heimführen, das Verletzte verbinden, das Kranke stärken… Sie werden auf ihrer Heimatscholle in Sicherheit wohnen und erkennen, daß ich der Herr bin, wenn ich die Stangen ihres Joches zerbreche und sie aus der Gewalt derer befreie, die sie geknechtet haben [Ez 34,15-16; 27].

 «    DIE EUCHARISTIE, GEHEIMNIS DES GLAUBENS UND DER LIEBE    » 

(Homilie, gehalten am 14. April 1960, Gründonnerstag.)

83 Das Osterfest war nahe. Jesus wußte, daß seine Stunde gekommen sei, da Er aus der Welt zum Vater gehen sollte; und da Er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, so liebte Er sie bis ans Ende [Jo 13,1]. Diese Worte des heiligen Johannes sind für den Leser seines Evangeliums wie ein Signal: An diesem Tag wird etwas Großes geschehen. Sie sind eine Einstimmung auf das Kommende – gleich jenen, die der heilige Lukas in seinen Bericht aufnimmt: Sehnlichst, so versichert der Herr, habe ich danach verlangt, dieses Ostermahl mit euch zu halten, bevor ich leide [Lk 22,15]. Beginnen wir damit, den Heiligen Geist schon jetzt zu bitten, Er möge uns fähig machen, jedes Wort und jede Geste Jesu Christi zu begreifen: weil wir ein übernatürliches Leben führen wollen, weil der Herr uns seinen Willen kundgetan hat, sich als Nahrung für unsere Seelen hinzugeben, und weil wir erkennen, daß allein Er Worte des ewigen Lebens [Jo 6,69]hat.
Im Glauben bekennen wir mit Simon Petrus: Wir haben geglaubt und erkannt, daß Du der Christus bist, der Sohn des lebendigen Gottes [Jo 6,70]. Und eben dieser Glaube, mit unserer Frömmigkeit verschmolzen, läßt uns in diesen entscheidenden Augenblicken die Kühnheit von Johannes nachahmen: uns Jesus zu nähern und den Kopf an die Brust des Meisters zu lehnen [Vgl. Jo 13,25], der die Seinen mit brennender Liebe liebte und – wir haben es soeben gehört – bis ans Ende lieben wird.
Jeder Versuch, das Geheimnis des Gründonnerstag auch nur annähernd zu erklären, verrät nur unser Unvermögen. Aber es ist nicht so schwer zu ahnen, was das Herz Jesu Christi an jenem Abend empfand, dem letzten, den Er vor seinem Opfer auf KaIvaria mit den Seinen verbrachte.
Vergegenwärtigt euch einmal eine so menschliche Erfahrung wie den Abschied zweier Menschen, die sich lieben. Sie möchten für immer zusammen bleiben, aber die Pflicht, irgendeine Pflicht zwingt sie, auseinander zu gehen. Am liebsten würden sie sich niemals trennen, aber es steht nicht in ihrer Macht. Da die Liebe des Menschen, mag sie auch noch so groß sein, auf Grenzen stößt, muß sie sich hier mit Zeichen helfen, etwa mit einem Photo und darunter eine so glühende Widmung, daß man meinen könnte, das Papier müsse in Flammen aufgehen. Mehr können sie nicht tun, denn das Tun der Menschen reicht nicht so weit wie ihr Wollen.
Aber der Herr kann das, was wir nicht können. Jesus Christus, vollkommener Gott und vollkommener Mensch, hinterläßt uns nicht ein Zeichen, sondern eine Wirklichkeit: Er selbst ist es, der bleibt. Er wird zum Vater gehen und bei den Menschen bleiben. Er gibt uns nicht bloß ein Geschenk, das die Erinnerung an Ihn wachhalten soll, etwa ein Bild, dessen Konturen mit der Zeit verblassen, oder ein Photo, das vergilbt und denen belanglos erscheint, die damals nicht dabei waren. Er selbst ist wirklich gegenwärtig unter den Gestalten von Brot und Wein: gegenwärtig mit seinem Leib, seinem Blut, seiner Seele und seiner Gottheit.

Die Freude des Gründonnerstag

84 Wie leicht versteht sich jetzt der unablässige Lobpreis der Christen zu allen Zeiten vor der heiligen Hostie. Preise, Zunge, das Geheimnis dieses Leibs voll Herrlichkeit und des unschätzbaren Blutes, das der Herr der Völker, aus einer fruchtbaren Mutter geboren, zum Loskauf der Welt vergossen hat [Hymnus Pange lingua]. Den verborgenen Gott wollen wir ehrfürchtig anbeten [Vgl. Adoro te devote, Hymnus des Thomas von Aquin]. Es ist Jesus Christus, der aus Maria, der Jungfrau, geboren wurde, derselbe, der gelitten und sich am Kreuz geopfert hat, derselbe, aus dessen durchbohrter Seite Wasser und Blut flossen [Vgl. Ave verum].
Dies ist das heilige Gastmahl, in dem wir Christus selbst empfangen; das Gedächtnis seines Leidens wird erneuert, die Seele begegnet durch Ihn zuinnerst ihrem Gott und erhält ein Unterpfand der künftigen Herrlichkeit [VgI. Hymnus O sacrum convivium]. Die Liturgie der Kirche faßt so in kurzen Strophen die Höhepunkte dieser Geschichte der brennenden Liebe zusammen, die der Herr uns entgegenbringt.
Der Gott unseres Glaubens ist nicht ein entrücktes Wesen, das auf das Schicksal, auf die Not und das Elend der Menschen unbeteiligt herabschaut. Er ist ein Vater, der seine Kinder so sehr liebt, daß Er das Wort, die zweite Person der Heiligsten Dreifaltigkeit, in die Welt sendet, damit Es, Fleisch geworden, für uns sterbe und uns erlöse. Es ist derselbe liebende Vater, der uns jetzt sanft zu Christus hinzieht durch das Wirken des Heiligen Geistes, der in unseren Herzen wohnt.
Die Freude des Gründonnerstag hat hier ihre Wurzel: in der Erkenntnis, daß der Schöpfer sich in einem Oberfluß an Liebe seinen Geschöpfen zuneigt. Als ob all die vielen Beweise seiner Barmherzigkeit nicht genügten, setzt unser Herr Jesus Christus die Eucharistie ein, damit wir Ihm immer nahe sein können, und – soweit es hier überhaupt ein Begreifen gibt – weil die Liebe Ihn, dem nichts ermangelt, antreibt, nicht ohne uns zu bleiben. Die Dreifaltigkeit ist ganz in Liebe dem Menschen zugetan, der emporgehoben ist zur Ebene der Gnade, geschaffen nach ihrem Ebenbild und Gleichnis [Gn1,26]; Sie hat ihn von der Sünde erlöst – von der Sünde Adams, die auf seine ganze Nachkommenschaft übergegangen ist, und von den persönlichen Sünden jedes einzelnen – und Sie sehnt sich danach, in unserer Seele zu wohnen: Wer mich liebt, wird mein Wort halten, und mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen [Jo 14,23].

Die Eucharistie und das Geheimnis der Dreifaltigkeit

85 Dieser dreifaltige Strom der Liebe zu den Menschen dauert in erhabener Weise fort in der Eucharistie. Vor Jahren haben wir alle im Katechismus gelernt, daß die heilige Eucharistie als Opfer und als Sakrament betrachtet werden kann, und daß das Sakrament sich uns als Kommunion und als ein Schatz auf dem Altar erweist: im Tabernakel. Die Kirche widmet dem eucharistischen Geheimnis, dem Leib Christi, Corpus Christi – überall in der Welt im Tabernakel zugegen – ein weiteres Fest, Fronleichnam. Heute, am Gründonnerstag, wollen wir unsere Aufmerksamkeit auf die heilige Eucharistie, Opfer und Nahrung, in der heiligen Messe und in der heiligen Kommunion richten.
Ich sprach von einem dreifaltigen Strom der Liebe zu den Menschen. Wo sonst kommt er stärker zum Ausdruck als in der heiligen Messe? Die ganze Dreifaltigkeit wirkt beim heiligen Meßopfer mit. Deshalb gefällt mir jene Schlußformel im Altargebet, in der Sekret und der Postcommunio so sehr: Durch unsern Herrn Jesus Christus, Deinen Sohn – wir wenden uns ja an den Vater –, der mit Dir lebt und herrscht in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.
In der heiligen Messe wird das Gebet beständig an den Vater gerichtet. Der Priester ist Stellvertreter des ewigen Priesters, Jesus Christus, der zugleich das Opfer ist. Und das Wirken des Heiligen Geistes in der heiligen Messe ist ebenso geheimnisvoll wie gewiß.
Durch die Kraft des Heiligen Geistes, schreibt der heilige Johannes Damaszenus, wird die Verwandlung des Brotes in den Leib Christi bewirkt [Johannes Damaszenus, De fide orthodoxa, 13 (PG 194, 1139)].
Dieses Wirken des Heiligen Geistes kommt klar zum Ausdruck, wenn der Priester den göttlichen Segen auf die Opfergaben herabruft: Komm, Heiligmacher, allmächtiger, ewiger Gott und segne dieses Opfer, das Deinem heiligen Namen bereitet ist [Missale Romanum, (Offertorium: Anrufung des Heiligen Geistes)], das vollkommene Opfer, das dem hochheiligen Namen Gottes die schuldige Ehre erweisen wird. Die Heiligung, die wir erflehen, wird dem Tröster zugeschrieben, den uns der Vater und der Sohn senden. Wir bekennen ebenso die aktive Teilnahme des Heiligen Geistes beim Opfer, wenn wir kurz vor der Kommunion beten: Herr Jesus Christus, Sohn des lebendigen Gottes, dem Willen des Vaters gehorsam, hast Du unter Mitwirkung des Heiligen Geistes durch Deinen Tod der Welt das Leben geschenkt… [Missale Romanum, (Vorbereitungsgebet auf die Kommunion)]

86 Die ganze Dreifaltigkeit ist beim Opfer des Altares gegenwärtig. Dem Willen des Vaters gehorsam und unter Mitwirkung des Heiligen Geistes bringt sich der Sohn als Erlösungsopfer dar. Wir müssen den Umgang mit der Heiligsten Dreifaltigkeit, dem einen und dreipersönlichen Gott lernen, mit den drei göttlichen Personen. in der Einheit ihrer Wesenheit, ihrer Liebe, ihres wirksamen heiligmachenden Tuns.
Unmittelbar nach der Händewaschung betet der Priester: Heilige Dreifaltigkeit, nimm diese Opfergabe an, die wir Dir darbringen zum Andenken an das Leiden, die Auferstehung und die Himmelfahrt unseres Herrn Jesus Christus [Missale Romanum, (Offertorium: Aufopferungsgebet zur Allerheiligsten Dreifaltigkeit)]. Und am Ende der heiligen Messe flehen wir in liebender Unterwerfung den einen und dreieinigen Gott an: Placeat tibi, Sancta Trinitas, obsequium servitutis meae… Heiliger, dreieiniger Gott, nimm die Huldigung Deines Dieners wohlgefällig an. Laß das Opfer, das ich Unwürdiger vor den Augen Deiner Majestät dargebracht habe, Dir wohlgefällig sein, und gib, daß es mir und allen, für die ich es darbrachte, durch Dein Erbarmen zur Versöhnung gereiche [Missale Romanum, (Bitte um Annahme des Opfers vor dem Schlußsegen)].
Die heilige Messe – merken wir uns dies – ist ein göttliches, trinitarisches Handeln, nicht menschliches Tun. Der zelebrierende Priester unterstellt sich der Absicht des Herrn, indem er Ihm seinen Körper und seine Stimme leiht; aber er handelt nicht im eigenen Namen, sondern in persona et in nomine Christi, in der Person Christi und im Namen Christi.
Die Liebe der Dreifaltigkeit zu den Menschen bewirkt, daß aus der Gegenwart Christi in der Eucharistie für die Kirche und für die Menschheit alle Gnaden entströmen. Dieses ist das Opfer, das Malachias vorhersagte: Vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang ist mein Name groß unter den Völkern; und an jedem Ort bringt man meinem Namen ein demütiges Opfer dar und eine reine Gabe [Mal 1,11]. Es ist das Opfer Christi, das dem Vater unter Mitwirkung des Heiligen Geistes dargebracht wird: ein Opfer von unendlichem Wert, das in uns jene Erlösung verewigt, die die Opfer des Alten Bundes nicht bewirken konnten.

Die heilige Messe im Leben des Christen

87 Die heilige Messe führt uns so zu den grundlegenden Geheimnissen des Glaubens, denn sie ist das Geschenk der Dreifaltigkeit an die Kirche. Daher leuchtet es ein, daß sie Mitte und Wurzel im geistlichen Leben des Christen ist. Auf sie sind alle Sakramente hingeordnet [Vgl. Thomas von Aquin, S. Th., III, q. 65 a. 3]. Und das Leben der Gnade, das durch die Taufe in uns eingesenkt wurde und, durch die Firmung gestärkt, in uns wächst, geht durch die heilige Messe seiner Vollendung entgegen. Wenn wir an der Eucharistie teilnehmen, schreibt der heilige Cyrill von Jerusalem, erfahren wir die vergöttlichende Vergeistigung durch den Heiligen Geist, die uns nicht nur mit Christus gleichförmig macht, wie in der Taufe, sondern uns gänzlich verchristlicht, indem sie uns an der Fülle Jesu Christi teilhaben läßt [Cyrill von Jerusalem, Catecheses, 22, 3].
Die Ausgießung des Heiligen Geistes, die uns christusförmig macht, führt uns zu der Erkenntnis, daß wir Kinder Gottes sind. Der Tröster, der die Liebe ist, lehrt uns, auf diese Tugend unser ganzes Leben zu gründen; und consummati in unum [Jo 17,23], einsgeworden mit Christus, können wir unter den Menschen das sein, was nach dem heiligen Augustinus die Eucharistie ist: Zeichen der Einheit, Band der Liebe [Augustinus, In Ioannis Evangelium tractatus, 26, 13 (PL 35, 1613)].
Ich verrate nichts Neues, wenn ich sage, daß einige Christen eine sehr ärmliche Auffassung von der heiligen Messe haben; für manche ist sie bloß ein äußerer Ritus, manchmal nur eine gesellschaftliche Konvention. Denn unser Herz ist in seiner Erbärmlichkeit fähig, selbst das größte Geschenk Gottes an die Menschen routinemäßig zu empfangen. In der heiligen Messe, in dieser heiligen Messe, die wir jetzt feiern, wirkt – ich wiederhole es – die Heiligste Dreifaltigkeit auf eine besondere Weise. Nur mit voller Hingabe des Leibes und der Seele können wir eine solche Liebe erwidern: Wir hören Gott, wir sprechen mit Ihm, wir sehen Ihn, wir verkosten Ihn. Und wenn Worte nicht ausreichen, dann singen wir und lassen vor allen Menschen unsere Zunge – Pange, lingua! – die Großtaten des Herrn preisen.

88 Die heilige Messe feiern heißt, ununterbrochen im Gebet verharren; denn sie ist für jeden einzelnen von uns eine persönliche Begegnung mit Gott: Wir beten Ihn an, wir loben Ihn, wir flehen zu Ihm, wir sagen Ihm Dank, wir sühnen für unsere Sünden, wir läutern uns, wir wissen uns in Christus mit allen Christen vereint.
Vielleicht haben wir uns manchmal gefragt, womit wir so viel Liebe Gottes erwidern können; vielleicht haben wir dann auch den Wunsch nach einem klaren Leitfaden christlichen Lebens verspürt. Die Lösung ist einfach und jeder Gläubige kann sie verwirklichen: in Liebe die heilige Messe mitfeiern, in der heiligen Messe lernen, Gott zu begegnen; denn in diesem Opfer ist alles enthalten, was der Herr von uns will.
Ich möchte euch jetzt an etwas erinnern, das ihr oft genug selbst beobachtet habt: den Ablauf der liturgischen Zeremonien. Wenn wir ihnen Schritt für Schritt folgen, ist es sehr wohl möglich, daß der Herr einen jeden von uns entdecken läßt, worin wir uns bessern sollen, welche Fehler wir ausmerzen müssen, wie wir uns als Brüder aller Menschen verhalten sollen.
Der Priester wendet sich zum Altar Gottes, zu Gott, der uns erfreut von Jugend auf.
Die heilige Messe beginnt mit einem Ruf der Freude, denn Gott ist zugegen. Und diese Freude äußert sich, voll Verehrung und Liebe, im Küssen des Altartisches –ein Symbol für Christus und ein Gedenken an die Heiligen: ein kleiner, aber geheiligter Ort, da hier das Sakrament unendlicher Wirksamkeit vollzogen wird.
Das Confiteor führt uns unsere Erbärmlichkeit vor Augen; nicht eine abstrakte Erinnerung an unsere Schuld, sondern die konkrete Gegenwart unserer Sünden und unserer Fehler. Darum wiederholen wir: Kyrie eleison, Christe eleison. Herr, erbarme Dich unser, Christus erbarme Dich unser. Wäre die Vergebung, deren wir bedürfen, von unseren Verdiensten abhängig, so würden jetzt Trauer und Bitterkeit unsere Seele erfüllen. Aber dank der göttlichen Güte erhalten wir Vergebung durch das Erbarmen Gottes, den wir dann gleich preisen: Gloria! – Denn Du allein bist der Heilige, Du allein der Herr, Du allein der Höchste, Jesus Christus, mit dem Heiligen Geiste in der Herrlichkeit Gottes des Vaters.

89 Wir hören jetzt die Worte der Schrift, die Lesung und das Evangelium, die Licht des Heiligen Geistes sind, der zu uns in menschlichen Worten spricht, damit unser Verstand erkenne und betrachte, unser Wille sich festige und unser Tun gelinge. Denn wir sind ein einziges Volk, das einen einzigen Glauben, ein Credo bekennt, ein Volk, versammelt in der Einheit des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes [Cyprian, De dominica oratione, 23 (PL 4, 553)].
Es folgt die Opferung: Brot und Wein, Gaben der Menschen. Es ist nicht viel, aber wir verbinden sie mit unserem Gebet: Laß uns, Herr, im Geiste der Demut und mit zerknirschtem Herzen bei Dir Aufnahme finden. So werde unser Opfer heute vor Deinem Angesichte, auf daß es Dir wohlgefalle, Herr und Gott. Und abermals überkommt uns der Gedanke an unser Elend und der Wunsch, alles, was wir dem Herrn darbringen, möge rein und lauter sein: Ich will meine Hände waschen, ich liebe die Zierde Deines Hauses.
Bereits vor der Händewaschung hatten wir den Heiligen Geist angerufen und Ihn gebeten, Er möge das Opfer segnen, das seinem heiligen Namen dargebracht wird.
Gleich danach wenden wir uns an die Dreifaltigkeit –Suscipe Sancta Trinitas –, damit Sie die Opfergabe annehme, die wir zum Andenken an das Leben, das Leiden, die Auferstehung und die Himmelfahrt Christi, zu Ehren der allzeit reinen Jungfrau Maria und zu Ehren aller Heiligen darbringen.
Der Priester betet dann das Orate fratres, auf daß dieses Opfer allen zum Heile gereiche; denn es ist mein und euer Opfer, das der ganzen heiligen Kirche. Betet Brüder, auch wenn ihr euch nur zu wenigen zusammengefunden habt; auch wenn sichtbar nur ein einziger Christ zugegen wäre, ja selbst wenn der Priester allein wäre: denn jede Messe ist das universale Opfer, der Loskauf aller Stämme und Sprachen, aller Völker und Nationen [Vgl. Offb 5,9].
Durch die Gemeinschaft der Heiligen wird allen Christen die Gnade jeder heiligen Messe zuteil, ganz gleich, ob sie in Anwesenheit von Tausenden gefeiert wird, oder ob vielleicht nur ein Kind, noch dazu zerstreut, dem Priester die Messe dient. Immer vereinigen sich Himmel und Erde, um zusammen mit den Engeln Gottes einzustimmen: Sanctus, Sanctus, Sanctus…
Mein Lobpreis verbindet sich mit dem der Engel, denn ich weiß, daß sie mich umgeben – die Dreifaltigkeit anbetend –, wenn ich die heilige Messe feiere. Und ich weiß auch, daß Maria irgendwie mitwirkt auf Grund ihrer innigen Verbundenheit mit der Allerheiligsten Dreifaltigkeit und weil sie die Mutter Christi ist, seines Fleisches und Blutes; Jesus Christus, vollkommener Gott und vollkommener Mensch, hat Maria zur Mutter. Sie empfing Ihn ohne Zutun eines Mannes, einzig aus der Kraft des Heiligen Geistes, und sie gab Ihm das Blut, jenes Blut. das auf GoIgotha und in der heiligen Messe als Erlösungsopfer dargebracht wird.

90 Wir beginnen mit dem Hochgebet, in dem kindlichen Vertrauen, in dem wir unseren Vater Gott den gütigsten – clementissime Pater – nennen. Wir bitten Ihn für die Kirche und für alle in ihr, für den Papst, für unsere Familie, für unsere Freunde und Bekannten. Und hier bittet der katholische Christ mit einem weltweiten Herzen für die ganze Welt, denn nichts darf von unserem glühenden Eifer ausgeschlossen bleiben. Damit unser Bitten Gehör finde, gedenken wir der Gemeinschaft mit der glorreichen, allzeit jungfräulichen Gottesmutter Maria und mit jener Handvoll Menschen, die als erste Christus folgten und für Ihn starben.
Quam oblationem… Wir nähern uns nun dem Augenblick der Wandlung. Jetzt in der heiligen Messe ist es wiederum Christus, der durch den Priester handelt: Das ist mein Leib. Das ist der Kelch meines Blutes. – Jesus ist unter uns! Mit der Transsubstantiation wiederholt sich die grenzenlose göttliche Torheit der Liebe. Wenn heute dieser Augenblick kommt, wollen wir versuchen, jeder von uns, dem Herrn in unserem Herzen zu sagen, daß nichts uns von Ihm trennen soll, daß sein wehrloses Sichausliefern unter den gebrechlichen Gestalten von Brot und Wein uns freiwillig zu Sklaven gemacht hat: Praesta meae menti de te vivere, et te illi semper dulce sapere [Adoro te devote]. Gewähre mir, daß meine Seele aus Dir lebt und immerdar Deine Milde verspürt.
Neue Bitten schließen sich an – denn wir Menschen sind fast immer zum Bitten geneigt: für unsere verstorbenen Brüder, für uns selbst. Hier können wir all unsere Untreue und unsere Erbärmlichkeit einschließen, eine schwere Last, aber Er will sie für uns und mit uns tragen. Das Hochgebet endet mit einem erneuten Anruf der Heiligsten Dreifaltigkeit: per Ipsum, et cum Ipso, et in Ipso… durch Christus, mit Christus und in Christus, unserer Liebe, wird Dir, Gott, allmächtiger Vater , in der Einheit des Heiligen Geistes alle Ehre und Verherrlichung von Ewigkeit zu Ewigkeit.

91 Jesus ist der Weg, der Mittler; in Ihm besitzen wir alles ; ohne Ihn nichts. In Christus, und durch Ihn belehrt, wagen wir es, den Allmächtigen Vater unser zu nennen.
Er, der Himmel und Erde gemacht hat, ist dieser liebende Vater , der darauf wartet, daß wir immer wieder zu Ihm zurückkehren in der Haltung des verlorenen Sohnes.
Ecce Agnus Dei… Domine, non sum dignus… Wir werden den Herrn bald empfangen.
Zu einem würdigen Empfang hochangesehener Menschen gehören Licht, Musik, festliche Kleidung; und wie erst müssen wir uns vorbereiten, um Christus in unsere Seele aufzunehmen ? Haben wir schon einmal darüber nachgedacht, wie wir uns benehmen würden, wenn wir nur einmal in unserem Leben Christus empfangen könnten ?
Während meiner Kindheit war die häufige Kommunion noch nicht verbreitet. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, mit welcher Sorgfalt man Körper und Seele auf ihren Empfang vorbereitete: Man zog den besten Anzug an, wusch und kämmte sich besonders gut und gebrauchte vielleicht sogar ein wenig Parfum…; lauter Aufmerksamkeiten von Menschen, die es verstehen zu lieben und feinfühlig und stark Liebe mit Liebe zu vergelten.
Mit Christus in uns beenden wir die heilige Messe: Der Segen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes begleitet uns während des ganzen Tages bei unserer einfachen alltäglichen Aufgabe, alle gottgewollten menschlichen Tätigkeiten zu heiligen.
Bei der heiligen Messe werdet ihr lernen, wie man jeder einzelnen der göttlichen Personen begegnet: dem Vater , der den Sohn zeugt; dem Sohn, der aus dem Vater gezeugt ist; dem Heiligen Geist, der von beiden ausgeht. An welche der drei Personen wir uns auch richten, wir richten uns immer nur an den einen Gott; und indem wir uns an alle Drei in der Dreieinigkeit richten, richten wir uns in gleicher Weise an den einzigen und wahren Gott. Liebt die heilige Messe, meine Kinder, liebt die heilige Messe. Geht voll Verlangen zur Kommunion, auch wenn ihr innerlich kalt seid, auch wenn das Gefühl nicht antwortet: Kommuniziert mit Glauben, mit Hoffnung, mit brennender Liebe.

Umgang mit Jesus Christus

92 Der liebt Christus nicht, der die heilige Messe nicht liebt, der sich nicht anstrengt, sie ruhig und aufmerksam, andächtig und liebevoll mitzufeiern. Die Liebe macht die Liebenden feinfühlig; sie läßt sie kleine Aufmerksamkeiten entdecken, die manchmal kaum bemerkbar sind, aber immer von einem leidenschaftlichen Herzen zeugen. Auf diese Weise sollen wir die heilige Messe mitfeiern. Und deshalb habe ich immer den Verdacht, daß diejenigen, die sich die heilige Messe kurz und hastig wünschen, mit einer solchen – im übrigen wenig eleganten – Haltung verraten, daß sie die Bedeutung des heiligen Opfers noch nicht begriffen haben.
Die Liebe zu Christus, der sich für uns darbietet, drängt uns dazu, nach Beendigung der heiligen Messe für einige Minuten in persönlicher, intimer Danksagung zu verweilen, um in der Stille des Herzens jene andere Danksagung, welche die Eucharistie ist, zu verlängern. Wie aber sollen wir uns an Ihn wenden, wie Ihn ansprechen, wie uns verhalten?
Das christliche Leben entfaltet sich nicht nach starren Richtlinien; denn der Heilige Geist lenkt die Menschen nicht kollektiv, sondern Er schenkt jedem einzelnen jene Vorsätze, Eingebungen und Regungen, die ihm helfen werden, den Willen des Vaters zu erkennen und zu erfüllen. Ich denke jedoch, daß oft während der Danksagung nach der heiligen Messe der Kern unseres Gespräches mit Christus der Gedanke sein kann, daß für uns der Herr König, Arzt, Lehrer und Freund ist.

93 Er ist König und will in unseren Herzen, den Herzen der Kinder Gottes, herrschen.
Denken wir aber nicht an eine Herrschaft wie unter Menschen, so als wolle Christus uns beherrschen, noch sucht Er sich aufzudrängen, denn Er ist nicht gekommen, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen [Mt 20,28].
Seine Herrschaft ist der Frieden, die Freude, die Gerechtigkeit. Christus, unser König, erwartet von uns nicht leere Beteuerungen, sondern Taten, denn nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters im Himmel tut, der wird eingehen [Mt 7,21].
Er ist Arzt und heilt unseren Egoismus, wenn wir seine Gnade bis ins tiefste unserer Seele eindringen lassen. Jesus hat uns gemahnt, daß die schlimmste Krankheit die Heuchelei ist, jener Stolz, der uns dazu bringt, die eigenen Sünden zu verhehlen. Beim Arzt ist eine absolute Aufrichtigkeit unerläßlich; es gilt, die Wahrheit lückenlos aufzudecken und zu sagen: Domine, si vis, potes me mundare [Mt 8,2], Herr, wenn Du willst – und Du willst immer –, kannst Du mich heilen. Du kennst meine Gebrechen; ich spüre diese Symptome, ich leide an jenen Schwächen; und wir zeigen Ihm einfach unsere Geschwüre und auch den Eiter, wenn es ihn gibt. Herr, Du hast ja so viele Menschen geheilt: Laß mich Dich als göttlichen Arzt erkennen, wenn ich Dich im Herzen habe oder Dich im Tabernakel anbete.
Er ist Lehrer einer Wissenschaft, die nur Er beherrscht: die Wissenschaft der grenzenlosen Liebe zu Gott und, in Gott, zu allen Menschen. In der Schule Christi lernen wir , daß unser Dasein nicht uns gehört: Er gab sein Leben für alle Menschen hin, und wenn wir Ihm nachfolgen, müssen wir begreifen, daß wir nicht egoistisch unser Leben für uns behalten, noch der Not der anderen aus dem Wege gehen dürfen. Unser Leben haben wir von Gott, und wir müssen es in seinem Dienst einsetzen, indem wir uns großzügig um die Menschen kümmern und ihnen mit Wort und Beispiel die Tragweite der christlichen Lehre zeigen.
Jesus erwartet, daß wir aufrichtig wünschen, uns diese Wissenschaft anzueignen, damit Er auch an uns die Worte richten kann: Wen dürstet, der komme zu mir und trinke [Jo 7,37]. Und wir antworten: Lehre uns, uns selbst zu vergessen, damit wir an Dich und an alle Menschen denken. So wird uns der Herr mit seiner Gnade voranbringen, ähnlich wie damals, als wir – noch kleine Kinder – schreiben lernten: Erinnert ihr euch noch, wie der Lehrer uns die Hand führte? Und wir werden uns immer mehr daran freuen, unseren Glauben, dieses Geschenk Gottes, durch unmißverständliche Züge einer christlichen Lebensführung, an denen alle Menschen die Großtaten Gottes ablesen können, bekannt zu machen.
Christus ist ein Freund, der Freund. Vos autem dixi amicos [Jo 15,15], sagt Er. Er nennt uns Freunde, Er, der den ersten Schritt getan hat; Er, der uns zuerst geliebt hat. Dennoch drängt Er uns seine Liebe nicht auf: Er bietet sie uns an und stellt seine Freundschaft deutlich unter Beweis: Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde [Jo 15,13]. Er war der Freund des Lazarus und weinte um ihn, als Er sah, daß er tot war: und Er erweckte ihn auf. Wenn Er uns kalt und lustlos sieht oder vielleicht sogar in unserem Innenleben so erstarrt, daß es abzusterben droht, dann wird sein Weinen für uns Leben sein: Ich befehle dir, mein Freund, steh auf und gehe [Vgl. Jo 11,43; Lk 5,24], laß dieses Leben, das kein Leben ist, hinter dir.

94 Die Zeit unserer Betrachtung am Gründonnerstag geht zu Ende. Wenn der Herr uns geholfen hat – und Er ist immer bereit dazu, wenn wir Ihm nur unser Herz öffnen –, werden wir uns gedrängt fühlen, Ihm eine Antwort zu geben im Allerwichtigsten: in der Liebe. Und es wird uns gelingen, durch ein Leben des Dienens diese Liebe an die Menschen weiterzugeben. Ich habe euch ein Beispiel gegeben [Jo 13,15], sagt Jesus im Kreise seiner Jünger nach der Fußwaschung in der Abendmahlsnacht. Verbannen wir Stolz, Ehrgeiz und Herrschsucht aus unserem Herzen; dann werden Frieden und Freude, verwurzelt in unserem persönlichen Opfer, um uns und in uns herrschen.
Wenden wir uns zum Schluß wie Kinder vertrauensvoll an Maria, die Mutter Gottes und unsere Mutter. Entschuldigt, wenn ich noch einmal eine Kindheitserinnerung aufgreife: ein Bild, das in meiner Heimat sehr verbreitet war , als der heilige Pius X. die häufige Kommunion angeregt hatte; es zeigte Maria in Anbetung vor der heiligen Hostie. Heute, wie damals und wie immer, lehrt uns Unsere Liebe Frau den Umgang mit Jesus, Ihn zu erkennen und Ihn immer wieder im Alltag zu finden – besonders aber während des erhabenen Augenblicks der heiligen Messe, wo sich Zeit und Ewigkeit vereinen: Jesus zieht in der Haltung des Ewigen Priesters alles an sich, um es divino afflante Spiritu, im Hauch des Heiligen Geistes, in die Gegenwart Gottes des Vaters zu bringen.

 «    DER TOD CHRISTI, DAS LEBEN DES CHRISTEN    » 

(Homilie, gehalten am 15. April 1960, Karfreitag.)

95 Diese Woche, die "Heilige Woche", wie sie das christliche Volk mancherorts auch nennt, gibt uns wieder einmal Gelegenheit, die Stunden zu betrachten – sie uns lebendig zu vergegenwärtigen –, in denen sich das Leben Jesu vollendet. Alles, was uns in diesen Tagen die Frömmigkeit in all ihren Formen vor Augen führt, weist darauf hin, daß am Ende des Leidensweges die Auferstehung steht, die nach dem heiligen Paulus das Fundament unseres Glaubens ist [Vgl. 1 Kor 15,14]. Jedoch sollten wir diesen Weg nicht zu eilig gehen; wir sollten eine sehr einfache Wahrheit nicht vergessen, die wir manchmal vielleicht übersehen: Wir werden an der Auferstehung des Herrn nicht teilhaben können, wenn wir uns nicht mit seinem Leiden und seinem Tod vereinen [Vgl. Röm 8,17], Damit wir Christus in seine Herrlichkeit, bis ans Ende der Karwoche, begleiten können, müssen wir zuerst sein Opfer begreifen und uns eins mit Ihm fühlen – mit Ihm, der tot am Kreuz hängt.
Der großmütigen Hingabe Christi steht die Sünde gegenüber, diese Wirklichkeit, die schwer aber unleugbar ist: das mysterium iniquitatis, die unerklärliche Bosheit des Geschöpfes, das sich aus Stolz gegen Gott erhebt. Die Geschichte ist so alt wie die Menschheit selber. Da ist der Sündenfall unserer Stammeltern, dann die ganze Schlechtigkeit, die den Weg der Menschheit säumt, und schließlich unser persönliches Aufbegehren. Es ist kaum möglich, die Verderbnis, die in der Sünde liegt, zu ermessen und die Aussagen des Glaubens darüber voll zu erfassen. Wir müssen bedenken, daß selbst unter uns Menschen die Schwere einer Beleidigung nach der Stellung des Beleidigten, seiner Persönlichkeit, seinem Ansehen und seinen Fähigkeiten gemessen wird. Und durch die Sünde beleidigt der Mensch Gott: das Geschöpf verleugnet seinen Schöpfer.
Doch Gott ist die Liebe [Jo 4,8]. Der Abgrund an Schlechtigkeit, den die Sünde bedeutet, ist durch eine unendliche Liebe überbrückt worden. Gott gibt den Menschen nicht auf.
Nach dem göttlichen Heilsplan reichen die Opfer des Alten Bundes nicht aus, um unsere Sünden wieder gutzumachen und die verlorene Einheit wiederherzustellen. Es war notwendig, daß sich ein Mensch hingab, ein Mensch, der Gott ist. Um in etwa diesem unerforschlichen Geheimnis näher zu kommen, können wir uns vorstellen, wie die Heiligste Dreifaltigkeit, stets in innigstem Austausch unendlicher Liebe verbunden, Rat hält und seit Ewigkeit beschließt, daß der eingeborene Sohn Gottes Menschengestalt annimmt, unser Elend und unseren Schmerz auf sich lädt und ans Kreuzesholz genagelt wird.
Der brennende Wunsch, den erlösenden Ratschluß Gottes des Vaters zu erfüllen, bestimmt das ganze Leben Christi von seiner Geburt in Bethlehem an. Während der drei Jahre in seiner Nähe hören die Jünger Ihn unermüdlich wiederholen, daß es seine Speise ist, den Willen dessen zu tun, der Ihn sendet [Vgl. 1Jo 4,34]. Bis sich am Nachmittag des ersten Karfreitag sein Opfer vollendet. Dann neigte Er das Haupt und gab seinen Geist auf [Jo 19,30]. Mit diesen Worten beschreibt uns der heilige Johannes den Tod Christi: Unter der Last des Kreuzes, beladen mit aller Schuld der Menschen, stirbt Jesus für unsere schwere und schändliche Sündenschuld.
Betrachten wir den Herrn, am ganzen Leib geschunden aus Liebe zu uns. Vor Jahrhunderten schrieb ein geistlicher Autor ein Wort, das der Wirklichkeit nahekommt, auch wenn es sie nicht ganz erfaßt: Der Leib des Herrn ist ein Schaubild der Schmerzen.
Vor diesem zerfetzten Christus, vor dem leblosen Körper, vom Kreuz herabgenommen und der Mutter übergeben, vor diesem zerstörten Jesus könnte man zu dem Schluß gelangen, dieses Geschehen sei klarster Beweis eines Scheiterns. Wo sind die vielen, die Ihm folgten? Und wo ist das Königreich, dessen Herannahen Er ankündigte? Und dennoch ist es kein Scheitern, sondern Sieg. Jetzt ist Christus der Auferstehung näher als je zuvor, dem Offenbarwerden der Herrlichkeit, die Er mit seinem Gehorsam errungen hat.

Der Tod Christi ruft uns zu einem ganz und gar christlichen Leben

96 Wir haben uns das Drama von Kalvaria vergegenwärtigt, das ich die erste und ursprüngliche heilige Messe nennen möchte, gefeiert von Jesus Christus selbst. Gott der Vater gibt seinen Sohn dem Tode preis. Jesus, der eingeborene Sohn, umarmt das Kreuz, das Werkzeug der Hinrichtung, und sein Opfer wird vom Vater angenommen: Als Frucht des Kreuzes ergießt sich der Heilige Geist über die Menschheit [Vgl Röm 3, 24 ff.; Hebr 10,5 ff.; Jo 7,39].
In der Tragödie des Leidens Christi erfüllen sich unser eigenes Leben und die Geschichte der ganzen Menschheit. Die Karwoche kann nicht bloße Erinnerung sein, denn sie führt uns das Geheimnis Christi vor Augen, das sich in unseren Seelen fortsetzt; der Christ ist aufgerufen, alter Christus, ipse Christus, ein anderer Christus, Christus selbst zu sein. Durch die Taufe sind wir alle zu Priestern unseres eigenen Daseins bestellt worden: um geistige Opfer darzubringen, die durch Jesus Christus Gott wohlgefällig sind [Petr 2,5], damit wir jede unserer Handlungen im Geiste des Gehorsams gegenüber dem göttlichen Willen verrichten und so die Sendung des Gott-Menschen fortsetzen.
Aber gerade vor diesem Hintergrund heben sich unsere Fehler und Untaten besonders deutlich ab. Doch das darf uns nicht den Mut nehmen, noch in die Arme derjenigen treiben, die keine Ideale mehr haben. Denn der Herr will uns so, wie wir sind, damit wir an seinem Leben teilnehmen und kämpfen, um heilig zu werden. Heiligkeit: wie oft sprechen wir dieses Wort aus, als ob es eine leere Hülse wäre. Für viele ist sie sogar ein unerreichbares Ideal, ein asketischer Gemeinplatz, aber nicht ein konkretes Ziel und eine lebendige Wirklichkeit. So dachten die ersten Christen nicht, die sich oft und ganz selbstverständlich mit "Heiliger" anredeten: Euch grüßen alle Heiligen [Röm 16,15], grüßt jeden Heiligen in Christus Jesus [Phil 14,21].
Jetzt, angesichts des Kalvarienberges, da Jesus schon gestorben ist und sich sein herrlicher Triumph noch nicht erwiesen hat, bietet sich uns eine günstige Gelegenheit, unseren Wunsch nach einem christlichen Leben und nach Heiligkeit zu prüfen, mit einem Akt des Glaubens auf unsere Erbärmlichkeit zu antworten und im Vertrauen auf die Macht Gottes den Vorsatz zu fassen, die alltäglichen Dinge mit Liebe zu tun. Die Erfahrung der Sünde muß uns schmerzen und zu einem reiferen und tieferen Entschluß führen, treu zu sein, wirklich mit Christus eins zu werden und – koste es, was es wolle – in jener priesterlichen Sendung auszuharren, die Er allen seinen Jüngern aufgetragen hat, und die uns antreibt, Salz und Licht der Welt zu sein [Vgl. Mt 5,13-14].

97 Der Gedanke an den Tod Christi verwandelt sich in eine Einladung, uns mit ganzer Aufrichtigkeit unserem Alltag zuzuwenden und den Glauben, den wir bekennen, ernst zu nehmen. Die Karwoche darf deshalb nicht ein sakrales Einschiebsel im Ganzen eines sonst nach rein irdischen Interessen ausgerichteten Lebens sein, sie muß vielmehr dazu führen, daß wir uns in die unermeßliche Liebe Gottes versenken, um diese Liebe dann den Menschen in Wort und Tat kundtun zu können.
Aber der Herr stellt Bedingungen. Wir können nicht über jenes Wort hinwegsehen, das uns der heilige Lukas überliefert: Wenn jemand zu mir kommt, aber Vater und Mutter und Frau und Kind und Bruder und Schwester, ja auch sich selbst nicht haßt, So kann er nicht mein Jünger sein [Lk 14,26]. Das sind harte Worte. Gewiß, unser "hassen" und "sich lossagen" geben den ursprünglichen Gedanken Jesu nicht exakt wieder. Die Worte des Herrn sind jedenfalls klar und hart und lassen sich auch nicht auf ein weniger lieben reduzieren, wie sie manchmal verwässert und entschärft interpretiert werden. Diese so schneidenden Worte sind nicht deshalb so erschreckend, weil eine ablehnende oder unbarmherzige Haltung dahinter stünde, ist doch der Jesus, der hier spricht, derselbe, der dazu auffordert, den Nächsten zu lieben wie sich selbst, und der sein Leben für die Menschen hingibt. Diese Worte zeigen ganz einfach, daß Gott sich nicht mit Halbheiten zufrieden gibt. Man könnte sie etwa mit mehr lieben, besser lieben übersetzen, das heißt, nicht mit einer egoistischen oder billigen Liebe zu lieben: Wir müssen mit der Liebe Gottes lieben.
Darum geht es. Betrachten wir die letzte der Forderungen Jesu: et animam suam.
Das Leben, die Seele selbst fordert der Herr. Wenn wir töricht sind, nur auf unsere eigene Bequemlichkeit bedacht, wenn wir das Dasein der anderen, ja die ganze Welt nur auf uns beziehen, dann haben wir kein Recht, uns Christen zu nennen und uns für Jünger Christi zu halten. Es geht um eine Hingabe mit Taten und in Wahrheit, nicht nur mit Worten [1 Jo 3,18].
Die Liebe zu Gott fordert uns auf, das Kreuz auf uns zu nehmen, auf unseren Schultern die Last der ganzen Menschheit zu spüren und unter den Lebensbedingungen des eigenen Standes und unserer Arbeit die klaren und liebevollen Willensäußerungen unseres Vaters zu erfüllen. Denn der Herr setzt seine Rede fort: Wer sein Kreuz nicht trägt und mir nicht nachfolgt, kann nicht mein Jünger sein [Lk 14,27].
Bejahen wir ohne Angst den Willen Gottes, fest entschlossen, unser ganzes Leben nach der Lehre und den Forderungen unseres Glaubens auszurichten. Mit Sicherheit werden wir auf Leid, Kampf und Schmerz stoßen, doch wenn wir wirklich glauben, werden wir uns nie unglücklich vorkommen: Mitten im Schmerz, ja selbst in Verleumdungen, werden wir ein Glück empfinden, das uns dazu drängt, die anderen zu lieben, damit auch sie an unserer übernatürlichen Freude teilhaben.

Der Christ und die Geschichte der Menschheit

98 Christsein bedeutet nicht Anspruch auf rein persönliche Befriedigung: Name und Inhalt zielen auf eine Sendung. Wir haben schon gesehen, daß der Herr alle Christen auffordert, Salz und Licht der Welt zu sein. Der heilige Petrus wiederholt diesen Auftrag und beschreibt ihn sehr klar mit Worten aus dem Alten Testament: Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein gotthöriges Volk. Ihr sollt die herrlichen Taten dessen verkünden, der euch aus der Finsternis zu seinem wunderbaren Licht berufen hat [1 Petr 2,9].
Christsein ist keine Nebensache, sondern eine gottgewollte Wirklichkeit, die unser Innerstes erfaßt und uns den klaren Blick und den entschiedenen Willen gibt, so zu handeln, wie Gott es will. So lernen wir, daß die Pilgerschaft des Christen in der Welt sich in einen ständigen Dienst verwandeln muß, der zwar verschieden geartet ist, je nach den persönlichen Umständen, aber immer aus Liebe zu Gott und zum Nächsten geleistet wird.
Christsein ist ein Tun, das nicht an kleinliche, von Ansehen und Ehrgeiz diktierte Ziele denkt, oder an solche, die als höher gelten können, wie etwa die Philanthropie oder das Mitleid mit der Not der anderen; es ist das Vordringen bis zum Äußersten einer radikalen Liebe, die Christus bezeugte, als Er für uns starb.
Manche Lebenshaltungen verraten ein Unvermögen, in dieses Geheimnis Christi einzudringen. So ist es zum Beispiel bei jenen, die im Christsein nur ein Bündel von Andachten oder Frömmigkeitsübungen sehen, ohne zu begreifen, daß es die Situationen des täglichen Lebens, ein Gespür für die Not der anderen und die Beseitigung der Ungerechtigkeit einschließt.
Mir scheint, daß Menschen mit dieser Mentalität noch nicht begriffen haben, was es bedeutet, daß der Sohn Gottes Mensch geworden ist, daß Er Leib, Seele und Stimme des Menschen angenommen und unser Los bis zur letzten Zerreißprobe des Todes geteilt hat.
Vielleicht betrachten manche unbewußt Christus als einen Fremdling unter den Menschen.
Andere wiederum neigen zu der Meinung, das christliche Dogma müsse, um für die Menschen akzeptabel zu sein, in einigen wesentlichen Aussagen abgeschwächt werden; sie tun so, als ob das Gebetsleben und der ständige Umgang mit Gott eine Flucht vor der Verantwortung und ein Verlassen der Welt seien. Sie vergessen, daß es gerade Jesus war, der uns zeigte, bis zu welchem Grad Lieben und Dienen gehen müssen. Nur wenn wir versuchen, das Geheimnis der Liebe Gottes zu verstehen – einer Liebe bis zum Tode –, werden wir fähig, ganz für die anderen da zu sein, ohne daß Schwierigkeiten oder Gleichgültigkeit uns etwas anhaben können.

99 Es ist der Glaube an den gestorbenen und auferstandenen Christus, immer und in jedem Augenblick unseres Lebens gegenwärtig, der unser Gewissen erleuchtet und uns antreibt, an den Aufgaben und Problemen der Menschheitsgeschichte teilzunehmen. In dieser Geschichte, die mit der Erschaffung der Welt ihren Anfang nahm und mit der Vollendung der Zeiten enden wird, ist der Christ kein Heimatloser; er ist Bürger der irdischen Stadt, seine Seele ist erfüllt von dem Verlangen nach Gott, dessen Liebe er schon jetzt zu ahnen beginnt und in dem er das Ziel erkennt, zu dem alle Menschen berufen sind.
Was mein persönliches Zeugnis anbelangt, möchte ich sagen, daß ich meine Arbeit als Priester und Seelsorger immer als die Aufgabe verstanden habe, jeden einzelnen uneingeschränkt mit den Forderungen seines Lebens zu konfrontieren, ihm zu helfen, herauszufinden, was Gott konkret von ihm verlangt, ohne die Unabhängigkeit und Eigenverantwortung, die ein christliches Gewissen charakterisieren, in irgendeiner Weise anzutasten. Diese Einstellung gründet auf dem Respekt vor der Tragweite der geoffenbarten Wahrheit und auf der Liebe zur Freiheit des Menschen. Es ließe sich hinzufügen, daß sie auch auf der Gewißheit beruht, daß die Geschichte nicht determiniert, sondern offen ist für vielfältige Möglichkeiten, die Gott nicht einengen will.
Christus nachfolgen bedeutet nicht, sich in den Tempel flüchten und angesichts der Entwicklung der Gesellschaft, der Ruhmes- oder Greueltaten der Menschen und Völker die Achseln zucken. Nein, der christliche Glaube führt uns dazu, die Welt als Schöpfung des Herrn zu sehen und deshalb alles Edle und Schöne zu schätzen, die Würde eines jeden Menschen – als Ebenbild Gottes – anzuerkennen und die Freiheit als das ganz besondere Geschenk zu bewundern, das uns zum Herrn unseres Handelns macht und uns – mit der Gnade Gottes – unser ewiges Los bestimmen läßt.
Es hieße den Glauben verstümmeln, wollte man ihn auf eine diesseitige Ideologie beschränken, wollte man ihn zum Wahrzeichen eines politisch-religiösen Programms machen und in seinem Namen, aufgrund einer unerfindlichen göttlichen Bevollmächtigung, andere verurteilen, und dies nur, weil sie anders in Fragen denken, die ihrem Wesen nach vielfältige Lösungen erlauben.

Den Sinn des Todes Christi tiefer erfassen

100 Diese Abschweifung in unseren Überlegungen sollte uns auf eine zentrale Wahrheit hinweisen: Das christliche Leben findet seinen Sinn in Gott. Die Menschen sind nicht dazu erschaffen worden, einzig und allein eine gerechte Welt aufzubauen; über das hinaus sind wir auf Erden, um in die Gemeinschaft mit Gott selbst einzutreten. Jesus hat uns weder zeitliches Wohlergehen noch die irdische Herrlichkeit versprochen, sondern das Haus Gottes des Vaters, das uns am Ende des Weges erwartet [Vgl. Jo 14,2].
Die Liturgie des Karfreitag enthält einen herrlichen Hymnus, das Crux fidelis. Wir werden darin aufgefordert, den glorreichen Kampf des Herrn, den Sieg des Kreuzes, den Triumph Christi zu besingen und zu feiern: Der Erlöser des Universums siegt durch sein Opfer. Gott, der Herr alles Geschaffenen, versichert uns seiner Gegenwart nicht mit Waffengewalt und auch nicht mit der irdischen Macht der Seinen, sondern mit der Größe seiner unendlichen Liebe.
Der Herr zerstört nicht die Freiheit des Menschen: Gerade Er hat uns ja frei gemacht.
Darum will Er keine erzwungene Antwort, Er will Entscheidungen, die aus der Tiefe des Herzens kommen. Und Er erwartet von uns Christen ein Leben, das alle Menschen in unserer Nähe trotz unserer Erbärmlichkeiten, Fehler und Unzulänglichkeiten den Widerhall des Dramas auf Golgotha vernehmen läßt. Alles, was wir besitzen, haben wir von Gott empfangen, damit wir Salz seien, das Kraft verleiht, und Licht, das den Menschen die frohe Botschaft bringt von Ihm, der unser Vater ist und ohne Maß liebt. Der Christ ist Salz und Licht der Welt, nicht weil er siegen oder triumphieren würde, sondern weil er Zeugnis von der Liebe Gottes gibt. Und er wird kein Salz sein, wenn er nicht zum Salzen taugt; er wird kein Licht sein, wenn er nicht durch sein Beispiel und durch sein Wort Zeugnis von Jesus ablegt, wenn er also das verliert, was den Grund seines Daseins ausmacht.

101 Wir sollten, ohne bei Äußerlichkeiten oder Gemeinplätzen stehen zu bleiben, uns in das vertiefen, was uns der Tod Christi enthüllt. Es ist nötig, sich ganz in die Szenen hineinzuversetzen, die wir während dieser Tage neu durchleben: den Schmerz Christi, die Tränen seiner Mutter, die Flucht der Jünger, die Tapferkeit der heiligen Frauen, den Mut Josephs von Arimathäa und Nikodemus', die von Pilatus den Leichnam Jesu erbitten.
Mit einem Wort: versuchen wir, dem toten Jesus nahe zu kommen, dem Kreuz, das sich auf GoIgotha erhebt. Aber nähern wir uns in Aufrichtigkeit und im Bemühen um jene innere Sammlung, die Zeichen christlicher Reife ist. Die Ereignisse der Passion – so menschlich und göttlich zugleich – werden in die Seele wie Worte eindringen, die Gott an uns richtet, um uns im Innersten unseres Herzens aufzurütteln und uns zu enthüllen, was Er von uns erwartet.
Vor Jahren sah ich ein Bild, das sich mir tief eingeprägt hat. Es zeigte das Kreuz Christi und bei dem Holze drei Engel: Einer weinte untröstlich, ein anderer hielt einen Nagel in der Hand, als wolle er sich selbst von der Wirklichkeit des Geschehens überzeugen, und der dritte war ins Gebet versunken. Für jeden von uns ein immergültiges Programm: Weinen, Glauben, Beten.
Vor dem Kreuz also: Schmerz über unsere Sünden, über die Sünden der Menschheit, die Jesus den Tod brachten; Glauben, um uns der erhabenen Wahrheit zu nähern, die alles Begreifen übersteigt und uns angesichts der Liebe Gottes verstummen läßt; Gebet, damit Leben und Tod Christi Vorbild und Anstoß für unser Leben und unsere Hingabe werden. Nur so können wir uns Sieger nennen, weil der erstandene Christus in uns siegen und der Tod sich in Leben verwandeln wird.

 «    CHRISTI GEGENWART IN DEN CHRISTEN    » 

(Homilie, gehalten am 26. März 1967, Ostersonntag.)

102 Christus lebt. Christus lebt. Das ist die Wahrheit, die unseren Glauben mit Inhalt erfüllt. Jesus, der am Kreuz starb, ist auferstanden, Er hat über den Tod gesiegt, über die Macht der Finsternis, über den Schmerz und die Angst. Fürchtet euch nicht, diesen Gruß entbot der Engel den Frauen, die zum Grabe gingen. Fürchtet euch nicht! Ihr sucht Jesus von Nazareth, den Gekreuzigten. Er ist auferstanden, Er ist nicht hier [Mk 16,6 (Evangelium aus der Messe vom Ostersonntag)]. Haec est dies quam fecit Dominus, exsultemus et laetemur in ea, das ist der Tag, den der Herr gemacht hat, da laßt uns frohlocken und fröhlich sein [Ps 118,24 (Graduale derselben Messe)].
Die österliche Zeit ist eine Zeit der Freude, einer Freude, die sich nicht auf diesen Abschnitt des liturgischen Jahres beschränkt, sondern die in jedem Augenblick das Herz des Christen erfüllt. Denn Christus lebt, Christus ist nicht eine Gestalt, die vorübergegangen ist, die einmal lebte und dann verschwand und uns nur eine wunderbare Erinnerung und ein ergreifendes Beispiel hinterließ.
Nein, Christus lebt. Jesus ist der Emmanuel: Gott mit uns. Seine Auferstehung bekundet uns, daß Gott die Seinen nicht im Stich läßt. Vergißt wohl ein Weib ihren Säugling, eine Mutter den Sohn ihres Schoßes? Mögen auch diese vergessen: Ich aber vergesse dich nicht [Is 49,14-15], hatte Er verheißen. Und Er hat seine Verheißung erfüllt. Gott findet seine Wonne unter den Menschenkindern [Vgl. Spr 8,31].
Christus lebt in seiner Kirche. "Ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, daß ich hingehe. Denn wenn ich nicht hingehe, kommt der Beistand nicht zu euch; wenn ich aber hingehe, werde ich Ihn euch senden" [Jo 16,7]. Das war der Plan Gottes: Durch seinen Tod am Kreuz gab Christus uns den Geist der Wahrheit und des Lebens. Christus lebt fort in seiner Kirche, in ihren Sakramenten, in ihrer Liturgie, in ihrer Verkündigung, in all ihrem Tun.
Insbesondere bleibt Christus unter uns gegenwärtig in der Eucharistie, wo Er sich Tag für Tag hingibt. Darum ist die heilige Messe Mitte und Wurzel des christlichen Lebens.
In jeder Messe ist immer der ganze Christus anwesend, Haupt und Leib. Per Ipsum, et cum Ipso, et in Ipso. Denn Christus ist der Weg, der Mittler; in Ihm finden wir alles, ohne Ihn bleibt unser Leben leer. In Christus und belehrt durch Ihn, wagen wir zu sprechen – audemus dicere –: Pater noster, Vater unser. Wir wagen, den Herrn des Himmels und der Erde Vater zu nennen.
Die Gegenwart des lebendigen Christus in der Hostie ist Unterpfand, Wurzel und Erfüllung seiner Gegenwart in der Welt.

103 Christus lebt im Christen. Der Glaube sagt uns, daß der Mensch im Zustand der Gnade vergöttlicht ist. Wir sind Menschen, keine Engel, Geschöpfe aus Fleisch und Blut, mit einem Herzen und voll Leidenschaften, voll Freude und voll Schmerz. Doch die Vergöttlichung wirkt sich auf den ganzen Menschen aus als Vorwegnahme seiner glorreichen Auferstehung. Nun aber ist Christus von den Toten auferstanden. Er ist der Erstling der Entschlafenen. Durch einen Menschen ist der Tod gekommen. Durch einen Menschen kommt die Auferstehung der Toten. Denn wie in Adam alle dem Tod verfallen sind, so werden in Christus alle das Leben haben [1 Kor 15,20-22].
Das Leben Christi ist unser Leben, getreu der Verheißung an die Apostel beim Letzten Abendmahl: Wer mich liebt, bewahrt mein Wort,. mein Vater wird ihn lieben, und wir werden zu ihm kommen und Wohnung bei ihm nehmen [Jo 14,23]. Der Christ muß daher leben gemäß dem Leben Christi, muß fühlen wie Christus, so daß er mit dem heiligen Paulus ausrufen kann: Non vivo ego, vivit vero in me Christus [Gal 2,20], nicht mehr ich lebe, Christus lebt in mir.

Christus, Fundament des christlichen Lebens

104 Ich wollte, wenn auch nur kurz, an einige Aspekte des Lebens Christi heute erinnern –Jesus Christus heri et hodie: ipse et in saecula [Hebr 13,8] –, denn hier ist das Fundament des ganzen christlichen Lebens. Wenn wir uns umschauen und den Verlauf der Menschheitsgeschichte betrachten, sehen wir manchen Fortschritt. Die Wissenschaft hat dem Menschen ein deutlicheres Bewußtsein seiner Macht gegeben. Die Technik beherrscht die Natur besser als in früheren Zeiten, und sie gestattet der Menschheit den Traum von einer höheren Kultur, einem größeren Wohlstand und einer stärkeren Einheit.
Vielleicht möchten einige ein nuancierteres Bild haben und darauf hinweisen, daß die Menschen heute mehr noch als früher unter Ungerechtigkeit und Krieg leiden. Es stimmt.
Aber über solche Gedanken hinausgreifend möchte ich lieber daran erinnern, daß in der religiösen Dimension der Mensch Mensch bleibt und Gott Gott. Hier ist der Gipfel des Fortschritts schon erreicht: Christus, Alpha und Omega, der Anfang und das Ende [Offb 21,6].
Im geistlichen Leben gibt es also keine neue, künftige Epoche mehr. Alles ist schon in Christus gegeben, der starb und auferstand und lebt und für immer bleibt. Doch es ist nötig, sich mit Ihm im Glauben zu vereinigen und sein Leben in uns offenbar werden zu lassen, damit man sagen kann, daß jeder Christ nicht nur alter Christus ist, sondern ipse Christus, Christus selbst.

105 Instaurare omnia in Christo, das ist die Losung, die der heilige Paulus den Ephesern gibt [Eph 1,10]. Die ganze Welt mit dem Geist Jesu durchdringen, Christus in die Mitte aller Dinge stellen. Si exaltatus fuero a terra, omnia traham ad meipsum [Jo 12,32], ich aber werde, wenn ich von der Erde erhöht bin, alles an mich ziehen. Durch seine Menschwerdung und sein Leben der Arbeit in Nazareth, durch seine Predigt und seine Wunder in den Landstrichen von Judäa und Galiläa, durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung ist Christus die Mitte der Schöpfung, der Erstgeborene und der Herr aller Geschöpfe .
Es ist unsere Aufgabe als Christen, diese Herrschaft Christi mit unseren Worten und Werken kundzutun. Der Herr will die Seinen auf allen Wegen der Erde haben. Einige ruft Er in die Wüste, damit sie dem Trubel der Welt fernbleiben und so vor den anderen Menschen Zeugnis davon ablegen, daß es Gott gibt. Wieder anderen vertraut Er das priesterliche Amt an. Die Mehrzahl will Er mitten in der Welt und in den irdischen Dingen haben. Darum müssen diese Christen Christus überall hintragen, wo Menschen arbeiten: in die Fabriken, ins Labor, aufs Feld, in die Werkstatt, auf die belebten Straßen der Großstadt und auf einsame Bergpfade.
Hier denke ich gern an das Gespräch Jesu mit den Jüngern von Emmaus. Christus ist unterwegs mit zwei Menschen, die fast alle Hoffnung verloren haben und deren Leben sinnlos zu werden beginnt. Er versteht ihren Schmerz, dringt in ihr Herz ein und läßt sie an dem Leben teilhaben, das in Ihm wohnt.
Als sie jenes Dorf erreichen, tut Jesus, als wolle Er weitergehen. Die beiden Jünger halten Ihn fest und drängen Ihn zu bleiben. Sie erkennen Ihn dann beim Brotbrechen. Der Herr war bei uns, rufen sie aus. Und sie sagten zueinander: "Brannte nicht das Herz in uns, als Er unterwegs mit uns redete und uns die Schrift erschloß?" [Lk 24,32] Jeder Christ muß Christus unter den Menschen vergegenwärtigen; er muß so handeln, daß seine Mitmenschen den bonus odor Christi [Vgl. 2 Kor 2,15], den Wohlgeruch Christi verspüren, daß durch die Werke des Jüngers das Antlitz des Meisters hindurchschimmert.

106 Der Christ weiß sich durch die Taufe Christus einverleibt und durch die Firmung befähigt, für Christus zu kämpfen; er weiß sich berufen, durch seine Teilhabe am königlichen, prophetischen und priesterlichen Amt Christi in der Welt zu wirken; er weiß sich eins mit Christus durch die Eucharistie, das Sakrament der Einheit und der Liebe.
Darum muß er wie Christus mitten unter den Menschen leben und alle und jeden einzelnen von ihnen, ja die ganze Menschheit lieben.
Der Glaube führt uns dazu, in Christus Gott zu erkennen, in Ihm unseren Heiland zu sehen, uns mit Ihm zu vereinigen, indem wir so handeln, wie Er handelte. Nachdem der Auferstandene dem Apostel Thomas seine Zweifel genommen und ihm die Wunden gezeigt hatte, rief Er aus: Selig die nicht sehen und doch glauben [Jo 20,29]. Gregor der Große bemerkt dazu: Hier ist von uns in besonderer Weise die Rede, denn wir besitzen geistlich denjenigen, den wir körperlich nicht gesehen haben. Es ist von uns die Rede, doch unter der Bedingung, daß unsere Handlungen unserem Glauben entsprechen. Nur derjenige glaubt wirklich, der durch sein Wirken das in die Tat umsetzt, was er glaubt. Darum sagt der heilige Paulus von denen, deren Glauben nur in leeren Worten besteht; Sie geben zwar vor, Gott zu kennen, verleugnen Ihn aber durch ihre Werke [Gregor der Große, In Evangelia homiliae, 26, 9 (PL 76, 1202)].
Man kann das Gott-Mensch-Sein Christi von seinem Werk als Erlöser nicht trennen.
Das Wort wurde Fleisch und kam in die Welt, ut omnes homines salvi fiant [Vgl. 1 Tim 2,4], um alle Menschen zu retten. Trotz unserer Armseligkeiten und persönlichen Schwächen sind wir ein anderer Christus, sind wir Christus selbst; denn auch wir sind dazu berufen, allen Menschen zu dienen.
Immer wieder muß jenes Gebot Christi ertönen, das durch alle Jahrhunderte seine Kraft behalten wird. Wir lesen beim heiligen Johannes: Geliebte, damit schreibe ich euch kein neues Gebot. Es ist das alte Gebot, das ihr von Anfang an gehabt habt. Und doch schreibe ich euch auch wieder ein neues Gebot, das in Ihm und in euch zur Wahrheit geworden ist. Die Finsternis ist im Schwinden, und es leuchtet bereits das wahre Licht.
Wer sagt, er sei im Licht, haßt aber dabei seinen Bruder, der ist noch immer in der Finsternis. Wer seinen Bruder liebt, bleibt im Licht und nimmt keinen Anstoß.
[1 Jo 2,7-10] Der Herr kam, um allen Menschen den Frieden, die Frohbotschaft und das Leben zu bringen. Nicht allein den Reichen und nicht allein den Armen. Nicht nur den Gelehrten und nicht nur den Einfältigen, nein, allen. Allen Brüdern, denn wir sind Brüder als Kinder desselben Vaters, als Kinder Gottes. Es gibt nurmehr ein Volk: das Volk der Kinder Gottes. Es gibt nur noch eine Hautfarbe: die Hautfarbe der Kinder Gottes. Und es gibt nur noch eine Sprache: eine Sprache, die zum Herzen und zum Verstand spricht, ohne Worte, aber so, daß sie uns Gott erkennen läßt und uns anhält, einander zu lieben.

Christi Leben betrachten

107 Diese Liebe Christi ist es, um deren Verwirklichung jeder von uns in seinem eigenen Leben ringen muß. Aber um ipse Christus zu sein, müssen wir uns in Ihm sehen.
Es genügt nicht, ein allgemeines Bild von Christus zu haben, wir müssen vielmehr aus seiner Haltung und seinen Reaktionen lernen. Und vor allem müssen wir seinen Erdenwandel betrachten und seinen Spuren nachgehen, um Kraft, Licht, Gelassenheit und Frieden daraus zu schöpfen.
Wenn man einen Menschen liebt, möchte man alles, selbst die kleinsten Details über ihn wissen, um sich mit ihm identifizieren zu können. Darum müssen wir die Lebensgeschichte Jesu betrachten, von der Geburt in einer Krippe bis zu seinem Tod und seiner Auferstehung. In den ersten Jahren meiner priesterlichen Arbeit verschenkte ich oft die Heilige Schrift oder Bücher, die das Leben Christi nacherzählen. Denn wir müssen sein Leben gut kennen, es ganz im Kopf und im Herzen tragen, damit wir es in jedem Augenblick ohne Hilfe eines Buches mit geschlossenen Augen vor unserem inneren Blick wie einen Film vorbeiziehen lassen können. Die Worte und Taten des Herrn werden uns auf diese Weise in den verschiedenen Situationen unseres Lebens begleiten.
So werden wir sein Leben mitleben. Denn es geht nicht nur darum, an Jesus zu denken, uns diese oder jene Szene zu vergegenwärtigen. Wir müssen uns vielmehr in sie hineinversetzen, und als Teilnehmer des Geschehens werden wir dann Christus so nahe folgen wie Maria, seine Mutter, wie die ersten Zwölf, wie die frommen Frauen und die Menge, die Ihn umdrängte. Wenn wir so handeln und Christus keine Hindernisse in den Weg legen, werden uns seine Worte bis ins Innerste durchdringen und umwandeln. Denn Gottes Wort ist lebendig, wirksam und schärfer als jedes zweischneidige Schwert. Es dringt durch, bis es Seele und Geist, Mark und Bein voneinander scheidet. Es ist ein Richter über die Gedanken und Gesinnungen des Herzens [Hebr 4,12].
Wenn wir die übrigen Menschen zum Herrn führen wollen, müssen wir das Evangelium nehmen und die Liebe Christi betrachten. Wir könnten uns etwa die entscheidenden Szenen seines Leidens vor Augen führen, denn, wie Er selbst sagte: Eine größere Liebe hat niemand, als wer sein Leben hingibt für seine Freunde [Jo 15,13]. Aber wir können auch sein übriges Leben, seinen täglichen Umgang mit jenen betrachten, die Ihm begegneten.
Um die Heilsbotschaft zu den Menschen gelangen zu lassen und ihnen die Liebe Gottes zu offenbaren, hat Christus – vollkommener Gott und vollkommener Mensch – menschlich und göttlich zugleich gehandelt. Gott kommt den Menschen entgegen. Er nimmt unsere Natur ohne Vorbehalte an, mit Ausnahme der Sünde.
Ich empfinde eine tiefe Freude bei dem Gedanken, daß Christus voll und ganz Mensch sein wollte, aus Fleisch wie wir. Mich bewegt das Wunder, daß ein Gott mit dem Herzen eines Menschen liebt.

108 Wir wollen jetzt bei einigen der vielen Szenen, die uns im Evangelium erhalten sind, etwas verweilen. Beginnen wir mit den Berichten, die uns Jesus im Kreise der Zwölf zeigen. Der Apostel Johannes, in dessen Evangelium die Erfahrung eines ganzen Lebens spürbar wird, berichtet über jene erste Unterhaltung mit dem Zauber, der über den Dingen liegt, die man niemals mehr vergißt: "Meister, wo wohnst Du?" Er antwortete ihnen: "Kommt und seht." Sie gingen mit Ihm und sahen, wo Er wohnte, und blieben jenen Tag bei Ihm [Jo 1,38-39].
Es war ein göttlicher und zugleich menschlicher Dialog, der das Leben des Johannes und des Andreas, des Petrus, Jakobus und so vieler anderer umwandelte, ein Dialog, der die Herzen darauf vorbereitete, das gebietende Wort aufzunehmen, das Jesus am Galiläischen See an sie richtete: Als Er den Galiläischen See entlang wandelte, sah Er, wie zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und sein Bruder Andreas ihr Netz in den See warfen. Sie waren Fischer. Er sprach zu ihnen: "Folget mir! Ich will euch zu Menschenfischern machen." Auf der Stelle verließen sie ihre Netze und folgten Ihm [Mt 4, 18-20].
Die nächsten drei Jahre verbringen die Jünger an der Seite Jesu. Er kennt sie, antwortet auf ihre Fragen, zerstreut ihre Zweifel. Er ist der Rabbi, der Lehrer, der mit Autorität spricht, der von Gott gesandte Messias. Aber zugleich ist Er allen zugänglich und nahe. Eines Tages zieht sich Jesus zum Gebet zurück; die Jünger waren in der Nähe, vielleicht schauten sie auf Ihn und versuchten, seine Worte zu erraten. Als Jesus zurückkehrt, bittet Ihn einer seiner Jünger: Domine, doce nos orare, sicut docuit et Ioannes discipulos suos. Herr, lehre uns beten, wie auch Johannes seine Jünger beten gelehrt hat.
Da sprach Er zu ihnen: "Wenn ihr betet, so sprecht: Vater, geheiligt werde dein Name… [Lk 11,1-2] Mit göttlicher Autorität und zugleich mit menschlichem Feingefühl empfängt der Herr die Apostel, die Ihm voll Staunen über die Früchte ihrer ersten Sendung – von den Erstlingen ihres Apostolates berichten: Kommt allein mit an einen einsamen Ort und ruht ein wenig aus [Mk 6,31].
Eine sehr ähnliche Szene wiederholt sich gegen Ende des Erdenlebens Jesu kurz vor der Himmelfahrt: Als bereits der Morgen dämmerte, stand Jesus am Ufer. Aber die Jünger wußten nicht, daß Jesus es war. Da sprach Jesus zu ihnen: "Kinder, habt ihr nicht etwas zu essen?" Der als Mensch gefragt hat, spricht nun als Gott: "Werft das Netz zur Rechten des Bootes aus, so werdet ihr etwas finden." Sie warfen es aus und vermochten es vor der Menge der Fische nicht mehr heraufzuziehen. Da sagte der Jünger, den Jesus liebhatte, zu Petrus: "Es ist der Herr." Und Gott erwartet sie am Ufer: Wie sie nun ans Land stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer angelegt, einen Fisch darauf und Brot dabei. Jesus sprach zu ihnen: "Bringt von den Fischen, die ihr eben gefangen habt." Da stieg Simon Petrus in das Boot und zog das Netz ans Land, gefüllt mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen; und obschon ihrer so viele waren, zerriß das Netz nicht. Dann sprach Jesus zu ihnen: "Kommt zum Frühmahl." Keiner von den Jüngern wagte zu fragen: Wer bist du? Sie wußten ja, daß es der Herr war. Jesus kam nun, nahm das Brot und reichte es ihnen, ebenso auch den Fisch [Jo 21,4-13].
Dieses Feingefühl und diese Liebe bekundet Jesus nicht nur einer kleinen Gruppe von Jüngern, sondern allen gegenüber: den frommen Frauen, den Vertretern des Hohen Rates wie Nikodemus und den Zöllnern wie Zachäus, den Kranken und den Gesunden, den Schriftgelehrten und den Heiden, einzelnen und Menschenmassen.
Das Evangelium berichtet uns, daß Jesus nichts hatte, wohin Er sein Haupt legen konnte, aber es erzählt uns auch, daß Er geliebte und vertraute Freunde besaß, die Ihn in ihr Haus aufnehmen wollten. Und es berichtet auch von seinem Mitleid mit den Kranken, von seinem Schmerz über die Unwissenden und Irrenden, von seinem Unwillen über die Heuchelei. Jesus weint über den Tod des Lazarus, Er gerät in Zorn angesichts der Händler, die den Tempel entweihen, und das Leid der Witwe von Naim geht Ihm zu Herzen.

109 Jede dieser menschlichen Gesten ist zugleich eine Geste Gottes. In Christus wohnt die ganze Fülle der Gottheit wesenhaft [Kol 2,9]. Christus ist Gott, der Mensch geworden ist, vollkommener Mensch, Mensch durch und durch. Und gerade im Menschlichen läßt Er uns das Göttliche erkennen.
Wenn wir uns an das menschliche Feingefühl Christi erinnern, der sein Leben im Dienst an den anderen verbraucht, haben wir nicht bloß irgendeine Verhaltensweise vor uns. Wir sind dabei, Gott selbst zu entdecken. Jedes Werk Christi hat einen transzendenten Sinn: Es gibt uns die Seinsweise Gottes zu erkennen, es fordert uns auf, an seine Liebe zu glauben, die uns geschaffen hat und uns an seinem inneren Leben teilhaben lassen will. Kundgetan habe ich deinen Namen den Menschen, die du mir aus der Welt gegeben hast. Sie waren dein. Du hast sie mir gegeben, und sie haben dein Wort bewahrt. Nun wissen sie, daß alles, was du mir gegeben hast, von dir kommt [Jo 17,6-7], rief Jesus in jenem langen Gebet aus, das uns der Evangelist Johannes überliefert hat.
Darum erschöpft sich das Verhalten Jesu nicht in bloßen Worten oder in oberflächlichen Gesten. Jesus nimmt den Menschen ernst und will ihm den göttlichen Sinn seines Lebens erschließen. Jesus weiß zu fordern, jeden einzelnen mit seinen Pflichten zu konfrontieren, diejenigen, die Ihn hören, aus ihrer Gleichgültigkeit aufzurütteln, um sie zur Erkenntnis des dreimal heiligen Gottes zu führen. Er erbarmt sich der Hungernden und Leidenden, aber vor allem der Unwissenden. Als Jesus ans Land stieg, sah Er eine große Volksmenge und fühlte Erbarmen mit ihnen, denn sie waren wie Schafe ohne Hirten. Und Er belehrte sie über vieles [Mk 6,34].

Anwendung auf unser tägliches Leben

110 Wir haben einige Stellen des Evangeliums herausgegriffen, um Jesus in seinem Umgang mit den Menschen zu betrachten und um zu lernen, Ihn unseren Brüdern zu bringen, indem wir selbst Christus werden. Wenden wir nun diese Lehren auf unser eigenes tägliches Leben an. Denn das alltägliche, gewöhnliche Leben unter unseren Mitmenschen ist nicht farblos und flach. Gerade hier ist der Ort, wo sich nach dem Willen des Herrn die meisten seiner Kinder zu heiligen haben.
Man muß immer wieder betonen, daß sich Jesus nicht an einige Privilegierte wandte; Er kam vielmehr, um die alles umfassende Liebe Gottes zu offenbaren. Alle Menschen werden von Gott geliebt, von allen erwartet Er Liebe. Von allen – gleich welche persönlichen Eigenschaften, welche soziale Stellung, welchen Beruf und welches Amt der einzelne hat. Das gewöhnliche, alltägliche Leben ist keine geringwertige Sache: Alle Wege der Erde können Anlaß zu einer Begegnung mit Christus sein, der uns aufruft, eins zu werden mit Ihm, damit wir dort, wo wir sind, seinen göttlichen Auftrag erfüllen.
Gott ruft uns durch alles, was im Alltag geschieht, durch die Freude und das Leid unserer Mitmenschen, durch die irdischen Sorgen unserer Freunde und Bekannten, durch die vielen kleinen Dinge des Familienlebens. Und Gott ruft uns auch durch die großen Probleme, Konflikte und Aufgaben, die geschichtliche Epochen prägen und das Hoffen und Mühen eines Großteils der Menschheit in ihren Bann ziehen.

111 Wie verständlich sind die Ungeduld, die Beklemmung und die ungestümen Wünsche jener, die mit einer natürlich christlichen Seele [Vgl. Tertulian, Apologeticus, 17 (PL 1, 375)] nicht resignieren wollen angesichts der persönlichen und sozialen Ungerechtigkeit, die das menschliche Herz hervorbringen kann. So viele Jahrhunderte schon leben die Menschen zusammen, und noch immer gibt es so viel Haß, so viel Zerstörung, so viel Fanatismus in Augen, die nicht sehen, und in Herzen, die nicht lieben wollen.
Die Reichtümer der Erde verteilt unter einige wenige, die Bildungsgüter einem kleinen Kreis vorbehalten und draußen Hunger nach Brot und Wissen. Draußen menschliches Leben, das heilig ist, weil es von Gott kommt, und das behandelt wird wie eine Sache, wie Zahlen in einer Statistik. Ich verstehe und teile diese Ungeduld, eine Ungeduld, die mich drängt, auf Christus zu schauen, der uns ständig auffordert, jenes neue Gebot der Liebe zu verwirklichen.
Alle Situationen unseres Lebens bergen eine göttliche Botschaft in sich und fordern von uns eine Antwort der Liebe und Hingabe an die anderen. Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit Ihm, dann wird Er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Alle Völker werden vor Ihm versammelt werden. Er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe von den Böcken scheidet. Die Schafe wird Er zu seiner Rechten stellen, die Böcke zu seiner Linken.
Alsdann wird der König zu denen auf der Rechten sprechen: Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters! Nehmt in Besitz das Reich, das seit der Weltschöpfung für euch bereitet ist. Denn ich war hungrig, und ihr habt mir zu essen gegeben, durstig, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich war fremd, und ihr habt mich beherbergt, nackt, und ihr habt mich bekleidet. Ich war krank, und ihr habt mich besucht, gefangen, und ihr seid zu mir gekommen. Dann werden die Gerechten Ihn fragen: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben, durstig und haben dir zu trinken gegeben ?
Wann haben wir dich als Fremdling gesehen und haben dich beherbergt? Oder nackt und haben dich bekleidet? Wann haben wir dich krank gesehen oder im Gefängnis und sind zu dir gekommen? Der König wird ihnen antworten: Wahrlich, ich sage euch: Was ihr einem dieser meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan
[Mt 25, 31-40].
In unseren Brüdern, den Menschen, müssen wir Christus sehen, der uns in ihnen begegnet. Kein menschliches Leben ist isoliert, sondern jedes ist mit allen anderen verflochten. Keiner ist wie ein bezugloser Vers, alle sind wir Teil ein und derselben göttlichen Dichtung, die Gott unter Mitwirkung unserer Freiheit verfaßt.

112 Es gibt nichts, was der Sorge Christi fremd wäre. Wenn wir wirklich theologisch denken, uns also nicht mit einer funktionellen Einteilung begnügen wollen, so können wir nicht behaupten, es gäbe Wirklichkeiten – seien sie nun gut und edel oder auch nur indifferent –, die ausschließlich profan sind, nachdem einmal das Wort Gottes unter den Menschen geweilt, Hunger und Durst verspürt und mit seinen Händen gearbeitet hat, nachdem Es Freundschaft und Gehorsam, Leiden und Tod erfuhr. Denn es hat Gott gefallen, in Christus die ganze Fülle wohnen zu lassen und durch Ihn alles mit sich zu versöhnen, was auf Erden und was im Himmel ist, indem Er durch sein Blut am Kreuz Frieden stiftete [Kol 1, 19-20].
Wir müssen die Welt, die Arbeit, die menschliche Wirklichkeit lieben, denn die Welt ist gut. Die Sünde Adams hat die göttliche Harmonie des Geschaffenen zerstört, aber Gott der Vater sandte seinen eingeborenen Sohn, damit Er den Frieden wiederherstelle und damit wir, an Kindes Statt angenommen, die Schöpfung aus der Unordnung befreien und alles in Gott versöhnen können.
Jede menschliche Situation ist unwiederholbar, Frucht einer einmaligen Berufung, die mit Hingabe gelebt sein will und in der wir den Geist Christi verwirklichen sollen. So werden wir, indem wir unter unseresgleichen christlich leben ohne Besonderheiten, aber im Einklang mit unserem Glauben –, Christus sein, gegenwärtig unter den Menschen.

113 Bei dem Gedanken an die Würde der Sendung, zu der Gott uns ruft, könnten Anmaßung und Hochmut in unserer Seele aufsteigen. Aber wir sehen die christliche Berufung falsch, wenn sie uns verblendet und vergessen läßt, daß wir aus Lehm sind, Staub und Elend. Nicht nur in der Welt, rings um uns, ist das Übel; das Übel ist in uns, es nistet in unseren Herzen, es verführt uns zu Niedertracht und Egoismus. Nur die Gnade Gottes ist ein starker Fels, wir sind Sand, treibender Sand.
Wenn wir einen Blick auf die Geschichte der Menschheit werfen, wenn wir die gegenwärtige Weltlage betrachten, sehen wir mit Schmerzen, wie wenig Menschen es gibt, die sich – nach zwanzig Jahrhunderten – Christen nennen, und wie jene, die diesen Namen tragen, so oft ihrer Berufung nicht treu sind. Vor Jahren sagte jemand, der zwar ein gutes Herz, aber keinen Glauben hatte, vor einer Weltkarte stehend zu mir: Hier zeigt sich das Scheitern Christi. Seit Jahrhunderten versucht man, seine Lehre den Herzen der Menschen einzupflanzen, und das ist das Ergebnis: es gibt keine Christen.
Auch jetzt denken viele so. Doch Christus ist nicht gescheitert : Sein Wort und sein Leben befruchten ständig die Welt. Das Werk Christi, die Aufgabe, die Ihm der Vater anvertraute, wird Wirklichkeit, seine Kraft durchpulst die Geschichte und bringt das wahre Leben in die Welt: Wenn Ihm alles untergeordnet ist, wird sich auch der Sohn selbst dem unterwerfen, der Ihm alles unterstellt hat. Dann ist Gott alles in allem [1 Kor 15, 28].
Gott hat gewollt, daß wir seine Mitarbeiter sind an diesem Werk, das Er in der Welt verwirklicht, Er wollte das Risiko unserer Freiheit eingehen. Es bewegt mich zutiefst, wenn ich das neugeborene Kind in Bethlehem betrachte, schwach, arm und wehrlos. Gott liefert sich den Händen der Menschen aus, Er nähert sich uns und erniedrigt sich.
Jesus, der in Gottesgestalt war, erachtete sein gottgleiches Sein nicht für ein Gut, das Er mit Gewalt festhalten sollte. Vielmehr entäußerte Er sich, nahm Knechtsgestalt an und wurde den Menschen gleich [Phil 2, 6-7]. Gott läßt sich auf unsere Freiheit ein, auf unsere Unvollkommenheit und unser Elend. Er läßt zu, daß göttliche Schätze in irdenen Gefäßen getragen werden, daß wir sie zu erkennen geben in der Verschmelzung unserer Unzulänglichkeiten mit seiner göttlichen Kraft.

114 Die Erfahrung der Sünde darf uns daher an unserer Sendung nicht zweifeln lassen. Sicherlich können unsere Sünden es erschweren, Christus zu erkennen. Darum müssen wir gegen unsere eigenen Armseligkeiten ankämpfen und Läuterung suchen.
Dieses aber in dem Bewußtsein, daß Gott uns in diesem Leben keinen endgültigen Sieg über das Böse verheißen hat, sondern von uns Kampf fordert. Sufficit tibi gratia mea [2 Kor 12,9], meine Gnade genügt dir, war die Antwort des Herrn an Paulus, der Ihn darum bat, von dem demütigenden Stachel befreit zu werden.
Die Macht Gottes offenbart sich in unserer Schwäche, und sie treibt uns an, zu kämpfen und gegen unsere Fehler anzugehen, obgleich wir wissen, daß wir auf Erden niemals einen gänzlichen Sieg erringen werden. Das christliche Leben ist ein dauerndes Beginnen und Wieder-Beginnen, eine tagtägliche Erneuerung.
Christi Auferstehung wird in uns Wirklichkeit, wenn wir zu Teilhabern seines Kreuzes und seines Todes werden. Wir müssen das Kreuz lieben, die Hingabe und die Entsagung.
Christlicher Optimismus ist nicht leichtfertig und auch nicht ein bloß menschliches Vertrauen darauf, daß schon alles gut gehen wird. Er hat seine Wurzeln im Bewußtsein der Freiheit und im Glauben an die Gnade; er führt dazu, daß wir von uns selbst etwas verlangen und uns anstrengen, dem Ruf Gottes zu entsprechen.
So offenbart sich Christus nicht trotz unseres Elendes, sondern gewissermaßen durch unser Elend, durch das Leben von Menschen, die aus Fleisch und Lehm sind: Er offenbart sich in unserem Bemühen, besser zu werden, eine Liebe zu verwirklichen, die danach trachtet, rein zu sein, den Egoismus zu beherrschen und uns den anderen ganz hinzugeben, indem wir unser Leben zu einem ständigen Dienst werden lassen.

115 Zum Schluß noch einen letzten Gedanken. Wenn der Christ Christus unter den Menschen vergegenwärtigt, indem er ipse Christus ist, dann versucht er nicht nur, die Liebe als eine Haltung zu leben, sondern die Liebe Gottes – durch diese seine menschliche Liebe – kundzutun.
Jesus hat sein ganzes Leben als eine Offenbarung dieser Liebe betrachtet. Philippus, antwortete Er dem Jünger, wer mich gesehen hat, hat auch den Vater gesehen [Jo 14,9]. Im Sinne dieser Lehre lädt der Apostel Johannes die Christen ein, die Liebe Gottes, die sie erfahren haben, auch durch ihr Tun zu beweisen: Geliebte, laßt uns einander lieben. Denn die Liebe stammt von Gott. Wer Liebe hat, hat sein Leben aus Gott und erkennt Gott. Wer keine Liebe hat, kennt Gott nicht. Gott ist ja die Liebe. Gottes Liebe hat sich an uns darin geoffenbart, daß Gott seinen eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch Ihn das Leben haben. Darin zeigt sich die Liebe: Nicht wir haben Gott geliebt, sondern Er hat uns geliebt und seinen Sohn als Sühneopfer für unsere Sünden gesandt. Geliebte, wenn Gott uns so sehr geliebt hat, dann müssen auch wir einander lieben [1 Jo 4,7-11].

116 Unser Glaube muß lebendig sein, er muß uns wirklich dazu führen, auf Gott zu vertrauen und in einem ständigen Gespräch mit Ihm zu bleiben. Das Leben des Christen muß ein Leben dauernden Gebetes sein, ein Bemühen, vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen die Gegenwart des Herrn zu bewahren. Der Christ ist niemals einsam, denn er lebt in dauerndem Umgang mit Gott, der an seiner Seite und im Himmel ist.
Sine intermissione orate, lautet die Forderung des Apostels, betet ohne Unterlaß [1 Thess 5,17]. Clemens von Alexandrien erinnert an dieses Gebot, wenn er schreibt: Es ist uns aber befohlen, den Logos anzubeten und zu verehren in der Überzeugung, daß Er unser Heiland und Führer ist, und durch das Wort den Vater, und zwar sollen wir dies nicht wie manche andere nur an besonders ausgewählten Tagen, sondern ununterbrochen das ganze Leben hindurch und auf jede Weise tun [Clemens von Alexandrien, Stromata, 7, 7, 35 (PG 9, 450)].
In den Sorgen des Alltags, wenn es gilt, den Hang zum Egoismus zu überwinden, oder wenn wir uns über die Freundschaft mit anderen Menschen freuen, immer muß der Christ Gott begegnen. Durch Christus und im Heiligen Geist hat der Christ Zugang zum inneren Leben des Vaters, und er geht seinen Weg auf der Suche nach jenem Reich, das nicht von dieser Welt ist, das aber in dieser Welt seinen Anfang nimmt und vorbereitet wird.
Man muß Umgang mit Christus pflegen im Wort und im Brot, in der Eucharistie und im Gebet. Umgang wie mit einem Freund, mit einem wirklichen und lebendigen Wesen wie Christus es ist, denn Er ist ja auferstanden. Im Brief an die Hebräer lesen wir: Hier aber ist einer, der in Ewigkeit bleibt und darum ein unvergängliches Priestertum hat. Darum vermag Er auch vollkommen die zu retten, die durch Ihn vor Gott hintreten. Er lebt ja immerdar, um Fürsprache für sie einzulegen [Hebr 7,24-25].
Christus, der auferstandene Christus, ist unser Begleiter und Freund; ein Begleiter, der nur wie durch Schatten hindurch sichtbar wird, dessen Wirklichkeit jedoch unser ganzes Leben erfüllt und uns seine endgültige Gegenwart herbeisehnen läßt. Der Geist und die Braut sollen einstimmen: Komm! Wer es hört, der spreche: Komm! Wen dürstet, der komme; wer Verlangen hat, soll umsonst Wasser des Lebens erhalten, die ewige Glückseligkeit… Der dies bezeugt, spricht: Ja, ich komme bald. Amen. Komm, Herr Jesus [Offb 22,17 und 20].

 «    CHRISTI HIMMELFAHRT    » 

(Homilie, gehalten am 19. Mai 1966, Christi Himmelfahrt.)

117 Wieder einmal führt uns die Liturgie das letzte Geheimnis im Leben Jesu Christi unter den Menschen vor Augen: seine Himmelfahrt. Seit der Geburt zu Bethlehem ist vieles geschehen: Wir haben Ihn in der Krippe gefunden, angebetet von Hirten und Königen; wir haben Ihn in Nazareth betrachtet, wie Er jahrelang in der Stille arbeitete; wir haben Ihn auf seinen Wegen durch Palästina begleitet, während Er den Menschen das Reich Gottes verkündete und allen Gutes erwies. Später dann, an den Tagen seines Leidens, haben wir mitgelitten, als wir sahen, wie sie Ihn anklagten, mit welcher Wut sie Ihn peinigten, mit welchem Haß sie Ihn kreuzigten.
Dem Schmerz folgte die große Freude der Auferstehung: welch sicherer und fester Grund für unseren Glauben! Jetzt dürften wir nicht mehr zweifeln. Aber wie die Apostel sind wir vielleicht immer noch schwach und fragen Christus an diesem Tag seiner Himmelfahrt: Stellst Du jetzt das Königreich Israel wieder her? [Vgl. Apg 1,6] Werden jetzt unser Wankelmut und unsere Erbärmlichkeiten für immer verschwinden?
Der Herr antwortet mit seiner Himmelfahrt. Auch wir verharren, wie die Apostel, halb staunend, halb traurig, weil Er uns zurückläßt. Denn es ist wahrhaftig nicht leicht, sich an die leibliche Abwesenheit Jesu zu gewöhnen. Mich bewegt der Gedanke, daß Er, in einer Großtat der Liebe, gegangen und doch geblieben ist: Er ist in den Himmel aufgefahren, und Er schenkt sich uns als Nahrung in der heiligen Hostie. Aber wir vermissen sein menschliches Wort, seine Art zu handeln, zu blicken, zu lächeln und Gutes zu tun. Gern würden wir Ihn noch einmal ganz aus der Nähe betrachten, wie Er sich müde vom anstrengenden Weg am Brunnen niedersetzt [Vgl. Joh 4,6], wie Er um Lazarus weint [Vgl. Joh 11,35], wie Er lange im Gebet verweilt [Vgl. Lk 6,12], wie Er sich der Volksmenge erbarmt [Vgl. Mt 15,32; Mk 8,2].
Für mich ist es immer logisch und ein Grund zur Freude gewesen, daß Christus in seiner heiligsten Menschheit zur Herrlichkeit des Vaters aufgestiegen ist, aber ich denke auch, daß diese Spur von Traurigkeit am Tage der Himmelfahrt des Herrn ein Zeichen unserer Liebe zu Jesus ist. Er, vollkommener Gott, wurde Mensch, vollkommener Mensch, Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem Blut. Und Er trennt sich von uns, um in den Himmel aufzufahren. Wie sollten wir Ihn nicht vermissen?

Jesus Christus im Brot und im Wort begegnen

118 Wenn wir es verstehen, das Geheimnis Christi zu betrachten, wenn wir uns bemühen, Ihn mit reinen Augen zu sehen, wird uns aufgehen, daß es auch heute möglich ist, Jesus mit Leib und Seele ganz nahe zu kommen. Christus hat uns deutlich den Weg gewiesen: im Brot und im Wort; in der Nahrung der Eucharistie, im Kennenlernen und Erfüllen seiner Lehre, und indem wir Ihn im Gebet aufsuchen. Wer mein Fleisch ißt und mein Blut trinkt, der bleibt in mir und ich in ihm [Jo 6,57]. Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt. Wer aber mich liebt, den wird mein Vater lieben, und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren [Jo 14,21].
Das sind nicht bloße Versprechungen. Hier haben wir das Herzstück und die Wirklichkeit wahrhaftigen Lebens : des Lebens der Gnade, die uns zu einer persönlichen und unmittelbaren Begegnung mit Gott antreibt. Wenn ihr meine Gebote haltet, so bleibt ihr in meiner Liebe, so wie ich die Gebote meines Vaters gehalten habe und in seiner Liebe bleibe [Jo 15,10]. Diese Verheißung Jesu beim Letzten Abendmahl ist die beste Einstimmung auf den Tag der Himmelfahrt. Christus wußte, daß Er gehen mußte; denn nach der Himmelfahrt sollte auf eine geheimnisvolle Weise, die wir nie ganz ergründen werden, in einem erneuten Ausströmen göttlicher Liebe die dritte Person der Heiligsten Dreifaltigkeit kommen: Ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, daß ich hingehe; denn wenn ich nicht hingehe, kommt der Beistand nicht zu euch; wenn ich aber hingehe, werde ich Ihn euch senden [Jo 16,7].
Er ist weggegangen und hat uns den Heiligen Geist gesandt, der unsere Seele führt und heiligt. In uns wirkend, bestätigt der Tröster, was Christus uns verheißen hatte: daß wir Kinder Gottes sind und nicht den Geist der Knechtschaft empfangen haben, um uns wieder zu fürchten, sondern den Geist der Kindschaft, in dem wir rufen: Abba, Vater [Röm 8,15].
Seht, das ist das Wirken der Dreifaltigkeit in uns. Jeder Christ hat Zugang zu dieser Einwohnung Gottes in seinem Innersten, wenn er der Gnade entspricht, die zur Vereinigung mit Christus im Brot und im Wort, in der Eucharistie und im Gebet führt. Die Kirche erinnert uns jeden Tag an die Wirklichkeit des lebendigen Brotes und widmet der Eucharistie zwei Festtage im liturgischen Jahr: Gründonnerstag und Fronleichnam. An diesem Tag der Himmelfahrt wollen wir betrachten, wie wir Christus begegnen durch das aufmerksame Hören des Wortes.

Leben des Gebetes

119 Ein Gebet zum Gott meines Lebens [Ps 42,9]. Wenn Gott für uns Leben ist, darf es uns nicht wundern, daß unser Dasein als Christen vom Gebet durchdrungen sein muß. Aber seht im Gebet nicht ein Tun, das man verrichtet und dann vergessen kann. Der Gerechte hat Freude am Gesetz des Herrn und sinnt darüber bei Tag und bei Nacht [Ps 1,2]. Am Morgen denke ich an Dich [Vgl. Ps 63,7] und am Abend steigt wie Weihrauch mein Gebet zu Dir [Vgl. Ps140,2]. Der ganze Tag kann Zeit des Gebetes sein: vom Abend bis zum Morgen und vom Morgen bis zum Abend. Ja, die Heilige Schrift erinnert uns sogar daran, daß auch der Schlaf Gebet sein soll [Vgl. Dt 6,6 und 7].
Bedenkt, was die Evangelien über Jesus berichten. Manchmal verbrachte Er die ganze Nacht im innigen Gespräch mit seinem Vater. Mit welcher Liebe muß die Gestalt des betenden Christus die ersten Jünger erfüllt haben. Beständig sahen sie den Meister in dieser Haltung und schließlich baten sie Ihn: Domine, doce nos orare [Lk 11,1], Herr, lehre uns beten.
Der heilige Paulus verbreitet überall das lebendige Beispiel Christi: orationi instantes [Röm 12,12], seid beharrlich im Gebet, schreibt er. Und die Worte des heiligen Lukas erhellen wie ein Streiflicht Leben und Tun der ersten Christen: Eines Sinnes untereinander verharrten sie zusammen im Gebet [Apg 1,14].
In der Schmiede des Gebetes gewinnt ein guter Christ mit Hilfe der Gnade seine Festigkeit. Das Leben des Gebetes kann vielfältige Formen annehmen. Gewöhnlich spricht sich das Herz in Worten aus, in jenen mündlichen Gebeten, die Gott selbst – Vater unser – oder seine Engel – Ave Maria – uns gelehrt haben. Andere Male benutzen wir Gebete, in denen sich die Frömmigkeit zahlloser Brüder im Glauben durch Jahrhunderte verdichtet hat: Gebete aus der Liturgie – lex orandi – oder Gebete, die aus der Glut eines liebenden Herzens stammen, wie so viele marianische Antiphonen: Sub tuum praesidium…, Memorare…, Salve Regina… Bei anderen Gelegenheiten genügen zwei oder drei Stoßgebete – iaculatoria – wie Pfeile – iaculata – zum Herrn gesandt, Worte, die wir aus der aufmerksamen Lektüre des Lebens Christi lernen: Domine, si vis, potes me mundare [Mt 8,2], Herr, wenn Du willst, kannst Du mich rein machen; Domine, tu omnia nosti, tu scis, quia amo te [Jo 21,17], Herr, Du weißt alles, Du weißt auch, daß ich Dich liebe; Credo, Domine, sed adiuva incredulitatem meam [Mk 9,23], ich glaube, Herr, aber hilf meinem Unglauben, stärke meinen Glauben; Domine, non sum dignus [Mt 8,8], Herr, ich bin nicht würdig! Dominus meus et Deus meus [Jo 20,28], mein Herr und mein Gott! … oder andere Gebete, kurz und liebevoll, die aus der Tiefe der Seele hervorbrechen und aus der Situation eines Augenblicks aufsteigen.
Außerdem muß sich das Gebetsleben jeden Tag auf einige, ausschließlich der Begegnung mit Gott vorbehaltene Zeiten stützen: Augenblicke ohne Worte, still und, wenn möglich, vor dem Tabernakel, um dem Herrn für zwanzig Jahrhunderte seines Wartens – wie einsam ist Er – zu danken. Im Geiste entwickelt sich ein Dialog mit Gott, von Herz zu Herz, und die ganze Seele ist dabei: Verstand und Wille, Vorstellungskraft und Erinnerung.
Ein solches Gebet trägt dazu bei, unserem armseligen menschlichen Leben, unserem Alltag einen übernatürlichen Wert zu verleihen.
Durch diese Minuten der Betrachtung, durch das mündliche Gebet und die Stoßgebete wird es uns gelingen, unseren ganzen Tag mit Natürlichkeit und ohne Besonderheiten in ein ständiges Gotteslob zu verwandeln. Wir werden in seiner Gegenwart bleiben, so wie Liebende in Gedanken beieinander sind, und alle unsere Werke – auch die unscheinbarsten – werden sich mit übernatürlicher Wirksamkeit erfüllen.
Wenn ein Christ diesen Weg ständigen Umgangs mit dem Herrn geht – der ein Weg für alle, kein schmaler Pfad für Privilegierte ist –, dann wächst das innere Leben, es wird fest und sicher; dann wächst im Menschen die Entschlossenheit zu diesem liebenswerten und anspruchsvollen Kampf, den Willen Gottes bis zum Letzten zu erfüllen.
Vom Leben des Gebetes her können wir dann auch ein anderes Thema verstehen, das uns das heutige Fest nahelegt: das Apostolat, dieses Ins-Werk-Setzen der Lehre Jesu, die Er kurz vor seiner Himmelfahrt den Seinen anvertraut hat: Ihr sollt meine Zeugen sein in Jerusalem, in ganz Judäa und Samaria, ja bis an die Grenzen der Erde [Apg 1,8].

Apostolat, Miterlösen

120 Mit der verblüffenden Natürlichkeit des Göttlichen drängt die beschauliche Seele im Apostolat über sich hinaus: Mir brennt das Herz in der Brust und ein Feuer entzündet sich bei meiner Betrachtung [Ps 39,4]. Welches andere Feuer könnte dies sein als das, von dem Christus sagt: Feuer auf die Erde zu werfen, bin ich gekommen und was will ich anderes, als daß es brenne [Lk 12,49]. Feuer des Apostolates, das sich im Gebet entfacht: es gibt kein besseres Mittel, um in die ganze Welt jenen friedfertigen Kampf zu tragen, an dem sich jeder Christ beteiligen muß, als dieses: zu ergänzen, was am Leiden Christi noch fehlt [Vgl. Kol 1, 24].
Jesus ist in den Himmel aufgefahren, sagten wir. Aber im Gebet und in der Eucharistie kann Ihm der Christ begegnen wie damals die ersten Zwölf, er kann seinen apostolischen Eifer entfachen, um mit Ihm dem Werk der Erlösung zu dienen, das darin besteht, Frieden und Freude zu verbreiten. Dienen: darin besteht das Apostolat. Wenn wir uns nur auf unsere eigenen Kräfte verlassen, werden wir im Übernatürlichen nichts zuwege bringen; als Werkzeuge Gottes aber werden wir alles erreichen: Alles vermag ich in dem, der mich stärkt [Phil 4,13]. Gott hat in seiner unendlichen Güte beschlossen, sich ungeeigneter Werkzeuge zu bedienen. So hat der Apostel kein anderes Ziel, als den Herrn wirken zu lassen und sich Ihm völlig zur Verfügung zu stellen, damit Gott durch seine Geschöpfe, durch den Menschen, den Er erwählt hat, sein Heilswerk verwirkliche.
Apostel: das ist der Christ, der sich, durch die Taufe Christus einverleibt, eins mit Ihm weiß; der durch die Firmung zum Kampf für Christus gerüstet ist, der gerufen ist, Gott in der Welt zu dienen auf Grund des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen, das eine gewisse – wenngleich von der des Amtspriestertums wesentlich verschiedene – Teilnahme am Priestertum Christi verleiht und dazu befähigt, am Kult der Kirche teilzunehmen und den Menschen auf ihrem Weg zu Gott zu helfen im Zeugnis von Wort und Beispiel, durch Gebet und Sühne.
Jeder von uns muß ipse Christus sein. Christus ist der einzige Mittler zwischen Gott und den Menschen [Vgl. 1 Tim 2,5], und wir vereinigen uns mit Ihm, um durch Ihn alles dem Vater darzubringen. Unsere Berufung als Kinder Gottes inmitten der Welt fordert von uns, daß wir nicht nur unsere persönliche Heiligkeit suchen, sondern daß wir die Wege der Erde in Pfade verwandeln, auf denen die Menschen durch alle Hindernisse hindurch zu Gott gelangen, daß wir als normale Bürger am zeitlichen Geschehen teilnehmen, um Sauerteig zu sein [Vgl. Mt 13,33], der den ganzen Teig durchsäuert [Vgl. 1 Kor 5,6].
Christus ist in den Himmel aufgefahren, aber Er hat uns die Möglichkeit hinterlassen, alles, was im menschlichen Bereich gut ist, zu erlösen. Gregor der Große hat dieses entscheidende christliche Thema treffend aufgegriffen: So brach Jesus auf zu jenem Ort, von dem Er war, und verließ den Ort, an dem Er verweilt hatte. Tatsächlich vereinigte Er im Augenblick seiner Himmelfahrt durch seine Gottheit Himmel und Erde. Am heutigen Fest ist es angezeigt, feierlich hervorzuheben, daß der Beschluß, der uns verdammte, vernichtet, das Urteil, das uns dem Verderben unterwarf, aufgehoben worden ist. Die Natur, an die sich die Worte richteten: du bist Staub und zu Staub sollst du zurückkehren (Gen 3, 19), eben diese Natur ist heute mit Christus in den Himmel aufgefahren [Gregor der Große, In Evangelia homiliae, 29, 10 (PL 76, 1218)].
Deshalb werde ich nicht müde zu wiederholen, daß die Welt geheiligt werden kann und daß besonders uns Christen diese Aufgabe zufällt: die Welt von ihrem Anreiz zur Sünde, durch die wir Menschen sie entstellen, zu reinigen und sie, würdig geworden durch die Gnade Gottes und durch unser Bemühen, dem Herrn als eine geistige Opfergabe darzubringen. Streng genommen kann man dann nicht mehr sagen, irgend etwas, das in sich gut ist, sei ausschließlich profaner Natur , nachdem sich das Wort herabgelassen hat, die volle menschliche Natur anzunehmen und unsere Erde durch seine Gegenwart und durch die Arbeit seiner Hände zu heiligen. In der Taufe erhalten wir den erhabenen Auftrag, Miterlöser zu sein. Die Liebe Christi drängt uns [Vgl. 2 Kor 5,14], einen Teil dieser göttlichen Aufgabe, die Seelen loszukaufen, auf unsere Schultern zu nehmen.

121 Seht: die Erlösung, die vollendet wurde, als Jesus in der Schmach und im Ruhm des Kreuzes starb, für die Juden ein Ärgernis, für die Heiden eine Torheit [1 Kor 1,23], dauert nach göttlichem Willen an, bis die Stunde des Herrn kommt. Es ist unvereinbar, aus dem Herzen Jesu zu leben und sich nicht gesandt zu fühlen, so wie Er peccatores salvos facere [1 Tim 1,15], die Sünder zu retten, aber ohne zu vergessen, daß wir selbst jeden Tag mehr auf die Barmherzigkeit Gottes vertrauen müssen. Dies weckt in uns das Verlangen, uns als Miterlöser Christi zu betrachten und mit Ihm alle Menschen zu retten, da wir ja ipse Christus sind und sein wollen, Christus selbst, der sich zum Lösegeld für alle hingegeben hat [1 Tim 2,6].
Vor uns liegt eine große Aufgabe. Nur abwarten wäre falsch, da der Herr uns ausdrücklich sagt: Treibt Handel, bis ich wiederkomme [Lk 19,13]. Während wir die Rückkehr des Herrn erwarten, der kommen wird, um sein Reich voll in Besitz zu nehmen, können wir nicht die Hände in den Schoß legen. Das Reich Gottes auszubreiten, ist nicht ausschließlich der offizielle Auftrag jener Glieder der Kirche, die Christus repräsentieren, da sie von Ihm die heiligen Gewalten empfangen haben. Vos autem estis corpus Christi [1 Kor 12,27], auch ihr seid der Leib Christi, sagt uns der Apostel mit dem konkreten Auftrag, bis zuletzt Handel zu treiben.
Vieles bleibt noch zu tun. Etwa, weil zwanzig Jahrhunderte lang nichts geschehen ist? Nein, vieles ist in diesen zwanzig Jahrhunderten geschehen. Das eilfertige Urteil, mit dem manche die Arbeit früherer Generationen abwerten, scheint mir weder sachlich gerechtfertigt noch sehr anständig zu sein. In diesen zweitausend Jahren wurde viel und oft auch sehr gut gearbeitet. Gewiß, es ist nicht ohne Fehler und Rückschläge abgegangen, es hat an Angst und Furchtsamkeit nicht gefehlt, doch auch nicht an Tapferkeit und Großmut. Aber die Menschheitsfamilie erneuert sich ständig, und so muß sich jede Generation aufs neue darum bemühen, dem Menschen zu helfen, daß er die Größe seiner Berufung als Kind Gottes entdeckt und sich das Gebot der Liebe zu unserem Schöpfer und zum Nächsten tief einprägt.

122 Christus hat uns ein für allemal den Weg der Liebe zu Gott gewiesen: Das Apostolat ist Ausdruck unserer Liebe zu Gott, die überfließend sich dem anderen mitteilt.
Inneres Leben setzt Wachstum in der Vereinigung mit Christus im Brot und im Wort voraus. Der apostolische Eifer ist das genaue, angemessene und notwendige Sichtbarwerden des inneren Lebens. Wenn man die Liebe Gottes erfährt, spürt man die Last der Seelen. Inneres Leben und Apostolat lassen sich nicht voneinander trennen, wie es ebensowenig möglich ist, in Christus den Gott-Menschen vom Erlöser zu trennen. Das Wort wollte Fleisch werden, um die Menschen zu retten, um sie zur völligen Einheit mit sich zu führen. Das ist der Grund seines Kommens: Für uns und um unseres Heiles willen ist Er vom Himmel herabgestiegen, beten wir im Credo.
Für den Christen ist das Apostolat eine Selbstverständlichkeit, nichts Nebensächliches, Äußerliches, das außerhalb seines täglichen Arbeitsbereiches und seiner beruflichen Arbeit läge. Das betone ich immer wieder, seitdem der Herr das Opus Dei entstehen ließ. Es geht darum, die tägliche Arbeit zu heiligen, sich selber in dieser Arbeit zu heiligen und die anderen Menschen durch die Ausübung des eigenen Berufes zu heiligen: jeder dort, wo er steht.
Das Apostolat ist wie das Atmen des Christen. Ein Kind Gottes kann ohne diesen übernatürlichen Pulsschlag nicht leben. Das heutige Fest erinnert uns daran, daß der Eifer für die Seelen ein liebenswertes Gebot des Herrn ist, der uns bei seiner Himmelfahrt als seine Zeugen in die ganze Welt hinaussendet. Unsere Verantwortung ist groß; denn Zeuge Christi sein erfordert vor allem, nach seiner Lehre zu leben, uns anzustrengen, daß unser Verhalten Christus erkennen läßt und an seine liebenswerte Gestalt erinnert. Wir müssen so leben, daß die Menschen, denen wir begegnen, sagen können: Der ist ein Christ, denn er haßt nicht, er weiß zu verstehen, er ist nicht fanatisch, er hat sich in der Gewalt, er kann Opfer bringen, er sucht den Frieden, er liebt.

Weizen und Unkraut

123 Ich habe euch anhand der Lehre Christi, nicht anhand eigener Vorstellungen das Ideal eines christlichen Weges gezeigt. Ihr werdet mir zustimmen, daß es hoch und anziehend ist. Aber vielleicht fragt sich der ein oder andere: Ist es denn in der heutigen Welt möglich, so zu leben?
Es ist wahr: der Herr hat uns zu einer Zeit gerufen, da man viel von Frieden spricht, es aber keinen Frieden gibt: weder in den Herzen noch in den Institutionen, weder in der Gesellschaft noch unter den Völkern. Gleichheit und Demokratie sind in aller Munde, und doch stößt man laufend auf sich hermetisch abkapselnde, unzugängliche Kasten. Der Herr hat uns zu einer Zeit gerufen, da man nach Verständnis schreit, es aber kein Verständnis gibt, selbst bei solchen nicht, die aus gutem Glauben handeln und die Liebe verwirklichen wollen; denn vergeßt nicht: die Liebe besteht mehr als im Geben im Verstehen.
Wir leben in einer Zeit, in der die Fanatiker und die Intoleranten, unfähig, die Argumente anderer gelten zu lassen, sich schadlos halten und ihre eigenen Opfer als gewalttätig und aggressiv hinstellen. Der Herr hat uns schließlich zu einem Zeitpunkt gerufen, da man viel von Einheit redet, sich aber kaum eine größere Uneinigkeit vorstellen kann selbst unter den Katholiken, nicht nur generell unter den Menschen.
Ich befasse mich nicht mit Politik, denn sie ist nicht meine Aufgabe. Um als Priester die Lage unserer Welt zu schildern, genügt es mir, erneut an das Gleichnis des Herrn vom Weizen und Unkraut zu denken. Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem Manne, der guten Samen auf seinen Acker säte. Als aber die Leute schliefen, kam sein Feind und säte Unkraut mitten unter den Weizen und ging davon [Mt 13,24-25]. Es ist offenkundig: der Acker ist fruchtbar und der Samen ist gut; der Herr des Ackers hat mit weitem Wurf den Samen zur rechten Zeit und mit vollendeter Kunst ausgesät; außerdem hat er die aufgehende Saat bewachen lassen. Wenn trotzdem Unkraut aufschießt, dann, weil man sich nicht an sein Wort gehalten hat, weil die Menschen – und vor allem die Christen – geschlafen und zugelassen haben, daß der Feind sich nähert.
Als die verantwortungslosen Knechte den Herrn fragen, woher das Unkraut auf seinem Acker kommt, gibt er eine einleuchtende Antwort: inimicus homo hoc fecit [Mt 13,28], das hat der Feind getan. Wir Christen, die wir darauf hätten achten müssen, daß die guten Dinge, die Gott in die Welt hineingelegt hat, sich im Dienst an der Wahrheit und am Guten entwickeln, wir haben geschlafen – welch böse Trägheit, dieser Schlaf! –, während der Feind und seine Komplizen unentwegt am Werk waren. Ihr seht ja, wie das Unkraut aufgeschossen ist, wie es überall wuchert!
Ich bin nicht zum Unglückspropheten berufen und möchte kein düsteres, hoffnungsloses Bild zeichnen. Ich will nicht über eine Zeit klagen, in der wir nach der Vorsehung des Herrn leben. Wir lieben unsere Zeit, denn in ihr müssen wir unsere persönliche Heiligung erlangen. Eine naive und sterile Wehmut bringt uns nicht weiter: Der Welt ist es niemals besser ergangen. Seit den Anfängen der Kirche, als noch die Predigt der ersten Zwölf zu hören war, hat es heftige Verfolgungen gegeben, entstanden Irrlehren, breitete sich die Lüge aus und tobte der Haß.
Es läßt sich aber nicht leugnen, daß das Böse offensichtlich zugenommen hat.
Überall auf dem Acker Gottes, der die Erde ist, das Erbteil Christi, ist das Unkraut aufgeschossen: Unkraut über Unkraut! Wir können uns nicht durch den Mythos eines dauernden, unaufhaltsamen Fortschritts täuschen lassen. Der geordnete Fortschritt ist gut, und Gott will ihn. Aber höher gepriesen wird ein anderer, falscher Fortschritt, der die Augen vieler blendet, weil sie häufig nicht sehen, daß manche Schritte die Menschheit zurückwerfen und sie das Errungene wieder verliert.
Wie gesagt: der Herr hat uns die Welt zum Erbe gegeben; wir müssen unsere Seele und unseren Verstand hellwach halten, wir müssen Realisten sein und dürfen nicht mutlos werden. Doch nur ein abgestumpftes Gewissen, eine durch Routine entstandene Oberflächlichkeit, nur eine leichtfertige Gedankenlosigkeit können dazu führen, daß jemand die Welt betrachtet und das Böse nicht sieht, die Beleidigungen Gottes und den manchmal nicht wiedergutzumachenden Schaden an den Seelen. Wir müssen Optimisten sein, aber unser Optimismus darf nicht aus einer menschlichen Selbstzufriedenheit kommen noch aus eitler, dünkelhafter Selbstgefälligkeit.

Saat des Friedens und der Freude

124 Was ist zu tun? Wie ich sagte, geht es mir nicht darum, soziale oder politische Krisen noch kulturelle Krankheitssymptome aufzuzeigen. Ich spreche hier vom Bösen aus der Sicht des christlichen Glaubens: vom Bösen als Beleidigung Gottes. Das christliche Apostolat ist weder ein politisches Programm noch eine kulturelle Alternative: Es will die Ausbreitung des Guten, es wird getragen von dem ansteckenden Verlangen zu lieben, es will Frieden und Freude verbreiten. Aus einem solchen Apostolat werden ohne Zweifel allen Menschen Güter des Geistes zufließen: mehr Gerechtigkeit, größeres Verständnis, mehr Achtung der Menschen untereinander.
Wir dürfen für die Menschen kein Hindernis auf ihrem Wege zum ewigen Heil sein.
Wir sind verpflichtet, durch und durch Christen zu sein, heilig zu werden, weder Gott noch die Menschen, die von uns Christen Beispiel und Lehre erwarten, zu hintergehen.
Unser Apostolat muß auf Verständnis gründen. Ich wiederhole es: mehr als im Geben besteht die Liebe im Verstehen. Ich sage euch ganz offen, daß ich am eigenen Leibe erfahren habe, was es bedeutet, nicht verstanden zu werden. Ich habe mich immer bemüht, mich verständlich zu machen, aber es gibt Leute, die sich darauf versteift haben, mich nicht zu verstehen. Das ist ein weiterer praktischer und lebendiger Grund, warum ich alle verstehen möchte. Nicht nur ein momentaner Antrieb ist es, der uns dazu verpflichtet, dieses weite, universale, katholische Herz zu haben. Das Verstehen ist Zeichen der christlichen Liebe eines guten Kindes Gottes. Denn der Herr will, daß wir auf allen Wegen der Erde die Saat der Brüderlichkeit – nicht des Unkrauts – ausstreuen, die Saat des Vergebens, des Verzeihens, der Liebe, des Friedens. Betrachtet euch niemals als Feind irgendeines Menschen.
Der Christ muß immer bereit sein, mit allen gut auszukommen, allen durch seinen Umgang die Möglichkeit zu geben, Jesus Christus näher zu kommen. Er muß sich ohne Ausnahme gern für alle aufopfern, ohne die Menschen wie Handelswaren oder präparierte Insekten zu klassifizieren. Der Christ darf sich nicht von den anderen absondern, sonst würde sein Leben armselig und egoistisch: Er muß allen alles werden, um alle zu retten [1 Kor 9,22]Wenn wir nur so leben wollten, wenn wir uns doch vornehmen wollten, uns von der Großzügigkeit, von diesem Wunsch, friedfertig miteinander auszukommen, durchdringen zu lassen. So würde auch die legitime persönliche Unabhängigkeit der Menschen gefördert. Jeder würde dann einstehen für seine Tätigkeit in der Welt. Der Christ wüßte vor allem die Freiheit der anderen zu verteidigen, um nachher auch die eigene verteidigen zu können; er brächte die Liebe auf, die anderen so anzunehmen, wie sie sind – denn ausnahmslos jeder hat seine Erbärmlichkeiten und seine Fehler; er würde den anderen mit der Gnade Gottes und mit menschlichem Feingefühl helfen, das Böse zu überwinden, das Unkraut auszureißen, damit wir alle einander helfen und mit Würde unser Mensch- und Christsein verwirklichen.

Das künftige Leben

125 Die apostolische Aufgabe, die Christus allen seinen Jüngern anvertraut hat, zeitigt daher greifbare Ergebnisse in der Gesellschaft. Es ist falsch zu meinen, man müsse der Welt den Rücken kehren, man müsse die menschliche Natur vergewaltigen, um Christ zu sein. Alles, was gut ist, mag es auch noch so unbedeutend sein, birgt einen menschlichen und göttlichen Sinn. Christus, vollkommener Mensch, ist nicht gekommen, um das Menschliche zu zerstören, sondern um es zu adeln, indem Er unsere menschliche Natur, ausgenommen die Sünde, annahm; Er ist gekommen, alles Mühen der Menschen zu teilen, nur nicht den traurigen Irrweg des Bösen.
Der Christ muß immer bereit sein, die Gesellschaft von innen her zu heiligen, da er ja voll und ganz in der Welt ist, wenn auch nicht von der Welt – jener Welt, in der Gott geleugnet wird, in der man sich seinem liebenswerten Erlösungswillen widersetzt; nicht weil die Welt so geschaffen worden wäre, sondern weil sie durch die Sünde so geworden ist.

126 Das Fest der Himmelfahrt des Herrn zeigt uns noch eine andere Wirklichkeit: Derselbe Christus, der uns die Welt als Aufgabe übertragen hat, erwartet uns im Himmel.
Mit anderen Worten: das Leben hier auf Erden, das wir lieben, ist nicht das endgültige; wir haben ja hier keine bleibende Heimat, sondern suchen die zukünftige [Hebr 13,14]dauernde Wohnstatt.
Hüten wir uns jedoch, das Wort Gottes aus einem verengten Blickwinkel heraus zu deuten. Der Herr will nicht, daß wir während dieser Wanderschaft unglücklich sind und Trost allein im Jenseits erhoffen. Gott will, daß wir bereits hier glücklich sind, aber voller Verlangen nach der endgültigen Erfüllung in jener anderen Glückseligkeit, die nur Er ganz geben kann.
Das Betrachten der übernatürlichen Wirklichkeiten, das Wirken der Gnade in unserer Seele, die Liebe zum Nächsten als köstliche Frucht der Liebe zu Gott geben uns schon hier einen Vorgeschmack des Himmels, einen Anfangsgrund, der von Tag zu Tag zunehmen wird. Wir Christen führen kein Doppelleben: Unser Leben bildet eine Einheit, die all unser Tun trägt und durchdringt.
Christus erwartet uns. Laßt uns bereits jetzt wie Bürger des Himmels leben [Phil 3,20], indem wir vollkommen als Bürger der Erde leben inmitten von Schwierigkeiten, Ungerechtigkeit und Unverständnis, aber auch inmitten der Freude und Gelassenheit, die aus dem Wissen kommen, daß Gott uns als seine Kinder liebt. Harren wir aus im Dienst unseres Gottes, und wir werden erleben, wie dieses friedbringende christliche Heer, dieses zur Miterlösung bestimmte Volk an Zahl und Heiligkeit zunimmt. Seien wir Menschen des Gebetes, die immer wieder mit dem Herrn Zwiesprache halten, indem wir vom ersten Gedanken des Tages bis zum letzten des Abends fortwährend unser Herz bei Ihm haben. Durch Maria, unsere Mutter, kommen wir zu Ihm und durch Ihn zum Vater und zum Heiligen Geist.
Wenn aber trotz allem die Himmelfahrt des Herrn in unserem Herzen einen Nachgeschmack von Bitternis und Traurigkeit zurücklassen sollte, dann wollen wir uns an seine Mutter wenden wie damals die Apostel: Sie kehrten nach Jerusalem zurück… und verharrten einmütig im Gebet mit Maria, der Mutter Jesu [Apg 1,12-14].

 «    DER GROSSE UNBEKANNTE    » 

(Homilie, gehalten am 25. Mai 1969, Pfingsten.)

127 Mit der Schilderung der Geschehnisse an jenem Pfingsttage, an dem der Heilige Geist in der Gestalt von Feuerzungen auf die Jünger des Herrn herabkam, läßt uns die Apostelgeschichte jene gewaltige Äußerung der Macht Gottes erleben, die am Anfang des Weges der Kirche in die Nationen steht. Damals offenbarte sich mit göttlicher Klarheit der Sieg über Tod und Sünde, den Christus durch seinen Gehorsam, sein Kreuzesopfer und seine Auferstehung errungen hatte.
Die Jünger, bereits Zeugen der Herrlichkeit des Auferstandenen, empfingen nunmehr die Kraft des Heiligen Geistes, ihr Verstand und ihr Herz öffneten sich einem neuen Licht.
Sie waren Christus gefolgt und hatten im Glauben seine Lehre angenommen, aber nicht immer vermochten sie diese Lehre ganz zu erfassen: noch mußte der Geist der Wahrheit kommen, der sie in die volle Wahrheit einführen würde [Vgl. Jo 16,12-13]. Sie wußten, daß sie nur in Jesus Worte ewigen Lebens finden konnten, sie waren auch bereit, Ihm zu folgen und für Ihn das Leben hinzugeben, aber sie waren schwach und, als die Stunde der Prüfung kam, waren sie geflohen, hatten sie Ihn allein gelassen. Am Pfingsttag war all dies vorüber: Der Heilige Geist, der Geist der Stärke, hat ihnen Standhaftigkeit, Sicherheit und Kühnheit gegeben. Auf den Straßen und Gassen Jerusalems hört man das mutige und gewinnende Wort der Apostel.
Männer und Frauen aus vielen Gegenden, die an jenen Tagen in Jerusalem weilen, hören und staunen. Wir Parther und Meder und Elamiten, wir Bewohner von Mesopotamien, von Judäa und Kapadozien, von Pontus und Asien, von Phrygien und Pamphylien, Ägypten und den Landstrichen Libyens gegen Cyrene hin, wir hier weilenden Römer, wir Juden und Proselyten, Kreter und Araber: wir hören sie in unseren Zungen die Großtaten Gottes reden [Apg 2,9-11]. Die Wunder, die vor ihren Augen geschehen, wecken ihre Aufmerksamkeit für die Predigt der Apostel. Derselbe Heilige Geist, der in den Jüngern des Herrn wirkt, berührt ihre Herzen und führt sie zum Glauben.
Lukas berichtet, daß viele Menschen, die das Zeugnis des Petrus über die Auferstehung Christi gehört hatten, näher kamen und fragten: Was sollen wir tun, Brüder?
Der Apostel antwortete: Bekehrt euch, und ein jeder von euch lasse sich taufen auf den Namen Jesu Christi zur Vergebung der Sünden: dann werdet ihr die Gabe des Heiligen Geistes empfangen.
An jenem Tag – so schließt der Bericht – wurden etwa dreitausend Menschen in die Kirche aufgenommen [Vgl. Apg 2,37-41].
Das machtvolle Kommen des Heiligen Geistes am Pfingsttage war kein isoliertes Geschehen. Es gibt kaum eine Seite der Apostelgeschichte, auf der nicht von Ihm und seinem Wirken gesprochen wird, welches Leben und Wandel der urchristlichen Gemeinde leitet und beseelt: Er gibt Petrus das Wort der Verkündigung ein [Vgl. Apg 4,8], Er stärkt den Glauben der Jünger [Vgl.Apg 4,31], Er besiegelt mit seinem Kommen den Ruf an die Heiden [Vgl. Apg 10,44-47], Er sendet Paulus und Barnabas in entfernte Länder, damit sie der Lehre Christi neue Wege öffnen [Vgl. Apg 13,2-4]. Seine Gegenwart und sein Wirken sind allbeherrschend.

Was Pfingsten für uns bedeutet

128 Die tiefe Wirklichkeit, die uns diese Texte der Heiligen Schrift erschließen, ist nicht Erinnerung an Vergangenes, nicht ein goldenes Zeitalter der Kirche, das in der Geschichte versunken ist. Diese Wirklichkeit ist trotz der Armseligkeiten und der Sünden eines jeden von uns die Wirklichkeit der Kirche heute und zu allen Zeiten. Ich werde den Vater bitten, und Er wird euch einen anderen Helfer geben, damit Er in Ewigkeit bei euch bleibe [Jo 14,16], sagte der Herr zu seinen Jüngern. Jesus Christus hat seine Verheißungen erfüllt: Er ist auferstanden, in den Himmel aufgefahren, und in der Einheit des ewigen Vaters sendet Er uns den Heiligen Geist, auf daß Er uns heilige und das Leben gebe.
Die Kraft und die Macht Gottes erhellen das Angesicht der Erde. Der Heilige Geist steht fortwährend der Kirche Christi bei, damit sie immer und in allem das erhobene Zeichen für die Völker sei, das den Menschen die Güte und die Liebe Gottes verkündigt [Vgl Is 11,12].
Mag unsere Enge auch noch so bedrückend sein, wir Menschen dürfen mit Vertrauen auf den Himmel blicken und voll Freude sein: denn Gott liebt uns und befreit uns von unseren Sünden. Die Gegenwart und das Wirken des Heiligen Geistes in der Kirche sind Unterpfand und Verheißung der ewigen Seligkeit, der Freude und des Friedens, die Gott uns bereitet.
Auch wir haben die Taufe empfangen wie jene der ersten Stunde, die am Pfingsttage zu Petrus kamen. In der Taufe hat Gott, unser Vater, von unserem Leben Besitz ergriffen, es dem Leben Christi eingegliedert und uns den Heiligen Geist gesandt. Wie uns die Heilige Schrift sagt: Gott hat uns zum Heile geführt durch das Bad der Wiedergeburt und der Erneuerung im Heiligen Geist, den Er in reichem Maße über uns ausgegossen hat durch Jesus Christus, unseren Heiland; so sollten wir, gerechtfertigt durch seine Gnade, der Hoffnung gemäß Erben des ewigen Lebens werden [Tit 3,5-7].
Aber die Erfahrung der eigenen Schwäche und Fehlerhaftigkeit, die Ernüchterung, die die schmerzliche Engstirnigkeit oder gar die Niedertracht mancher, die sich Christen nennen, verursacht, ein scheinbares Scheitern oder die Verwirrung, die in dieser oder jener apostolischen Unternehmung herrscht, kurz, die Berührung mit der Wirklichkeit der Sünde und der menschlichen Beschränktheit kann zu einer Probe für den Glauben werden und Versuchung und Zweifel aufkommen lassen: Wo sind in all dem die Kraft und die Macht Gottes? In einem solchen Augenblick müssen wir noch lauterer und noch fester die Hoffnung leben und so versuchen, unsere Treue noch beständiger zu machen.

129 Erlaubt mir, daß ich euch ein persönliches Erlebnis erzähle, das schon viele Jahre zurückliegt. Ein Freund, ein guter Mensch, aber ohne Glauben, sagte mir eines Tages, während er auf eine Weltkarte zeigte: Sehen Sie, von Norden bis Süden, von Osten bis WestenWas soll ich sehen? fragte ich ihn. Und er antwortete: Das Scheitern Christi. Seit so vielen Jahrhunderten versucht man, seine Lehre im Leben der Menschen wirksam sein zu lassen, und sehen Sie nun das Ergebnis. Zunächst überkam mich Traurigkeit; es ist wirklich schmerzlich zu sehen, wie viele Menschen Christus noch nicht kennen und wie viele, die Ihn kennen, so leben, als kennten sie Ihn nicht.
Aber dieses Gefühl dauerte nur einen Moment und wich dann der Liebe und Dankbarkeit, denn Jesus hat in seinem Erlösungswerk den Menschen als Mitarbeiter in Freiheit haben wollen. Er ist nicht gescheitert: Jesu Lehre und Leben befruchten immerfort die Welt, und die Erlösung – sein Werk – ist ausreichend und überfließend.
Gott will keine Sklaven, sondern Kinder, und Er respektiert so unsere Freiheit. Die Erlösung hört nicht auf, und wir nehmen an ihr teil; nach dem Willen Christi müssen wir an unserem Fleisch, an unserem Leben das ausfüllen, was an seinem Leiden noch fehlt, wie uns Paulus mit starken Worten sagt – und zwar pro Corpore eius, quod est Ecclesia, zugunsten seines Leibes, der die Kirche ist [VgI. KoI 1,24].
Es lohnt sich, das Leben aufs Spiel zu setzen, sich ganz hinzugeben, um so der Liebe und dem Vertrauen zu entsprechen, die Gott uns geschenkt hat. Vor allem lohnt es sich, daß wir uns entschließen, unseren christlichen Glauben ernst zu nehmen. Wenn wir das Credo beten, bekennen wir unseren Glauben an Gott, den allmächtigen Vater, an seinen Sohn Jesus Christus, der gestorben und auferstanden ist, und an den Heiligen Geist, den Herrn und Lebensspender. Wir bekennen, daß die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche der Leib Christi ist, vom Heiligen Geist beseelt. Wir bekennen freudig den Nachlaß der Sünden und die Hoffnung auf das ewige Leben. Aber: dringen diese Wahrheiten bis ins Herz, oder bleiben sie an den Lippen hängen? Die göttliche Botschaft des Pfingstfestes, die Sieg, Freude und Frieden verkündet, muß das unverbrüchliche Fundament im Denken, im Handeln, im ganzen Leben jedes Christen sein.

Die Kraft Gottes und die Not des Menschen

130 Non est abbreviata manus Domini, der Arm Gottes ist nicht kürzer geworden [Is 59,1]: Gott hat heute nicht weniger Macht als in früheren Zeiten, Er liebt die Menschen nicht weniger als damals. Unser Glaube lehrt uns, daß die ganze Schöpfung, das Kreisen der Erde und der Gestirne, das gute Streben des Menschen und der Fortschritt in der Geschichte, daß alles von Gott kommt und auf Ihn hinzielt.
Es ist möglich, daß das Wirken des Heiligen Geistes von uns unbemerkt bleibt, da Gott uns seine Pläne nicht eröffnet und die Sünde im Menschen die Gaben Gottes trübt und verdunkelt. Aber der Glaube erinnert uns daran, daß der Herr ständig wirkt: Er hat uns erschaffen und erhält uns im Sein, und mit seiner Gnade führt Er die ganze Schöpfung zur Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes [Vgl. Röm 8,21].
Deshalb faßt die christliche Überlieferung die geschuldete Haltung des Menschen gegenüber dem Heiligen Geist mit einem einzigen Ausdruck zusammen: Fügsamkeit. Dies bedeutet Empfänglichsein für alles, was der Geist Gottes in und um uns anregt: für die Gaben, die Er austeilt, für die Bewegungen und Zusammenschlüsse von Menschen, die Er entstehen läßt, für die Regungen und Entscheidungen, die Er uns gibt. Der Heilige Geist wirkt in der Welt die Werke Gottes; Er ist, wie uns die Liturgie sagt, Spender der Gaben, Licht der Herzen und Gast der Seele, Ruhe für den Ermüdeten und Trost für den Weinenden. Ohne seinen Beistand gibt es nichts, was lauter und wertvoll wäre im Menschen, denn Er reinigt, was befleckt ist, heilt, was verwundet ist, entzündet, was erkaltet ist, lenkt, was da irregeht. Er führt die Menschen zum Hafen des Heiles und der ewigen Seligkeit [Aus der Sequenz Veni Sancte Spiritus der Pfingstmesse].
Unser Glaube an den Heiligen Geist muß aber ganz sein; ein diffuses Gefühl seiner Gegenwart in der Welt genügt nicht, vielmehr ist die dankbare Bejahung jener Zeichen und Wirklichkeiten nötig, mit denen Er seine Kraft in besonderer Weise hat verbinden wollen.
Wenn der Geist der Wahrheit kommt, sagte der Herr, wird Er mich verherrlichen, weil Er von dem Meinigen nehmen und euch verkünden wird [Jo 16,14]. Der Heilige Geist ist der Geist, den Christus sandte, auf daß Er in uns das Heil wirke, das uns Christus auf Erden verdient hat.
Es kann daher keinen Glauben an den Heiligen Geist geben, wo nicht Glaube an Christus ist, Glaube an die Lehre Christi, die Sakramente Christi, die Kirche Christi. Es fehlt der Zusammenhalt des christlichen Glaubens, und es gibt keinen wahren Glauben an den Heiligen Geist, wenn einer die Kirche nicht liebt, kein Vertrauen in sie hat, sich nur darin gefällt, auf die Fehler und Mängel ihrer Repräsentanten hinzuweisen, und wenn er als Außenstehender ein Urteil über sie fällt, ohne imstande zu sein, sich als Kind der Kirche zu fühlen.

131 Wir Christen tragen die kostbaren Schätze der Gnade in irdenen Gefäßen [Vgl. 2 Kor 4,7].
Gott hat seine Gaben der zerbrechlichen und schwachen menschlichen Freiheit anvertraut; auch wenn der Herr uns mit seiner Kraft beisteht, versperren manchmal unsere Begierde, unsere Bequemlichkeit und unser Hochmut den Weg der Gnade und verleiten uns zur Sünde. Schon seit langem, seit etwa 25 Jahren habe ich die Gewohnheit, wenn ich das Credo bete und die Göttlichkeit der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche bekenne, einen kurzen Zusatz hinzuzufügen: trotz allem. Wenn ich dies jemandem erzähle und er mich fragt, was ich damit meine, antworte ich ihm: deine Sünden und meine Sünden.
Mag dies auch noch so wahr sein, es berechtigt uns nicht dazu, über die Kirche rein menschlich und ohne den übernatürlichen Glauben zu urteilen, den Blick nur auf den höheren oder niedrigeren Fähigkeitsgrad mancher Amtsträger und mancher anderer Christen gerichtet. Dies würde bedeuten, an der Oberfläche zu bleiben. Das Wichtigste in der Kirche ist nicht der Blick für die Antwort der Menschen, sondern der Blick für das Handeln Gottes. Die Kirche ist Christus unter uns, sie ist Gott, der auf die Menschheit zugeht, um sie dadurch zu heilen, daß Er uns mit seiner Offenbarung ruft, mit seiner Gnade heiligt und uns erhält durch seinen immerwährenden Beistand in den kleinen und großen Kämpfen des Alltags.
Es kann dahin kommen, daß wir den Menschen mißtrauen – ja, jeder muß sich selbst mißtrauen und den Tag mit einem mea culpa, mit einem tiefen und aufrichtigen Reueakt beschließen; aber wir haben nicht das Recht, Gott zu mißtrauen. Und es hieße, an Gott zweifeln, und es wäre mangelnder Glaube an das Gekommensein des Heiligen Geistes, würden wir die Kirche, ihren göttlichen Ursprung und die Heilsmächtigkeit ihrer Verkündigung und ihrer Sakramente in Zweifel ziehen.
Bevor Christus gekreuzigt wurde – schreibt Johannes Chrysostomus –, gab es keine Versöhnung. Und solange es Versöhnung nicht gab, wurde der Heilige Geist nicht gesandt… Die Abwesenheit des Heiligen Geistes war Zeichen des göttlichen Zornes. Jetzt, wenn du siehst, daß Er in Fülle gesandt wurde, zweifle nicht an der Versöhnung. Man mag fragen: Wo ist denn jetzt der Heilige Geist? DamaIs, als Wunder geschahen, Tote zum Leben erweckt und Aussätzige geheilt wurden, konnte man von seiner Gegenwart sprechen. Aber wie sollen wir jetzt wissen, daß Er wirklich anwesend ist? Seid unbesorgt, ich will euch zeigen, daß der Heilige Geist auch jetzt unter uns ist…
Wenn es den Heiligen Geist nicht gäbe, könnten wir nicht sagen: Herr Jesus, "denn keiner kann sagen: Jesus ist der Herr! außer im Heiligen Geiste" (1 Kor 12, 3). Wenn es den Heiligen Geist nicht gäbe, könnten wir nicht mit Vertrauen beten. Denn, wenn wir beten, sagen wir: „Unser Vater im Himmel" (Mt 6, 9). Wenn es den Heiligen Geist nicht gäbe, könnten wir Gott nicht Vater nennen. Und wie wissen wir das ? Weil uns der Apostel lehrt: „Weil ihr Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: Abba, Vater!" (GaI 4, 6).
Wenn du also Gott den Vater anrufst, bedenke, daß es der Geist gewesen ist, der deine Seele berührt und dir dieses Gebet eingegeben hat. Wenn es den Heiligen Geist nicht gäbe, würde es in der Kirche kein einziges Wort der Weisheit oder des Wissens geben, denn es steht geschrieben: „Durch den Geist wird Weisheitsrede gegeben" (1 Kor 12, 8) … Wenn der Heilige Geist nicht anwesend wäre, würde es keine Kirche geben. Wenn es aber Kirche gibt, so ist es sicher, daß der Heilige Geist nicht fehlt
[Johannes Chrysostomus, Sermones panegyrici in solemnitates D. N. Jesu Christi, hom. 1, De Sancta Pentecoste, Nr. 3-4 (PG 50,457)].
Über alle Fehler und alle Beschränktheit des Menschen hinweg ist die Kirche – ich wiederhole es – das Zeichen und im gewissen Sinne – wenn auch nicht im strengen Sinne der dogmatischen Definition über die sieben Sakramente des Neuen Bundes – Sakrament: das Ursakrament der Gegenwart Gottes in der Welt. Christsein bedeutet, aus Gott wiedergeboren sein und zu den Menschen gesandt sein, um ihnen das Heil zu verkünden. Hätten wir einen starken, lebendigen Glauben und würden wir mit Kühnheit Christus verkünden, dann sähen auch unsere Augen Wunder, Wunder wie damals zur apostolischen Zeit.
Denn auch heute werden Blinde geheilt, die es nicht mehr vermochten, aufzublicken und die Großtaten Gottes zu sehen; Lahme werden befreit, die an ihre Leidenschaften gefesselt waren und die Fähigkeit zur Liebe verloren hatten; Taube hören wieder, die nichts von Gott wissen wollten; Stumme erlangen die Sprache, deren Zunge gebunden war durch die Weigerung, Niederlagen einzugestehen; Tote stehen auf, denen die Sünde das Leben genommen hatte. Wieder einmal erfahren wir es, voll Leben ist Gottes Wort und voll Kraft und schärfer als jedes zweischneidige Schwert [Hebr 4,12]. Wie die ersten Christen freuen wir uns, staunend über die Kraft des Heiligen Geistes und über sein Wirken im Verstand und im Herzen der Geschöpfe.

Jede Generation muß ihre Zeit heiligen

132 Alle Geschehnisse des Lebens – jene der persönlichen Existenz und in etwa auch die entscheidenden Stunden der Geschichte – erscheinen mir als Anrufe, die Gott an die Menschen richtet, sich der Wahrheit zu stellen; und gleichzeitig sind sie Gelegenheiten für uns Christen, durch Werke und Worte mit Hilfe der Gnade zu verkünden, wes Geistes wir sind [Vgl. Lk 9,55].
Jede Generation von Christen muß ihre eigene Zeit erlösen und heiligen. Hierzu müssen sie die Sorgen ihrer Mitmenschen verstehen und teilen, damit sie ihnen mit der Sprachengabe näherbringen können, wie sie auf das Wirken des Heiligen Geistes und auf den stets überfließenden Reichtum des göttlichen Herzens antworten können. Uns Christen fällt in unserer Zeit die Aufgabe zu, der Welt, in der wir sind und leben, die Botschaft des Evangeliums zu verkünden, die alt und zugleich immer neu ist.
Es stimmt nicht, daß die Menschen von heute – im allgemeinen, insgesamt – verschlossen oder gleichgültig wären für alles, was der christliche Glaube über Schicksal und Sein des Menschen lehrt; es ist nicht wahr, daß der Mensch unseres Zeitalters nur an das Irdische denkt und den Himmel vergißt. Auch wenn es nicht an in sich verschlossenen Ideologien und deren Verfechtern fehlt, finden wir in unserer Zeit neben Gemeinheit große Ideale, neben Feigheit Heroismus, neben Enttäuschung Sehnsucht; es gibt Menschen, die von einer neuen, gerechteren und menschlicheren Welt träumen, und Menschen, die, vielleicht aus Enttäuschung über das Scheitern ihrer ursprünglichen Ideale, zu egoistischer Ruhe Zuflucht nehmen oder dem Irrtum verhaftet bleiben.
Allen diesen Menschen, überall, wo sie sind, und gleichgültig, ob wir sie in einem Augenblick des Jubels oder einer Niederlage antreffen, müssen wir die feierlichen und bestimmten Worte des Apostels Petrus in der Zeit nach Pfingsten zurufen: Christus ist der Eckstein, der Erlöser, die Fülle unseres Lebens, denn außerhalb von Ihm ist kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, in dem wir gerettet werden sollen [Apg 4,12].

133 Unter den Gaben des Heiligen Geistes gibt es eine, die wir Christen, so scheint mir, besonders nötig haben: die Gabe der Weisheit, die, da sie uns Gott kennen und kosten läßt, uns ermöglicht, in Wahrheit die Situationen und Geschehnisse unseres Lebens zu beurteilen. Wenn wir mit unserem Glauben konsequent wären, würde ein Blick in die Geschichte und in die Welt um uns in unseren Herzen unweigerlich die Gefühle hervorrufen, die das Herz Christi bewegten: Als Er die Volksscharen sah, wurde Er von Mitleid mit ihnen ergriffen, denn sie waren erschöpft und hingestreckt wie Schafe, die keine Hirten haben [Mt 9,36].
Der Christ sieht all das Gute, das es in der Menschheit gibt, er unterschätzt die lautere Freude nicht, er stellt sich nicht abseits vom irdischen Streben. Ja, er empfindet all dies im Innersten seiner Seele, er teilt und erlebt es mit besonderem Einfühlungsvermögen, denn keiner kennt wie er die Tiefen des menschlichen Geistes.
Der christliche Glaube verengt nicht den Geist, er beschneidet seine Impulse nicht, sondern steigert sie, da er ihren wahren und ursprünglichen Sinn enthüllt: Wir sind nicht zu irgendeiner Glückseligkeit bestimmt, sondern wir sind gerufen worden in das Innenleben Gottes hinein, um Gott den Vater, Gott den Sohn und Gott den Heiligen Geist zu erkennen und zu lieben, und im dreieinigen Gott alle Engel und alle Menschen.
Hier liegt die erstaunliche Kühnheit des christlichen Glaubens: Er verkündet den Wert und die Würde der menschlichen Natur und versichert, daß wir durch die Gnade, die uns zum Übernatürlichen erhebt, erschaffen wurden, um zur Würde der Kinder Gottes zu gelangen. Wahrhaftig eine unglaubliche Kühnheit, wäre sie nicht begründet im Heilsplan Gottes des Vaters, besiegelt durch das Blut Christi und bekräftigt und ermöglicht durch das ständige Wirken des Heiligen Geistes.
Wir müssen aus dem Glauben leben und in den Glauben hineinwachsen, so daß von einem jeden von uns, von jedem einzelnen Christen, das gesagt werden kann, was einer der großen Lehrer der Ostkirche geschrieben hat: So wie die durchsichtigen und lichten Körper strahlen und glänzen, wenn sie die Strahlen des Lichts empfangen, so werden die Seelen, die vom Heiligen Geist angeleitet und erleuchtet werden, selbst vergeistigt und können den anderen das Licht der Gnade bringen. Vom Heiligen Geist stammt die Erkenntnis der künftigen Dinge, das Verständnis der Geheimnisse, die Erfassung verborgener Wahrheiten, die Austeilung der Gaben, die himmlische Bürgerschaft, das Gespräch mit den Engeln. Von Ihm stammt die nie endende Freude, die Beharrlichkeit in Gott, die Gleichförmigkeit mit Gott – und das ist das Erhabenste, was man denken kann – das Gott-Werden [Basilius, De Spiritu Sancto, 9, 23 (PG 32, 110)].
Das Wissen um die Erhabenheit der menschlichen Würde – ins Unaussagbare gesteigert durch das Verfaßtwerden als Kinder Gottes aus Gnade – und die Demut bilden im Christen ein Ganzes, da das Heil und das Leben nicht aus unserer Kraft kommen, sondern aus dem göttlichen Gefallen. Diese Wahrheit darf nicht vergessen werden, denn sonst würde die Vergöttlichung entarten und zur Anmaßung, zum Hochmut und – früher oder später – zum geistigen Zusammenbruch führen angesichts der Erfahrung der eigenen Erbärmlichkeit und Schwäche.
Darf ich zu sagen wagen: Ich bin heilig? fragt der heilige Augustinus. Wenn ich das "heilig" im Sinne von "heiligmachend" und keines anderen Heiligmachers bedürftig nenne, dann wäre ich ein Prahler und Lügner, wenn aber "heilig" im Sinne von "geheiligt" genommen wird, gemäß den Worten des Buches Leviticus „Seid heilig, weil ich, Gott, heilig bin" dann sage voll Kühnheit auch der Leib Christi – bis zum letzten Menschen an den Enden der Erde – mit seinem Haupt und unter seinem Haupt; Ich bin heilig [Augustinus, Enarrationes in psalmos, 85, 4 (PL 37, 1084)].
Liebt die dritte Person der Allerheiligsten Dreifaltigkeit; hört im Tiefsten eurer Seele auf die göttlichen Eingebungen – Anregungen wie Vorwürfe; geht auf den Wegen der Erde mit dem Licht, das auf eure Seele fiel; und der Gott der Hoffnung wird uns mit allem Frieden erfüllen, auf daß wir überreich sind an Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Geistes [Vgl. Röm 15,13].

Umgang mit dem Heiligen Geist

134 Aus dem Heiligen Geist leben bedeutet, aus dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe leben, sich von Gott ergreifen lassen, damit Er von Grund auf unser Herz erneuere und es nach seinem Maß gestalte. Ein reifes, tiefes und starkes christliches Leben kann nicht improvisiert werden, denn es ist die Frucht des Wachsens der Gnade Gottes im Menschen. Die Apostelgeschichte beschreibt das Leben der christlichen Urgemeinde mit einem so kurzen wie bedeutungsvollen Satz: Sie verharrten in der Lehre der Apostel, in der brüderlichen Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet [Apg 2,42].
So lebten jene ersten Christen, und so müssen wir leben: Betrachten der Glaubenslehre, bis sie uns zum Besitz wird, Begegnung mit Christus in der Eucharistie, persönlicher Dialog – Heraustreten aus der Anonymität im Gebet – vor dem Angesicht Gottes, das soll der Urgrund unseres Verhaltens sein. Wo dies fehlt, wird man vielleicht gelehrte Reflexion, mehr oder weniger lebhafte Aktivität und Frömmigkeitsübungen finden, aber keine wahre christliche Existenz, denn es wird am Einswerden mit Christus, an einer wirklichen und gelebten Teilnahme am Heilswerk Gottes mangeln.
Diese Lehre gilt für alle Christen, denn wir alle sind im gleichen Maße zur Heiligkeit berufen. Es gibt keine Christen zweiter Klasse, die zu einer verwässerten Lebensform des Evangeliums verpflichtet wären; wir alle haben die gleiche Taufe empfangen, und innerhalb der Vielfalt der Gnadengaben und der menschlichen Lebensbedingungen teilt der eine Geist seine Gaben aus, eine ist der Glaube, eine die Hoffnung, eine die Liebe [Vgl. 1 Kor 12,4-6 und 13,1-13].
Wir können deshalb die Frage des Apostels als an uns gerichtet betrachten und sie als Aufforderung zu einem persönlicheren und unmittelbaren Umgang mit Gott aufnehmen: Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? [1 Kor 3,16] Leider ist der Heilige Geist für manche Christen der Große Unbekannte: ein Name, den man sagt, aber nicht ein Jemand – die dritte Person des einen Gottes –, mit dem man spricht und aus dem man lebt.
Was da nottut, ist vielmehr der gewohnte Umgang mit Ihm in Einfachheit und Vertrauen, so wie es uns die Kirche durch die Liturgie lehrt. Dann werden wir den Herrn besser kennen und uns der unaussprechlichen Gabe, Christ zu heißen, besser bewußt sein; wir erahnen dann die ganze Fülle und Wahrheit jener Vergöttlichung, jener Teilnahme am göttlichen Leben, von der wir sprachen.
Der Heilige Geist ist nicht wie ein Künstler, der in uns das Göttliche zeichnet, so, als ob es Ihm fremd wäre; nicht so führt uns der Heilige Geist zur göttlichen Gleichförmigkeit.
Er selbst, der Gott ist und aus Gott kommt, prägt sich vielmehr in die Herzen derer ein, die Ihn empfangen, so wie das Siegel sich in das Wachs einprägt. Durch die Selbstmitteilung und die Gleichförmigkeit stellt Er die Natur nach der Schönheit des göttlichen Urbildes wieder her und gibt dem Menschen das Bild Gottes wieder
[Cyrill von Alexandrien, Thesaurus de sancta et consubstantiali Trinitate, 34 (PG 75, 609)].

135 Wenn wir in großen Zügen einen Lebensstil umreißen wollen, der uns zum Umgang mit dem Heiligen Geist – und zusammen mit Ihm zum Umgang mit dem Vater und dem Sohn – führt, müssen wir drei Grundhaltungen hervorheben: Fügsamkeit – wir sprachen schon von ihr –, Gebetsleben, Liebe zum Kreuz.
Zuerst ist Fügsamkeit nötig, denn der Heilige Geist will mit seinen Eingebungen unseren Gedanken, Werken und Wünschen einen übernatürlichen Ton verleihen. Er treibt uns dazu an, die Lehre Christi zu bejahen und uns zutiefst anzueignen, Er erleuchtet uns, damit wir uns unserer persönlichen Berufung bewußt werden, und stärkt uns, damit wir tun, was Gott von uns erwartet. Wenn wir dem Heiligen Geist gegenüber fügsam sind, wird das Bild Christi in uns immer deutlicher Gestalt annehmen, und dann werden wir Gott dem Vater jeden Tag näher kommen. Alle, die sich vom Geiste Gottes leiten lassen, die sind Söhne Gottes [Röm 8,14].
Wenn wir uns von dem in uns wohnenden Lebenshauch, dem Heiligen Geist, leiten lassen, wird unser geistliches Leben immer weiter wachsen; wir werden uns dann der Hand Gottes, unseres Vaters, mit der Spontaneität und dem Vertrauen eines Kindes überlassen, das sich in die Arme seines Vaters wirft. Wenn ihr nicht wie die Kinder werdet, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen, sagt der Herr [Mt 18,3]. Dies ist der alte und doch immer aktuelle innere Weg der geistlichen Kindschaft, er ist weder kindisch noch unreif, sondern vielmehr Weg der übernatürlichen Mündigkeit, der uns zur Herrlichkeit der göttlichen Liebe führt, uns unsere Niedrigkeit anerkennen läßt und unseren Willen mit dem Willen Gottes gleichförmig macht.

136 Sodann ist Gebetsleben nötig, denn die Hingabe, der Gehorsam und die Milde des Christen kommen aus der Liebe und führen zu ihr hin. Diese Liebe will Umgang, Gespräch, Freundschaft. Das christliche Leben verlangt einen ständigen Dialog mit dem dreieinigen Gott, und zu diesem innigen Verbundensein führt uns der Heilige Geist.
Welcher Mensch weiß, was im Menschen ist, als nur der Geist des Menschen, der in ihm ist? So erkennt auch keiner, was in Gott ist, als nur der Geist Gottes [1 Kor 2,11]. Durch den vertrauten Umgang mit dem Heiligen Geist werden wir selbst vergeistigt, fühlen wir uns als Brüder Christi und Kinder Gottes, den wir ohne Zaudern unseren Vater nennen [Vgl. Gal 4,6; Röm 8,15].
Gewöhnen wir uns an den Umgang mit dem Heiligen Geist, denn Er soll uns heiligen; haben wir Vertrauen zu Ihm, bitten wir um seinen Beistand, spüren wir seine Nähe. Unser Herz wird weit und unser Verlangen stärker werden, Gott und durch Gott alle Menschen zu lieben. So wird in unserem Leben jene Vision gegenwärtig sein, mit der die Geheime Offenbarung schließt: Der Geist und die Braut, der Heilige Geist und die Kirche – und jeder Christ – wenden sich an Jesus, wenden sich an Christus und bitten Ihn, Er möge kommen und für immer bei uns bleiben [Vgl. Offb 22, 17].

137 Liebe zum Kreuz schließlich, denn im Leben Christi ging der Auferstehung und Pfingsten das Golgotha voraus, und so muß es auch im Leben des Christen sein. Wir sind Miterben Christi, wie Paulus sagt, sofern wir mit Ihm leiden, um mit Ihm auch verherrlicht zu werden [Röm 8,17]. Der Heilige Geist ist Frucht des Kreuzes, der Ganzhingabe an Gott, der ausschließlichen Suche seiner Ehre und der gänzlichen Preisgabe unserer selbst.
Wenn der Mensch sich in Treue gegenüber der Gnade entschieden hat, das Kreuz in der Mitte seines Ichs aufzurichten, aus Liebe zu Gott sich selbst zu verleugnen, sich vom Egoismus zu lösen und von jeder trügerischen menschlichen Sicherheit, und wenn er so wirklich aus dem Glauben lebt, dann und nur dann empfängt er in Fülle das Feuer, das Licht und den Trost des Heiligen Geistes.
Dann erfüllt sich die Seele mit jenem Frieden und jener Freiheit, die Christus für uns errungen hat [Vgl. Gal 4,31], und die wir mit der Gnade des Heiligen Geistes empfangen. Die Frucht des Geistes ist: Liebe, Freude, Friede, Langmut, Milde, Güte, Treue, Sanftmut, Enthaltsamkeit [Gal 5,22-23]. Wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit [2 Kor 3,17].

138 Mitten in der Begrenztheit unseres gegenwärtigen Standes, in dem die Sünde noch wirksam ist, kann der Christ mit neuer Klarheit den Reichtum seiner Gotteskindschaft vernehmen, wenn er sich als Freier sieht, der frei in den Dingen seines Vaters arbeitet, und wenn seine Freude beständig wird, weil es nichts gibt, das seine Hoffnung zerstören könnte.
Genau dann ist der Christ auch fähig, die Schönheiten und Herrlichkeiten der Erde zu bewundern, ihren Reichtum und ihr Gutsein zu begreifen und mit jener Macht und Reinheit zu lieben, für die unser menschliches Herz geschaffen ist. Dann entartet der Schmerz angesichts der Sünde nicht in Verzweiflung oder Überheblichkeit, weil uns die Zerknirschung und das Bewußtsein der eigenen Schwachheit dazu führen, uns von neuem mit dem Erlösungswillen Christi zu vereinigen und unsere Solidarität mit allen Menschen tiefer zu erfahren. Dann schließlich erfährt der Christ die innere Sicherheit aus der Kraft des Heiligen Geistes und läßt sich nicht durch sein eigenes Stolpern bezwingen; sein Stolpern ist vielmehr Aufforderung zu einem neuen Anfang und zu einer erneuten Treue aIs Zeuge Christi auf allen Wegen der Erde, und dies trotz unseres persönlichen Versagens; eines Versagens, das in diesen Fällen meist nur in leichten Verfehlungen bestehen wird, die unsere Seele kaum beflecken; aber selbst wenn es sich um schwere Fehler handeln sollte, erlangt der Christ im reumütigen Empfang des Sakramentes der Buße den Frieden mit Gott zurück und kann von neuem ein tauglicher Zeuge der göttlichen Barmherzigkeit sein.
Dies ist – gedrängt und mit allen Unzulänglichkeiten der menschlichen Sprache – der Reichtum des Glaubens und des Lebens eines Christen, der sich vom Heiligen Geist leiten läßt. Ihn erschöpfend darzustellen, ist unmöglich. So können wir zum Abschluß nichts anderes tun, als uns dem anzuschließen, was die Liturgie uns am Pfingsttag wie ein Echo des ständigen Gebetes der ganzen Kirche beten läßt: Komm, Schöpfer Geist, suche den Geist der Deinigen heim und erfülle mit himmlischer Gnade die Herzen, die Du erschaffen hast. Gib, daß wir durch Dich vom Vater wissen, daß wir auch den Sohn erkennen und daß wir an Dich, den Geist aus beiden hervorgehend, immer glauben [Aus dem Hymnus Veni Creator Spiritus des Offiziums vom Pfingsttage].

 «    DURCH MARIA ZU JESUS    » 

(Homilie, gehalten am 4. Mai 1957.)

139 Ein Blick auf die Welt, auf das Volk Gottes [Vgl. 1 Petr 2,10] in diesem Monat Mai, der jetzt beginnt, genügt, und wir werden das Schauspiel der Andacht zu Maria gewahr, das in zahllosen Bräuchen seinen Ausdruck findet. Sie alle – alt oder neu – spiegeln dieselbe Liebe zur Gottesmutter wider.
Es macht Freude zu sehen, daß die Andacht zu Maria stets lebendig ist und die Herzen der Gläubigen anspornt, als domestici Dei zu handeln, als Glieder derselben Familie Gottes [Eph 2,19].
Auch ihr werdet euch dabei sicherlich mehr zur Kirche gehörig fühlen, mehr als Brüder all eurer Brüder, die in diesen Tagen in vielfältiger Weise ihrer Zuneigung zu Maria Ausdruck geben.
Wie bei einem Familienfest finden sich die älteren Brüder, die durch die Umstände des Lebens voneinander getrennt wurden, wieder bei ihrer Mutter ein. Und wenn sie auch hin und wieder Streit hatten und einander unfreundlich behandelten: an diesem Tag fühlen sie sich einig, an diesem Tag finden sie zueinander in gegenseitiger Zuneigung.
Maria hört nicht auf, die Kirche zu festigen und zu einen. Es ist kaum möglich, die Gottesmutter wirklich zu verehren, ohne sich den übrigen Gliedern des mystischen Leibes enger verbunden zu fühlen, enger verbunden auch mit dem sichtbaren Haupt dieses Leibes, dem Papst. Deshalb wiederhole ich gern: omnes cum Petro ad Iesum per Mariam, alle mit Petrus zu Jesus durch Maria! Und indem wir uns als Glieder der Kirche wissen und uns als Brüder im Glauben fühlen, begreifen wir die Brüderlichkeit tiefer, die uns mit der ganzen Menschheit verbindet, denn die Kirche wurde durch Christus zu allen Menschen und zu allen Völkern gesandt [Vgl. Mt 28,19].
All dies hat jeder von uns bereits an sich selbst erfahren, und wir konnten oft genug die übernatürliche Wirkung einer echten Andacht zu Maria feststellen. Jeder von uns wüßte vieles zu erzählen. So erinnere ich mich an eine Wallfahrt, die ich 1933 zu einer Muttergotteskapelle in Kastilien machte: nach Sonsoles.
Es war keine Wallfahrt im gewohnten Stil. Wir gingen nur zu dritt. Ich respektiere und schätze jene öffentlichen Erweise der Frömmigkeit, aber ich ziehe es vor, Maria durch persönliche Besuche oder in kleinen Gruppen dieselbe Liebe und Begeisterung zu erweisen – in der Stille und Abgeschiedenheit persönlicher Hingabe.
Bei dieser Wallfahrt nach Sonsoles erfuhr ich, warum dort die Jungfrau unter diesem Namen verehrt wird. Ein unbedeutendes Detail vielleicht, aber ein Beweis für die kindliche Liebe der Menschen jener Gegend. Das Muttergottesbild, das in Sonsoles verehrt wird, wurde während der Kämpfe zwischen Christen und Mohammedanern eine Zeitlang in Spanien versteckt gehalten. Als einige Hirten Jahre später, wie die Überlieferung erzählt, das Standbild wiederfanden, riefen sie aus: Was für wunderbare Augen! Wie Sonnen! – Son soles!

Mutter Christi, Mutter der Christen

140 Seit diesem Jahr 1933 habe ich bei zahlreichen und mir zur Gewohnheit gewordenen Wallfahrten zu Heiligtümern Unserer Lieben Frau über die Liebe nachgedacht, die so viele Christen der Mutter Jesu erweisen. Und es wurde mir immer wieder aufs neue klar, daß diese Zuneigung eine Antwort voll Liebe ist, ein kindlicher Dank an Maria. Denn Maria ist ganz eng verbunden mit dem allergrößten Liebeserweis Gottes: mit der Menschwerdung des Wortes, das sich uns gleichmachte und unser Elend und unsere Sünden auf sich nahm. Dem göttlichen Auftrag getreu, zu dessen Erfüllung sie erschaffen wurde, diente und dient Maria den Menschen, die alle dazu berufen sind, Brüder Jesu, ihres Sohnes, zu sein. So ist die Mutter Gottes jetzt auch wirklich Mutter der Menschen.
So ist es, denn so wollte es der Herr. Und der Heilige Geist ließ es für alle Zeiten und Geschlechter festhalten: Es standen aber bei dem Kreuze Jesu seine Mutter und die Schwester seiner Mutter, Maria (die Frau des Kleophas) und Maria Magdalena. Als Jesus nun die Mutter und den Jünger, den Er liebte, dastehen sah, sagte Er zur Mutter: "Frau, da ist dein Sohn!" Dann sagte Er zu dem Jünger: "Da ist deine Mutter." Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich [Jo 19,25-27].
Johannes, dem Lieblingsjünger Jesu, wird Maria anvertraut; er nimmt sie in sein Haus und in sein Leben auf. Die geistlichen Schriftsteller wollten in den Worten des Evangeliums eine Einladung an alle Christen sehen, Maria gleichfalls in unser Leben aufzunehmen. Man braucht kaum diese Erklärung zu geben, denn es besteht kein Zweifel daran: Maria will, daß wir zu ihr flehen, uns voll Vertrauen an sie wenden, sie als unsere Mutter anrufen und sie bitten, sich als unsere Mutter zu erweisen [Monstra te esse Matrem (Hymnus Ave maris stella)].
Doch sie ist eine Mutter, die sich nicht lange bitten läßt, die unseren Bitten sogar zuvorkommt, weil sie all unsere Nöte kennt und uns gleich zu Hilfe eilt, um so durch ihr Tun zu beweisen, daß sie ständig an ihre Kinder denkt. Jeder von uns könnte in seinem eigenen Leben viele Motive dafür finden, sich in ganz besonderer Weise als Kind Mariens zu fühlen.

141 Die Texte der Heiligen Schrift, in denen von Maria die Rede ist, zeigen uns sehr deutlich, wie die Mutter Jesu ihren Sohn ständig begleitet, wie sie sich mit Ihm als dem Erlöser zu verbinden weiß, wie sie sich mit Ihm freut und mit Ihm leidet, wie sie jene liebt, die auch Jesus liebt, und wie sie sich mit mütterlicher Sorgfalt um jene kümmert, die den Herrn begleiten.
Denken wir nur an die Hochzeit zu Kana. Unter den zahlreichen Gästen einer jener lauten Bauernhochzeiten, an der Leute aus mehreren Dörfern teilnehmen, bemerkt Maria als einzige, daß der Wein ausgeht [Vgl. Jo 2,3], und sie bemerkt es sofort. Wie vertraut kommen uns die Ereignisse im Leben Christi vor! Die Größe Gottes ist mitten im Alltäglichen zugegen, mitten im Gewöhnlichen. Es paßt zu einer Frau, und besonders zu einer umsichtigen Hausfrau, zu bemerken, wenn etwas fehlt, auf jene Kleinigkeiten zu achten, die das menschliche Leben angenehm machen. Und genau das finden wir bei Maria.
Außerdem ist es gerade der heilige Johannes, der uns diese Szene in Kana überliefert. Er ist der einzige Evangelist, der diesen Zug mütterlicher Sorgfalt festgehalten hat. Johannes möchte uns zeigen, daß Maria zugegen war, als der Herr sein öffentliches Wirken begann. Dies beweist uns, daß er die tiefe Bedeutung der Anwesenheit Mariens erfaßt hat. Jesus wußte, wem Er seine Mutter anvertraute: einem Jünger, der sie liebte, der gelernt hatte, sie wie seine eigene Mutter zu lieben, und der fähig war, sie zu verstehen.
Versetzen wir uns nun in die Zeit nach der Himmelfahrt des Herrn, in jene Zeit der Erwartung des Pfingstfestes. Der Triumph des Auferstandenen hatte den Glauben der Jünger gefestigt, und die Verheißung des Heiligen Geistes erfüllte sie mit Sehnsucht: Sie wollen spüren, daß sie zusammengehören, und so finden wir sie cum Maria Matre Jesu, mit Maria, der Mutter Jesu, vereint [Vgl. Apg 1,14]. Das Gebet der Jünger begleitet das Gebet Mariens: es ist das Gebet einer eng vereinten Familie.
Diesmal ist es der heilige Lukas, der uns die Szene schildert, jener Evangelist, der am ausführlichsten über die Kindheit Jesu berichtet. Es ist, als wolle er uns zu verstehen geben, daß Maria nicht nur bei der Menschwerdung des Wortes eine erstrangige Rolle gespielt hat, sondern, daß sie ganz ähnlich auch bei den Anfängen der Kirche, die ja der Leib Christi ist, zugegen war.
Vom ersten Augenblick des Lebens der Kirche an sind alle Christen, auf der Suche nach der Liebe Gottes, auf der Suche nach jener Liebe, die in Jesus Christus Fleisch geworden ist, Maria begegnet, und sie haben, jeder anders, ihre mütterliche Sorge erfahren. Die allerseligste Jungfrau Maria nennt sich mit Recht Mutter aller Christen. Der heilige Augustinus drückt es in folgenden Worten deutlich aus: Durch ihre Liebe wirkte sie mit zur Geburt der Gläubigen in der Kirche, zur Geburt der Glieder jenes Hauptes, dessen Mutter sie dem Fleische nach tatsächlich ist [Augustinus, De sancta virginitate, 6 (PL 40, 399)].
So kann es uns nicht verwundern, daß ein uns sehr vertrautes Gebet gerade eines der ältesten Zeugnisse für die Verehrung der Mutter Gottes ist. Es handelt sich um jene jahrhundertealte Antiphon, die wir noch heute beten: Unter deinen Schutz und Schirm fliehen wir, o heilige Gottesgebärerin, verschmähe nicht unser Gebet in unseren Nöten, sondern erlöse uns jederzeit von allen Gefahren, o du glorwürdige und gebenedeite Jungfrau [Sub tuum praesidium confugimus, Sancta Dei Genitrix: nostras deprecationes ne despicias in necessitatibus, sed a periculis cunctis libera nos semper, Virgo gloriosa et benedicta].

Leben mit Maria

142 Spontan und wie selbstverständlich fühlen wir uns zur Mutter Gottes hingezogen, die auch unsere Mutter ist. Wir möchten ihr wie einem lebendigen Menschen begegnen: denn über sie hat der Tod nicht triumphiert, sie ist vielmehr mit Leib und Seele bei Gott dem Vater, bei seinem Sohn und beim Heiligen Geist.
Um die Rolle Mariens im christlichen Leben zu begreifen, um uns zu ihr hingezogen zu fühlen, um mit kindlicher Zuneigung ihre Gegenwart zu suchen, bedarf es keiner langen Überlegungen, auch wenn das Geheimnis ihrer göttlichen Mutterschaft so tief und reich ist, daß wir niemals genug darüber nachdenken können.
Der katholische Glaube sieht in Maria ein bevorzugtes Zeichen der Liebe Gottes: Gott nennt uns schon jetzt seine Freunde; seine Gnade wirkt in uns, überwindet in uns die Sünde und gibt uns die Kraft, inmitten unserer Schwachheit – sind wir doch Staub und Elend – irgendwie das Antlitz Christi widerzuspiegeln. Wir sind nicht bloß Schiffbrüchige, denen Gott Rettung versprochen hat, sondern diese Rettung ist bereits wirksam in uns.
Unser Umgang mit Gott gleicht nicht dem eines Blinden, der sich nach dem Licht sehnt, doch ganz von der Not der Finsternis umfangen wird, sondern dem eines Sohnes, der sich von seinem Vater geliebt weiß.
Diese Herzlichkeit, dieses Vertrauen und diese Sicherheit finden wir bei Maria.
Deshalb trifft uns ihr Name geradewegs ins Herz. Das Verhältnis zu unserer eigenen Mutter kann uns Leitbild und Hinweis im Umgang mit Maria, unserer Herrin mit dem liebenswerten Namen sein. Wir müssen Gott mit demselben Herzen lieben, mit dem wir unsere Eltern und Geschwister, unsere Verwandten, unsere Freunde oder Freundinnen lieben; denn wir haben nur dieses eine Herz. Und mit eben diesem Herzen müssen wir uns an Maria wenden.
Wie begegnen denn normalerweise Kinder ihrer Mutter? Sehr verschieden, aber immer mit Feingefühl und Vertrauen; mit einem Feingefühl, das sich spontan, je nach der Situation immer anders äußert, niemals aber an Äußerlichkeiten haften bleibt: herzliche Erweise der Zusammengehörigkeit, alltägliche Kleinigkeiten, zu denen sich ein Kind seiner Mutter gegenüber gedrängt fühlt, und die eine Mutter vermißt, wenn es das eine oder andere Mal nicht daran denkt: ein Kuß, eine Zärtlichkeit beim Fortgehen oder Heimkommen, ein kleines Geschenk, ein paar liebevolle Worte.
Auch in unserem Verhalten zur Mutter im Himmel gibt es diese Weisen kindlicher Zuneigung, in denen wir ihr gewöhnlich begegnen. Viele Christen leben den alten Brauch, ein Skapulier zu tragen; manche haben es sich zur Gewohnheit gemacht, die Muttergottesbilder, die man in jedem christlichen Haus oder in den Straßen so vieler Städte antrifft, zu grüßen – Worte sind dazu nicht notwendig, es genügt ein kurzer Gedanke; andere beten den Rosenkranz, dieses schöne Gebet, bei dem man nicht müde wird, dieselben Dinge wie Verliebte immer aufs neue zu wiederholen und dabei die wichtigsten Augenblicke im Leben des Herrn zu betrachten; oder sie widmen einen bestimmten Tag der Woche Maria – gerade den, an dem wir heute versammelt sind: den Samstag –, um sich ihr erkenntlich zu zeigen und ganz besonders darüber nachzudenken, daß sie die Mutter Gottes und unsere Mutter ist.
Es gibt noch viele andere Andachtsformen zu Maria, die wir jetzt nicht aufzählen wollen. Nicht alle brauchen im Leben eines Christen ihren Platz zu finden – denn im inneren Leben wachsen bedeutet nicht, Andachten anhäufen –, aber andererseits möchte ich behaupten, daß niemand die Fülle des Glaubens lebt, ohne sich die eine oder andere dieser Andachten zu eigen gemacht zu haben, ohne seine Liebe zu Maria in irgendeiner Form unter Beweis zu stellen.
Wer die Andachten zur allerseligsten Jungfrau Maria für überholt hält, zeigt, daß ihm ihr tiefer christlicher Sinn verlorengegangen ist und er die Quelle, der sie entspringen, vergessen hat: den Glauben an den Heilswillen Gottes des Vaters, die Liebe zu Gott dem Sohn, der wirklich Mensch geworden und aus einer Frau geboren ist, und das Vertrauen auf Gott den Heiligen Geist, der uns heiligt mit seiner Gnade. Gott ist es, der uns Maria gegeben hat, und wir haben kein Recht, sie von uns zu weisen; vielmehr müssen wir uns in Liebe und Freude an sie wenden.

Kind werden in der Liebe zu Gott

143 Denken wir aufmerksam nach über diesen Punkt, der uns helfen kann, so Wichtiges zu verstehen. Das Geheimnis Mariens lehrt uns, daß wir uns klein machen müssen, wenn wir Gott näher kommen wollen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, rief der Herr seinen Jüngern zu, wenn ihr nicht wie die Kinder werdet, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen [Mt 18,3].
Wie die Kinder werden: den Hochmut und eine falsche Selbstgenügsamkeit aus uns verbannen; anerkennen, daß wir aus uns allein nichts vermögen, daß wir der Gnade Gottes, der Kraft Gottes des Vaters bedürfen, um unseren Weg zu erkennen und auf ihm auszuharren. Klein sein bedeutet, sich überlassen wie die Kinder, glauben wie die Kinder, bitten wie die Kinder.
All dies können wir von Maria lernen. Sie zu verehren ist deshalb nicht unmännlich.
Es bedeutet Trost und Jubel, die die Seele erfüllen; denn in dem Maße, wie die Marienverehrung eine tiefe und vollständige Glaubenshingabe verlangt, befreit sie uns von uns selbst und läßt uns unsere Hoffnung auf den Herrn setzen. Der Herr ist mein Hirt, singt der Psalmist, ich leide nicht Not. Auf grünender Weide läßt Er mich lagern, Er führt mich an Wasser der Ruhe, Erquickung spendet Er meiner Seele. Er leitet mich auf dem rechten Pfad, getreu seinem Namen. Und muß ich auch wandern im finsteren Tale, ich fürchte kein Unheil, denn Du bist bei mir [Ps 23,1-4].
Gerade weil Maria Mutter ist, lernen wir, wenn wir sie verehren, wie Kinder zu sein; lernen wir, wirklich und ohne Maß zu lieben, einfach zu sein und frei von Problemen, die ihren Grund in einem Egoismus haben, der uns nur an uns selbst denken läßt; lernen wir, froh zu sein im Bewußtsein, daß nichts unsere Hoffnung zerstören kann. Der Weg, der uns zur vollkommenen Liebe zu Gott führt, beginnt mit einer vertrauensvollen Liebe zu Maria.
Vor vielen Jahren habe ich dies in einem Kommentar zum Rosenkranz geschrieben, und immer wieder habe ich mich von der Wahrheit dieser Worte überzeugen können. Ich möchte jetzt keine langen Überlegungen zu diesem Thema anstellen, sondern euch einladen, dies selbst zu tun, selbst diese Wahrheit zu entdecken. Wendet euch an Maria, öffnet ihr euer Herz, vertraut ihr eure Freuden und eure Sorgen an und bittet sie, euch zu helfen, Jesus kennenzulernen und Ihm nachzufolgen.

144 Wenn ihr Maria sucht, werdet ihr Jesus finden. Und ihr werdet ein wenig besser verstehen, was das Herz eines Gottes erfüllt, der sich erniedrigt und darauf verzichtet, seine Macht und Majestät zu erweisen, um Knechtsgestalt anzunehmen [Vgl. Phil 2,6-7]. Menschlich gesprochen können wir sagen, daß Gott sich nicht auf das beschränkt, was zu unserer Rettung wesentlich und unumgänglich ist, sondern daß Er darüber hinausgeht und viel mehr tut als das unbedingt Notwendige. Das einzige Maß, mit dem wir diese Tat irgendwie messen und begreifen können, ist die Einsicht, daß sie maßlos ist, daß sie aus der Torheit seiner Liebe kommt, die Ihn unser Fleisch annehmen und unsere Sünden auf sich laden läßt.
Wie ist es möglich zu begreifen, daß Gott uns liebt, ohne gleichfalls aus Liebe den Verstand zu verlieren? Wir müssen uns von diesen Glaubenswahrheiten durchdringen lassen, bis sie unser ganzes Leben verwandelt haben. Gott liebt uns: der Allmächtige, der Himmel und Erde erschaffen hat!
Gott kümmert sich selbst um die kleinsten Dinge seiner Geschöpfe, um die euren und die meinen, und jeden einzelnen von uns ruft Er bei seinem Namen [Vgl. Is 43,1]. In dieser Gewißheit, die uns der Glaube verleiht, sehen wir unsere Umgebung mit anderen Augen und bemerken, daß zwar alles gleichgeblieben und trotzdem ganz anders ist, denn alles ist Ausdruck der Liebe Gottes.
So verwandelt sich unser Leben in ein immerwährendes Gebet, in ständige Heiterkeit und in bleibenden Frieden, in einen Akt der Danksagung während des ganzen Tages.
Hochpreiset meine Seele den Herrn, sang Maria, und mein Geist frohlockt in Gott, meinem Heiland. Denn Er hat herabgeschaut auf die Niedrigkeit seiner Magd. Denn siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Geschlechter. Denn Großes hat an mir getan der Mächtige, und heilig ist sein Name [Lk 1,46-49].
Unser Gebet kann sich mit diesem Gebet Mariens vereinen und es nachahmen. Wir werden wie sie den Wunsch verspüren zu singen, den Wunsch, die Großtaten Gottes zu verkünden, um die ganze Menschheit und alle Geschöpfe an unserem Glück teilhaben zu lassen.

Maria verbindet uns als Brüder

145 Es ist unmöglich, wie ein Kind Maria zu begegnen und dabei nur an sich selbst, nur an die eigenen Probleme zu denken. Es ist unmöglich, der Jungfrau zu begegnen und egoistische persönliche Probleme mit sich herumzutragen. Maria führt zu Jesus, primogenitus in multis fratribus, der Erstgeborene unter vielen Brüdern [Röm 8,29]. Jesus kennenlernen ist daher gleichbedeutend mit der Einsicht, daß unser Leben keinen anderen Sinn haben kann als den der Hingabe im Dienst am anderen. Ein Christ darf sich nicht bloß mit seinen persönlichen Problemen beschäftigen, er muß die ganze Kirche vor Augen haben und an die Rettung aller Menschen denken.
So gesehen sind sogar jene Dinge, die man als ganz privat und persönlich ansehen könnte, wie die Sorge um das eigene innere Wachstum, in Wirklichkeit nichts Persönliches, denn Heiligung und Apostolat bilden eine Einheit. Deshalb müssen wir uns in unserem inneren Leben anstrengen und uns um die christlichen Tugenden bemühen, bedacht auf das Wohl der ganzen Kirche; denn wir können nichts Gutes tun, noch den Namen Christi verbreiten, wenn uns das aufrichtige Bestreben fehlt, die Lehre des Evangeliums in eine gelebte Wirklichkeit umzusetzen.
Von diesem Geist durchdrungen, wird unser Gebet, auch wenn es mit scheinbar persönlichen Themen und Vorsätzen beginnt, letztlich immer um die verschiedenen Möglichkeiten kreisen, den anderen zu dienen. Und wenn uns Maria an der Hand führt, wird sie dafür sorgen, daß wir uns als Brüder aller Menschen fühlen; denn wir alle sind Kinder dieses Gottes, dessen Tochter, Braut und Mutter sie ist.
Die Probleme des Nächsten müssen unsere Probleme sein. Die christliche Brüderlichkeit muß tief in unserer Seele wurzeln, kein Mensch darf uns gleichgültig sein.
Maria, die Mutter Jesu, die den Herrn zur Welt brachte, die Ihn erzog, Ihn auf seinem irdischen Lebensweg begleitete und jetzt bei Ihm im Himmel ist, sie wird uns helfen, Jesus zu entdecken, Jesus, der nahe an uns vorübergeht, der in den Nöten unserer Brüder, der Menschen, gegenwärtig ist.

146 Auf jener Wallfahrt, die ich anfangs erwähnte, kamen wir auf dem Weg zur Kapelle von Sonsoles an mehreren Kornfeldern vorüber. Die Ähren glänzten in der Sonne, bewegt vom Winde. Da kam mir ein Text des Evangeliums in den Sinn, Worte des Herrn an seine Jünger: Sagt ihr nicht: Noch vier Monate, dann kommt die Ernte? Seht, ich sage euch: Erhebet die Augen und seht, die Felder sind weiß zur Ernte [Jo 4,35]. Und ich dachte daran, daß der Herr den Eifer und das Feuer seines Herzens auch unseren Herzen mitteilen wollte. Und ich entfernte mich ein wenig vom Weg, um ein paar Ähren zur Erinnerung zu pflücken.
Wir müssen die Augen offenhalten und umherschauen, um den unaufhörlichen Anruf wahrzunehmen, den Er durch die Menschen, die uns umgeben, an uns richtet. Die Menschen dürfen uns nicht gleichgültig sein; wir dürfen uns nicht einschließen in unserer eigenen kleinen Welt. So hat Jesus nicht gelebt. Immer wieder spricht das Evangelium von seiner Barmherzigkeit, von seiner Fähigkeit, am Leid und an den Bedürfnissen seiner Mitmenschen Anteil zu nehmen: Er hat Mitleid mit der Witwe von Naim [Vgl. Lk 7,11-17], Er weint über den Tod des Lazarus [Vgl.Jo 11,35], Er kümmert sich um die Menge, die Ihm nachfolgt und nichts zu essen hat [Vgl. Mt 15,32], Er erbarmt sich vor allem auch der Sünder, jener, die durch die Welt gehen, ohne das Licht und die Wahrheit zu kennen: Und als Er ans Land stieg, sah Er eine große Volksmenge und fühlte Erbarmen mit ihnen, denn sie waren wie Schafe ohne Hirten. Und Er belehrte sie über vieles [Mk 6,34].
Wenn wir in Wahrheit Kinder Mariens sind, begreifen wir diese Haltung des Herrn; unser Herz wird weit und voller Mitleid. Dann schmerzen uns die Leiden, das Elend, die Fehler, die Einsamkeit und die Bedrängnis unserer Mitmenschen, die unsere Brüder sind.
Dann fühlen wir, daß wir ihnen in ihren Schwierigkeiten beistehen müssen, damit sie lernen, vor Ihm Kinder zu sein, und sie so die mütterliche Zuneigung Mariens erfahren.

Apostel von Aposteln sein

147 Die Welt mit Licht erfüllen, Salz und Licht sein [Vgl. Mt 5,13-14]: So hat der Herr die Sendung seiner Jünger beschrieben. Bis an die äußersten Grenzen der Erde die Frohbotschaft von der Liebe Gottes tragen. Dafür müssen wir, dafür müssen alle Christen auf die eine oder andere Weise ihr Leben einsetzen.
Mehr noch. Wir dürfen nicht allein bleiben wollen, wir müssen andere dazu anhalten, an dieser Aufgabe teilzunehmen, Freude und Frieden in die Herzen der Menschen zu tragen. In dem Maß als ihr Fortschritte macht, müßt ihr die anderen mitziehen, schreibt der heilige Gregor der Große. Habt den Wunsch, Begleiter auf diesem Weg zum Herrn mit euch zu führen [Gregor der Große, In Evangelia homiliae, 6, 6 (PL 76, 1098)].
Aber denkt daran: cum dormirent homines, als die Menschen schliefen, kam einer, wie der Herr in einem Gleichnis sagt, um Unkraut zu säen [Mt 13,25]. Wir Menschen sind der Gefahr ausgesetzt, uns dem Schlaf des Egoismus und der Oberflächlichkeit zu überlassen, uns in tausend Kleinigkeiten und unnützen Dingen zu verlieren und so davon abgehalten zu werden, den wahren Sinn der irdischen Wirklichkeit zu ergründen. Eine schlimme Sache, dieser Schlaf, der dem Menschen seine Würde nimmt und ihn zum Knecht der Traurigkeit macht!
Es muß uns ganz besonders schmerzen, wenn Christen mehr geben könnten, sich aber nicht dazu entschließen; wenn Christen sich ganz schenken und alle Konsequenzen ihrer Berufung als Kinder Gottes leben könnten, aber nicht großzügig sein wollen. Das muß uns wehtun, denn die Gnade des Glaubens wurde uns nicht verliehen, damit sie verborgen bleibe, sondern damit sie vor den Menschen leuchte [Vgl. Mt 5,15-16]; außerdem steht dabei das zeitliche und ewige Glück derer, die so handeln, auf dem Spiel. Das christliche Leben ist ein Wunderwerk Gottes, das mit Gelassenheit und Glück belohnt wird, wenn wir die Gabe Gottes schätzen [VgI. Jo 4,10] und mit Großzügigkeit nicht sparen.
Man muß jene, die in diesen bösen Schlaf gefallen sind, aufwecken, sie daran erinnern, daß das Leben kein Spiel ist, sondern ein göttlicher Schatz, der Früchte bringen soll. Und es ist auch notwendig, allen, die guten Willens und voll bester Absichten sind, sie aber nicht in die Tat umsetzen können, den Weg dazu zu zeigen. Christus drängt uns.
Jeder von euch muß nicht nur Apostel sein, sondern Apostel von Aposteln, der andere mit sich zieht, der andere mit sich reißt, damit auch sie Christus verkünden.

148 Vielleicht fragt sich der eine oder der andere, wie er den Menschen diese Botschaft bringen kann. Und ich antworte euch: mit Natürlichkeit, mit Einfachheit, so wie ihr lebt inmitten der Welt, im Bemühen um eure berufliche Arbeit und um eure Familie, teilnehmend an allen echten Sorgen der Menschen, mit Achtung vor der legitimen Freiheit eines jeden.
Vor fast dreißig Jahren ließ Gott in meinem Herzen den Wunsch entstehen, Menschen jeden Standes, jeder gesellschaftlichen Schicht, jeden Berufes diese Lehre begreiflich zu machen: Das alltägliche Leben kann heilig, kann von Gott erfüllt sein; Gott ruft uns, die gewöhnliche Arbeit zu heiligen, denn darin besteht die Fülle des christlichen Lebens. Denken wir noch einmal darüber nach, während wir das Leben Mariens betrachten.
Vergessen wir nicht, daß fast alle Tage im irdischen Leben unserer Herrin so verliefen wie der Alltag von Millionen Frauen, die sich ihrer Familie widmen, ihre Kinder erziehen und den Haushalt besorgen. Maria heiligt das Allergewöhnlichste, sie heiligt, was viele irrtümlich für etwas ohne tieferen Sinn und Wert halten: die tägliche Arbeit, kleine Aufmerksamkeiten gegenüber den Menschen, die wir lieben, Gespräche und Besuche bei Verwandten und Freunden. Gesegneter Alltag, der erfüllt sein kann von so viel Liebe zu Gott!
Für das Leben Mariens gibt es nur eine Erklärung: ihre Liebe. Eine Liebe bis zum Letzten, bis zum völligen Sich-selbst-vergessen; zufrieden dort, wo Gott sie haben wollte, erfüllte sie feinfühlig seinen Willen. So kommt es, daß selbst unscheinbare Gesten bei ihr niemals leer, sondern stets voll Inhalt sind. Maria, unsere Mutter, ist für uns Beispiel und Weg. Wir müssen versuchen, so zu sein wie sie, in den konkreten Umständen, die nach dem Willen Gottes unser Leben ausmachen.
Wenn wir auf diese Weise handeln, werden wir unseren Mitmenschen das Zeugnis eines normalen und einfachen Lebens bieten, mit den Unzulänglichkeiten und Fehlern, die uns als Menschen anhaften, aber wie aus einem Guß. Und wenn die anderen sehen, daß wir ihnen in allem gleichen, werden sie sich gedrängt fühlen zu fragen: Woher kommt eure Freude? Woher nehmt ihr die Kraft, den Egoismus und die Bequemlichkeit zu überwinden? Wer lehrt euch, dieses Verständnis aufzubringen, wer lehrt euch dieses selbstlose Zusammenleben, diese Hingabe, diese Dienstbereitschaft gegenüber den anderen?
Dann ist der Augenblick gekommen, ihnen das göttliche Geheimnis des christlichen Lebens aufzudecken, mit ihnen über Gott zu sprechen, über Christus, den Heiligen Geist, über Maria; dann ist der Augenblick gekommen, mit unseren armseligen Worten die Torheit der Liebe Gottes weiterzugeben, die der Heilige Geist in unsere Herzen ausgegossen hat.

149 Der heilige Johannes überliefert uns in seinem Evangelium ein herrliches Wort der Mutter Gottes, und zwar in einer Szene, die wir uns schon einmal vor Augen geführt haben: die Hochzeit zu Kana. Der Evangelist erzählt uns, daß sich Maria an die Diener wandte und ihnen riet: Was Er euch sagen wird, das tut [Jo 2,5]. Gerade darum geht es: die Menschen vor Jesus hintreten zu lassen, damit sie Ihn fragen: Domine, quid me vis facere? Herr, was willst Du, das ich tun soll? [Apg 9,6] Das christliche Apostolat – und ich meine hier konkret das Apostolat eines gewöhnlichen Christen, das Apostolat eines Mannes oder einer Frau, die ohne Besonderheiten unter ihresgleichen leben – ist eine große Katechese, in der durch den persönlichen Umgang, durch eine echte und aufrichtige Freundschaft in den Mitmenschen der Hunger nach Gott geweckt und ihnen geholfen wird, einen ungeahnten Horizont zu entdecken: mit Natürlichkeit, Einfachheit, wie ich schon sagte, mit dem Beispiel gelebten Glaubens, mit einem liebenswürdigen Wort, aber erfüllt mit der Kraft der göttlichen Wahrheit.
Seid kühn. Ihr könnt mit der Hilfe Mariens, Regina apostolorum, rechnen. Unsere Liebe Frau weiß jedem ihrer Kinder seine persönliche Verantwortung klar vor Augen zu führen, ohne deswegen aufzuhören, sich wie eine Mutter zu verhalten. Wer sich ihr nähert und ihr Leben betrachtet, dem erweist sie mit Sicherheit den unschätzbaren Dienst, ihn zum Kreuz hinzuführen, ihm das Beispiel des Sohnes Gottes vor Augen zu halten. Und bei dieser Begegnung, in der sich das Leben eines Christen entscheidet, legt Maria Fürbitte für uns ein, damit unser Tun und Lassen in der Versöhnung des jüngeren Bruders – in deiner und meiner Versöhnung – mit dem erstgeborenen Sohn des Vaters vollendet werde.
Vielen Bekehrungen, vielen Entscheidungen zur Hingabe im Dienst Gottes ist eine Begegnung mit Maria vorausgegangen. Unsere Herrin hat unser Suchen unterstützt, hat die Unruhe der Seele in mütterlicher Sorge geschürt und hat uns nach einem anderen, einem neuen Leben verlangen lassen. Und so hat sich ihr Alles, was Er euch sagen wird, das tut in die Wirklichkeit einer großzügigen Hingabe verwandelt, in eine christliche Berufung, die seither unser ganzes persönliches Leben erhellt.
Diese Weile des Gesprächs mit dem Herrn, in der wir die Andacht und Liebe zu seiner und unserer Mutter betrachtet haben, sollte unserem Glauben neue Kraft geben.
Der Monat Mai beginnt, und der Herr will, daß wir diese Gelegenheit nicht ungenützt vorübergehen lassen; Er will, daß wir durch die Begegnung mit seiner Mutter in der Liebe zu Ihm wachsen und täglich mehr den Kontakt mit ihr suchen – in kleinen Dingen, in liebevollen Aufmerksamkeiten, die nach und nach zu etwas Großem werden: persönliche Heiligkeit und Apostolat, ständiger Einsatz also, an jenem Heil mitzuwirken, zu dessen Verwirklichung Christus in die Welt gekommen ist.
Sancta Maria, spes nostra, ancilla Domini, sedes Sapientiae, ora pro nobis! Heilige Maria, unsere Hoffnung, Magd des Herrn, Sitz der Weisheit, bitte für uns!

 «    FRONLEICHNAM    » 

(Homilie, gehalten am 28. Mai 1964, Fronleichnam.)

150 Heute, am Fronleichnamsfest, betrachten wir gemeinsam die Tiefe der Liebe, die Christus dazu führte, unter den sakramentalen Gestalten verborgen zu bleiben; es ist, als würden wir mit unseren eigenen Ohren hören, wie der Herr die Volksmenge lehrt: Ein Sämann ging aus zu säen. Beim Säen fiel einiges auf den Weg, und die Vögel kamen und pickten es auf. Anderes fiel auf steinigen Grund, wo es nicht viel Erde hatte. Es schoß schnell auf, weil es nicht tief in der Erde lag. Als aber die Sonne heraufstieg, wurde es versengt, und weil es keine Wurzel hatte, verdorrte es. Wieder anderes fiel unter die Dornen, Die Dornen wuchsen mit auf und erstickten es. Anderes fiel auf gutes Erdreich und brachte hundertfältige, sechzigfältige, dreißigfältige Frucht [Mt 13,3-8].
Heute ist es nicht anders. Auch heute wirft der göttliche Sämann den Samen aus.
Das Werk der Erlösung setzt sich fort, und der Herr will sich dabei unser bedienen: Er will, daß wir Christen alle Wege der Erde seiner Liebe erschließen; Er fordert uns auf, die göttliche Botschaft durch Lehre und Beispiel bis in die letzten Winkel der Erde zu tragen.
Er bittet uns, daß wir, als Glieder der Kirche und des Staates, unseren Aufgaben treu nachkommen, daß jeder von uns ein zweiter Christus wird durch die Heiligung seiner beruflichen Arbeit und der Pflichten des eigenen Standes.
Wenn wir um uns schauen in dieser Welt, die wir lieben, weil sie ein Werk Gottes ist, stellen wir fest, wie sich das Gleichnis erfüllt: Das Wort Jesu Christi ist fruchtbar, es ruft in vielen Seelen den Wunsch nach Hingabe und Treue wach. Das Leben und Verhalten derer, die Gott dienen, hat die Geschichte verändert. Selbst viele, die den Herrn nicht kennen, richten sich – ohne es vielleicht zu wissen – nach Idealen, die dem Christentum entstammen.
Wir sehen aber auch, daß ein Teil des Samens auf unfruchtbares Erdreich oder unter Dornen und Disteln fällt, daß es Herzen gibt, die sich dem Licht des Glaubens verschließen. Die Ideale des Friedens, der Versöhnung, der Brüderlichkeit werden wohl akzeptiert und verkündet, aber nicht selten durch die Tat verleugnet. Einige Menschen setzen vergeblich alles daran, die Stimme Gottes zum Schweigen zu bringen, und sie versuchen, ihre Resonanz gewaltsam oder durch eine Waffe, die weniger vernehmbar, aber grausamer ist, weil sie den Geist einschläfert, zu unterbinden: durch die Gleichgültigkeit.

Das Brot des ewigen Lebens

151 Während wir dies bedenken, möchte ich, daß wir uns unserer Sendung als Christen bewußt werden, daß wir die Augen auf die heilige Eucharistie richten, auf Jesus, der unter uns anwesend ist und uns zu seinen Gliedern gemacht hat: Vos estis corpus Christi et membra de membro [1 Kor 12,27], ihr seid der Leib Christi und als seine Glieder auch Glieder untereinander. Gott, unser Herr, hat beschlossen, im Tabernakel zu bleiben, um uns zu nähren, um uns zu stärken, um uns zu vergöttlichen, um unserer Arbeit und unserem Mühen Wirksamkeit zu verleihen. Jesus ist gleichzeitig der Sämann, der Samen und die Frucht der Saat: das Brot des ewigen Lebens.
Dieses fortwährend sich erneuernde Wunder der Eucharistie zeigt alle Merkmale des HandeIns Jesu. Als vollkommener Gott und vollkommener Mensch, Herr des Himmels und der Erde, bietet Er sich uns als Nahrung auf ganz natürliche und alltägliche Weise an. So wartet Er seit fast zweitausend Jahren auf unsere Liebe. Das ist eine lange Zeit, und auch wiederum nicht, denn, wo die Liebe ist, vergehen die Tage wie im Fluge.
Mir kommt ein schönes galicisches Gedicht aus den Cantigas Alfons des Weisen ins Gedächtnis. Es ist die Legende von einem Mönch, der in seiner Einfalt die Mutter Gottes bat, den Himmel schauen zu dürfen, und sei es auch nur für einen Augenblick. Die Mutter Gottes gewährte ihm diesen Wunsch, und der gute Mönch wurde ins Paradies versetzt.
Als er zurückkehrte, kannte er keinen der Bewohner des Klosters mehr: Sein Gebet, das ihm so kurz vorgekommen war, hatte drei Jahrhunderte gedauert. Drei Jahrhunderte sind nichts für ein Herz, das wirklich liebt. So erkläre ich mir die zweitausend Jahre des Wartens Christi in der Eucharistie. Es ist das Warten Gottes, der die Menschen liebt, der uns sucht, der uns annimmt, wie wir sind: begrenzt, egoistisch, wankelmütig und doch fähig, seine unermeßliche Liebe zu entdecken und uns Ihm ganz hinzugeben.
Aus Liebe und um uns die Liebe zu lehren, kam Jesus auf die Erde und blieb unter uns in der Eucharistie. Da Er die Seinen, die in der Welt waren, liebte, So liebte Er sie bis ans Ende [Jo 13,1]; mit diesen Worten beginnt der heilige Johannes den Bericht über das Geschehen am Vorabend von Ostern, als der Herr, wie der heilige Paulus schreibt, das Brot nahm, dankte, es brach und sprach: „Nehmet hin und esset: das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Andenken." Ebenso nahm Er nach dem Mahle den Kelch und sprach: „ Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blute. Tut dies, so oft ihr ihn trinket, zu meinem Andenken" [1 Kor 11,23-25].

Ein neues Leben

152 Es ist der einfache und feierliche Augenblick der Einsetzung des Neuen Bundes.
Jesus setzt das alte Gesetz außer Kraft und offenbart uns, daß Er selbst der Inhalt unseres Gebetes und unseres Lebens ist.
Seht die Freude, die heute die Liturgie durchdringt: Lob erschalle laut und freudig [Sequenz Lauda Sion].
Es ist der christliche Jubel, der das Anbrechen einer neuen Zeit besingt: Das Pascha des Alten Bundes ist beendet, das neue beginnt, das Neue ersetzt das Alte, die Wahrheit vertreibt die Schatten, das Licht die Nacht [Sequenz Lauda Sion].
Es ist ein Wunder der Liebe. Wahrhaft ist´s der Kinder Brot [Sequenz Lauda Sion]: Jesus, der Erstgeborene des Ewigen Vaters, bietet sich uns als Nahrung an. Und derselbe Jesus Christus, der uns hier stärkt, wartet auf uns, seine Mahlgenossen, Miterben und Vertrauten [Sequenz Lauda Sion] im Himmel, denn jene, die Christus als Nahrung empfangen, werden wohl den irdischen, zeitlichen Tod erfahren, aber sie werden in Ewigkeit leben, da Christus das unvergängliche Leben ist [Augustinus, In Ioannis Evangelium Tractatus, 26,20 (PL 35, 1616)].
Für den Christen, der sich mit dem endgültigen Manna der Eucharistie stärkt, beginnt das ewige Glück schon jetzt. Das Alte ist vergangen: Legen wir alles Vergängliche beiseite; alles soll für uns neu werden: die Herzen, die Worte und die Werke [Hymnus Sacris solemnis].
Das ist die frohe Botschaft, die gute Nachricht. Sie ist wirklich Nachricht, denn sie ist neu, sie spricht zu uns von der Tiefe einer Liebe, die wir vorher nicht einmal ahnen konnten. Sie ist gut, denn nichts ist besser, als uns innigst mit Gott, dem allerhöchsten Gut, zu vereinigen. Das ist die frohe Botschaft, die gute Nachricht, weil sie schon jetzt auf unsagbare Weise die Ewigkeit vorwegnimmt.

Jesus im Wort und im Brot begegnen

153 Jesus verbirgt sich im allerheiligsten Sakrament des Altares, damit wir es wagen, seinen Umgang zu suchen; Er will unsere Nahrung sein, damit wir mit Ihm eins werden.
Durch sein Wort: Ohne mich könnt ihr nichts tun [Jo 15,5] wird der Christ weder zur Unwirksamkeit verurteilt noch dazu, Ihn nur mit Mühe aufspüren zu können; denn Er ist in einer totalen Verfügbarkeit unter uns geblieben.
Wenn wir uns vor dem Altar versammeln, während das heilige Meßopfer gefeiert wird, wenn wir die heilige Hostie betrachten, die in der Monstranz ausgesetzt ist, oder wenn wir sie im Tabernakel verborgen anbeten, dann sollen wir unseren Glauben neu beleben, an diese neue Existenz denken, die auf uns zukommt, und uns von der Liebe und Zuneigung Gottes bewegen lassen.
Sie verharrten in der Lehre der Apostel in der brüderlichen Gemeinschaft, im Brotbrechen und im Gebet [Apg 2,42]. So beschreibt uns die Heilige Schrift das Leben der ersten Christen: vereint durch den Glauben der Apostel in vollkommener Einheit durch die Teilnahme an der heiligen Eucharistie und einmütig im Gebet. Glauben, Brot, Wort.
Jesus in der Eucharistie ist ein sicheres Unterpfand für seine Gegenwart in unseren Seelen. Unterpfand seiner Macht, die die Welt erhält, Unterpfand seiner Heilsverheißungen, die helfen werden, daß die Menschheitsfamilie am Ende der Zeiten für immer in der Wohnung des Himmels mit Gott dem Vater, Gott dem Sohn und Gott dem Heiligen Geist lebt: mit der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, dem einen Gott. Wenn wir an Jesus glauben, wenn wir an die Realpräsenz unter den Gestalten von Brot und Wein glauben, wird unser ganzer Glaube wirksam.

154 Ich begreife nicht, wie man christlich leben kann, ohne das dauernde Verlangen nach einer Freundschaft mit Jesus im Wort und im Brot, im Gebet und in der Eucharistie zu verspüren. Und ich verstehe es sehr gut, daß im Laufe der Jahrhunderte die eucharistische Frömmigkeit der Gläubigen von Generation zu Generation konkretere Form angenommen hat: manchmal in öffentlichen Äußerungen und gemeinschaftlichem Bekennen des Glaubens, manchmal in stiller, unauffälliger Weise im heiligen Frieden des Gotteshauses oder im Innern des Herzens.
Allem zuvor müssen wir die heilige Messe lieben, die das Zentrum unseres Tages sein soll. Wenn wir die heilige Messe wirklich mitfeiern, wie sollten wir dann nicht den Rest des Tages in Gedanken beim Herrn verharren, mit dem Wunsch, seine Gegenwart nicht zu verlieren; zu arbeiten, wie Er arbeitete; zu lieben, wie Er liebte? Wir lernen dann, dem Herrn für die liebevolle Aufmerksamkeit zu danken, daß Er seine Gegenwart nicht auf den Augenblick des heiligen Opfers begrenzen wollte, sondern in der heiligen Hostie zugegen bleibt, die im Tabernakel aufbewahrt wird.
Für mich ist der Tabernakel immer Bethanien gewesen: dieser ruhige und einladende Ort, wo Christus weilt und wo wir mit Ihm, einfach und ungezwungen wie seine Freunde von damals, Martha, Maria und Lazarus, alles besprechen können: unsere Sorgen und Schmerzen, unsere Erwartungen und Freuden. Wenn ich durch die Straßen einer Stadt oder eines Dorfes gehe, freue ich mich immer , eine Kirche – sei es auch nur von weitem – zu entdecken : Da ist ein neuer Tabernakel, wieder eine Gelegenheit für die Seele, auszubrechen und im Geiste vor dem allerheiligsten Sakrament zu verweilen.

Wirksamkeit der Eucharistie

155 Als der Herr beim Letzten Abendmahl die heilige Eucharistie einsetzte, war es Nacht: Das deutete darauf hin, sagt der heilige Johannes Chrysostomus, daß die Zeit sich erfüllt hatte [Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae, 82,1 (PG 58, 700)]. Es wurde Nacht in der Welt, weil die alten Riten, ehrwürdige Zeichen der unendlichen Barmherzigkeit Gottes gegenüber den Menschen, vor ihrer Erfüllung standen und in die wahre Morgendämmerung einmündeten: in das neue Pascha. Die Eucharistie wurde in der Nacht eingesetzt, sie bereitete den Morgen der Auferstehung vor .
Auch in unserem Leben müssen wir diese Morgendämmerung vorbereiten. Alles Vergängliche, alles Schädliche, alles Untaugliche – Mutlosigkeit, Mißtrauen, Traurigkeit, Feigheit – müssen wir von uns werfen. Die heilige Eucharistie erfüllt die Kinder Gottes mit neuem Leben aus Gott, und wir müssen darauf in novitate sensus [Röm 12,2], mit einer Erneuerung unseres ganzen Empfindens und unseres ganzen Tuns antworten. Uns ist eine neue Quelle der Kraft gegeben, eine starke Wurzel, die in Christus eingesenkt ist. Wir können nicht mehr zum alten Sauerteig zurückkehren, denn wir besitzen für heute und für immer das Brot.

156 In vielen Gegenden der Welt begleiten heute die Christen den Herrn in Prozessionen; Christus geht, in der Hostie verborgen, durch die Straßen und Gassen – wie in seinem Erdenleben – und begegnet allen: denen, die Ihn sehen wollen, und denen, die Ihn nicht suchen. Jesus ist wieder einmal unter den Seinen. Wie stellen wir uns zu diesem Ruf des Meisters?
Die äußeren Zeichen der Liebe müssen im Herzen ihren Ursprung haben und sich dann im Zeugnis eines christlichen Verhaltens fortsetzen. Wenn wir erneuert worden sind durch den Empfang des Leibes des Herrn, muß es in unseren Werken spürbar werden.
Unsere Gedanken sollen aufrichtig sein: Gedanken des Friedens, der Hingabe und des Dienens. Unsere Worte sollen wahr, klar und angemessen sein; Worte, die zu trösten und zu helfen vermögen, und vor allem Worte, die den anderen das Licht Gottes bringen können. Unsere Handlungen sollen echt, wirksam und überlegt sein: Handlungen, die den bonus odor Christi [2 Kor 2,15], den Wohlgeruch Christi an sich tragen, weil sie an die Lebensweise Christi erinnern.
Die Fronleichnamsprozession macht Christus in den Dörfern und Städten der Welt gegenwärtig. Aber diese Gegenwart, ich wiederhole es, darf nicht nur Sache eines Tages sein, ein Ereignis, das man sieht und dann vergißt. Christus, der vorübergeht, prägt uns ein, daß wir Ihn auch in unserer täglichen Arbeit finden müssen. So muß der feierliche Gang dieses Donnerstags aufgehen in dem stillen und schlichten Gang eines jeden Christen durch sein alltägliches Leben: als Mensch unter Menschen, aber mit der Freude des empfangenen Glaubens und gemäß der göttlichen Sendung so zu leben, daß die Botschaft des Herrn auf Erden erneuert wird. Es fehlt nicht an Fehlern, Armseligkeiten und Sünden in unserem Leben. Aber Gott ist mit uns, und wir müssen uns Ihm bereitwillig zur Verfügung stellen, dann wird sein Vorübergang an den Geschöpfen nie mehr enden.
Bitten wir also den Herrn, Er möge aus uns Menschen mit einer tiefen eucharistischen Frömmigkeit machen, daß sich unser persönlicher Umgang mit Ihm in der Freude, Heiterkeit und im Streben nach Gerechtigkeit zeige. Und so werden wir vielen Menschen helfen, Christus zu erkennen, und dazu beitragen, Ihn allen menschlichen Tätigkeiten voranzustellen. Seine Verheißung wird sich erfüllen: Ich aber werde, wenn ich von der Erde erhöht bin, alles an mich ziehen [Jo 12,32].

Das Brot und die Ernte: Kommunion mit allen Menschen

157 Jesus ist, sagte ich euch zu Beginn, der Sämann. Und durch die Christen setzt Er seine göttliche Aussaat fort. Christus drückt den Weizen in seinen wunden Händen, Er durchtränkt ihn mit seinem Blut, reinigt ihn und wirft ihn auf den Acker, der die Welt ist. Er streut die Körner einzeln aus, damit jeder Christ dort, wo er lebt, Zeugnis von der Fruchtbarkeit des Todes und der Auferstehung des Herrn gibt.
In den Händen Christi müssen wir uns von seinem Blut durchtränken lassen und bereit sein, in den Wind geworfen zu werden: Wir müssen unser Leben so annehmen, wie es von Gott gewollt ist. Und wir müssen uns davon überzeugen, daß der Samen, um fruchtbar zu sein, in die Erde gesenkt werden und sterben muß [Vgl. Jo 12,24-25]. Der Halm wird aufschießen und die Ähre sprießen. Und die Ähre wird zu Brot, das Gott in den Leib Christi verwandelt. Und so vereinigen wir uns wieder mit Jesus, der der Sämann ist. Weil es ein Brot ist, so bilden wir viele einen Leib . Wir nehmen ja alle an dem einen Brote teil [1 Kor 10,17].
Vergessen wir niemals, daß es ohne Aussaat keine Frucht gibt. Wir müssen also Gottes Wort in weitem Wurf ausstreuen, damit die Menschen Christus kennenlernen und, wenn sie Ihn kennen, nach Ihm hungern. Dieses Fronleichnamsfest – das Fest des Leibes Christi, das Fest des Lebensbrotes – ist ein willkommener Anlaß, über diesen Hunger nachzudenken, den man überall unter den Menschen spürt: Hunger nach Wahrheit, nach Gerechtigkeit, nach Einheit und nach Frieden. Angesichts des Hungers nach Frieden müssen wir mit dem heiligen Paulus ausrufen: Christus ist unser Frieden, pax nostra [Eph 2,14].
Das Streben nach Wahrheit soll uns daran erinnern, daß Jesus der Weg, die Wahrheit und das Leben ist [Vgl. Jo 14,6]. Diejenigen, die sich nach Einheit sehnen, müssen wir vor Christus führen, der betet, daß wir consummati in unum, vollkommen eins seien [Jo 17,23]. Der Hunger nach Gerechtigkeit soll uns zum Ursprung der Eintracht unter den Menschen führen: zur Gotteskindschaft, die uns zu Brüdern macht.
Frieden, Wahrheit, Einheit, Gerechtigkeit. Wie schwierig scheint es manchmal, die Hindernisse zu überwinden, die das menschliche Zusammenleben erschweren. Und doch: wir Christen sind dazu berufen, dieses Wunder der Brüderlichkeit zu verwirklichen, mit der Gnade Gottes zu erreichen, daß die Menschen sich christlich begegnen. Einer trage des anderen Last [Gal 6,2], ein jeder lebe das Gebot der Liebe, die das Band der Vollkommenheit und die Erfüllung des Gesetzes ist [Vgl. Kol 3,14 und Röm 13,10].

158 Vergessen wir nicht, daß es noch sehr viel zu tun gibt. Eines Tages, vielleicht beim Anblick der reifen, wogenden Ähren, sagte Jesus zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige. Bittet darum den Herrn der Ernte, daß Er Arbeiter in seine Ernte sende [Mt 9,38]. Wie damals fehlen auch heute Arbeiter, die bereit sind, die Last und Hitze des Tages zu tragen [Mt 20,12]. Und wenn wir, die wir arbeiten, nicht treu sind, wird sich das Wort des Propheten Joel erfüllen: Das Feld vernichtet, der Acker in Trauer, verdorben das Korn, versiegt der Most, vertrocknet das Öl! Bauern stehet beschämt, Winzer heult laut um Weizen und Gerste, die Ernte des Feldes ist hin! [Joel 1,10-11] Es gibt keine Ernte ohne die Bereitschaft, großmütig eine oft lange und mühevolle Arbeit auf sich zu nehmen: das Feld zu pflügen, zu bestellen und zu versorgen, später zu mähen und zu dreschen. Das Reich Gottes verwirklicht sich in der Geschichte, in der Zeit.
Der Herr hat uns allen, ohne Ausnahme, diese Aufgabe anvertraut. Jetzt, während wir Christus in der Eucharistie anbeten und betrachten, wollen wir daran denken, daß die Zeit des Ausruhens noch nicht gekommen ist, daß der Tag noch nicht zu Ende ist.
Im Buch der Sprüche lesen wir: Wer seinen Acker bebaut, hat Brot in Fülle [Spr 12,11]. Versuchen wir, dieses Wort geistlich auf uns anzuwenden: Wer den Acker Gottes nicht bearbeitet, wer dem göttlichen Auftrag nicht treu ist, sich den anderen hinzugeben und, ihnen zu helfen, Christus kennenzulernen, wird schwerlich verstehen, was das eucharistische Brot ist. Niemand schätzt, was keine Mühe macht. Um die heilige Eucharistie zu schätzen und zu lieben, muß man den Weg Jesu gehen: Weizen sein, sterben, voll Kraft wiedererstehen und reiche Frucht bringen: das Hundertfache! [Vgl. Mk 4,8] Dieser Weg läßt sich in einem einzigen Wort zusammenfassen: Lieben. Lieben heißt, ein großes Herz haben, die Sorgen unserer Mitmenschen teilen, verzeihen können und verstehen können: sich mit Jesus Christus für alle Seelen aufopfern. Wenn wir mit dem Herzen Christi lieben, werden wir lernen zu dienen, und wir werden die Wahrheit klar und in Liebe verteidigen. Um so zu lieben, muß jeder aus seinem eigenen Leben alles das ausmerzen, was das Leben Christi in uns beeinträchtigt: der starke Hang zur Bequemlichkeit, die Versuchungen des Egoismus, die Neigung, uns selbst ins Licht zu stellen. Nur wenn wir in uns dieses Leben Christi nachbilden, werden wir es an die anderen weitergeben können; nur wenn wir das Sterben des Weizenkorns in uns erfahren, werden wir gegenwärtig sein in den Aufgaben der Welt, werden wir die Welt von innen her umgestalten, sie fruchtbar machen.

Christlicher Optimismus

159 Wir könnten irgendwann einmal versucht sein zu meinen, das alles sei sehr schön, schön wie ein unerfüllbarer Traum. Aber ich sprach von der Erneuerung eures Glaubens und eurer Hoffnung: Bleibt fest in der unerschütterlichen Gewißheit, daß die herrlichen Werke Gottes unsere kühnsten Erwartungen noch übertreffen werden. Aber es ist unerläßlich, daß wir in der christlichen Tugend der Hoffnung fest verankert bleiben.
Gewöhnen wir uns nicht an die Wunder, die vor unseren Augen geschehen, vor allem nicht an diese Großtat, daß der Herr täglich in die Hände des Priesters herabsteigt. Jesus will, daß wir hellwach sind, damit wir uns von der Größe seiner Macht überzeugen und von neuem auf seine Verheißungen hören: Venite post me, et faciam vos fieri piscatores hominum [Mk 1,17], folget mir, ich will euch zu Menschenfischern machen; ihr werdet wirksam sein und die Menschen zu Gott hinziehen. Vertrauen wir auf die Worte des Herrn: Steigen wir ins Boot, greifen wir zu den Rudern, hissen wir die Segel und fahren wir auf dieses Meer der Welt hinaus, das Christus uns als Erbteil gibt. Duc in altum et laxate retia vestra in capturam [Lk 5,4] Fahre hinaus auf die hohe See und werft eure Netze zum Fange aus.
Dieser apostolische Eifer, den Christus in unser Herz gelegt hat, darf nicht durch eine falsche Demut eingeengt oder gar erstickt werden. Wenn es wahr ist, daß wir persönliche Armseligkeiten mit uns schleppen, so ist es auch wahr, daß der Herr mit unseren Fehlern rechnet. Seinem barmherzigen Blick entgeht es nicht, daß wir Menschen begrenzt, schwach, unvollkommen und anfällig für die Sünde sind. Aber Er gebietet uns, zu kämpfen und unsere eigenen Fehler zu bekennen, nicht um uns einzuschüchtern, sondern damit wir bereuen und wünschen können, uns aufrichtig zu bessern.
Darüber hinaus müssen wir immer vor Augen haben, daß wir nur Werkzeuge sind: Was ist denn Apollo? Was ist Paulus? Weiter nichts als Diener, die euch zum Glauben geführt haben, jeder, wie es der Herr ihm verliehen hat. Ich habe gepflanzt, Apollo hat begossen, Gott aber hat das Wachstum gegeben [1Kor 3,4-6]. Die Lehre, die Botschaft, die wir verbreiten müssen, hat eine eigene, unendliche Fruchtbarkeit, die nicht von uns, sondern von Christus kommt. Es ist Gott selbst, der alles daransetzt, das Werk des Heiles zu verwirklichen, die Welt zu erlösen.

160 Glauben also, ohne entmutigt zu werden, ohne uns bei rein menschlichen Berechnungen aufzuhalten. Die Hindernisse überwinden wir, indem wir die Arbeit beginnen und uns mit vollem Einsatz ans Werk machen, so daß uns dieses Bemühen selbst neue Wege erschließt. Und hier ist das Heilmittel, das alle Schwierigkeiten überwindet: persönliche Heiligkeit, Hingabe an den Herrn.
Heilig sein heißt so leben, wie unser Vater im Himmel es will. Ihr werdet einwenden, das sei schwierig. Ja, das Ideal ist sehr hoch. Aber gleichzeitig ist es leicht: es liegt in Reichweite. Wenn jemand krank wird, kommt es manchmal vor, daß man das richtige Medikament nicht findet. Ganz anders ist es im Übernatürlichen; die Medizin ist immer nahe: Jesus Christus, gegenwärtig in der heiligen Eucharistie, der uns darüber hinaus seine Gnade in den anderen Sakramenten schenkt, die er für uns eingesetzt hat.
Wiederholen wir in Worten und Werken: Herr, ich vertraue auf Dich, mir genügt Deine allgemeine Vorsehung, Deine tägliche Hilfe. Nicht große Wunder sollen wir von Gott erbitten – warum auch? –, wohl aber, daß Er unseren Glauben vermehre, unseren Verstand erleuchte und unseren Willen stärke. Jesus bleibt immer bei uns und verhält sich als der, der Er ist.
Seit Beginn meiner Seelsorge habe ich euch vor einer falschen Vergöttlichung gewarnt. Laß dich nicht dadurch verwirren, daß du weißt, aus welchem Stoff du bist: aus Lehm. Das soll dich nicht bekümmern, denn du und ich, wir sind Kinder Gottes – darin besteht die gute Vergöttlichung –, auserwählt durch den Ruf Gottes seit Ewigkeit: In Ihm hat Er uns schon vor Erschaffung der Welt auserwählt, daß wir heilig und untadelig vor Ihm seien [Eph 1,4]. Gott besonders zugehörig, werden wir als seine Werkzeuge, trotz unserer Erbärmlichkeiten, wirksam sein, wenn wir unsere eigene Schwäche, deren Ausmaß in den Versuchungen zur Sünde spürbar wird, niemals vergessen.
Wenn ihr euch angesichts einer vielleicht besonders lebendigen Erfahrung eurer eigenen Mittelmäßigkeit entmutigt fühlt, dann ist der Augenblick gekommen, sich ganz den Händen Gottes zu überlassen. Eines Tages, so wird erzählt, sei ein Bettler Alexander dem Großen begegnet und habe ihn um ein Almosen gebeten. Alexander habe angehalten und befohlen, ihn zum Herrn über fünf Städte zu machen. Daraufhin habe der Bettler erstaunt und verwirrt ausgerufen: „Aber ich habe nicht um so viel gebeten!" Alexander soll ihm geantwortet haben: „Du hast gebeten als der, der du bist, ich gebe dir als der, der ich bin." Selbst in den Augenblicken, da wir unsere Begrenztheit besonders eindringlich spüren, können und müssen wir zu Gott dem Vater, Gott dem Sohn und Gott dem Heiligen Geist aufschauen, denn wir sind Teilhaber am göttlichen Leben. Niemals gibt es einen berechtigten Grund zurückzublicken [Vgl. Lk 9,62]: Der Herr steht an unserer Seite. Wir müssen treu und loyal sein, unseren Pflichten nachkommen und in Jesus die Liebe und den Ansporn dazu finden, die Fehler der anderen zu verstehen und unsere eigenen Fehler zu überwinden. Und so wird selbst noch alle Verzagtheit – deine, meine und die aller Menschen – das Reich Christi tragen helfen.
Erkennen wir unsere Krankheiten an, aber bekennen wir die Macht Gottes. Der Optimismus, die Freude, die feste Überzeugung, daß der Herr sich unser bedienen will, müssen das Leben eines Christen prägen. Wenn wir uns als Teil dieser heiligen Kirche fühlen, wenn wir uns vom festen Felsen Petri getragen und durch das Wirken des Heiligen Geistes gestützt wissen, dann werden wir uns dazu entscheiden, die kleinen Pflichten jedes Augenblicks zu erfüllen: jeden Tag ein wenig zu säen. Und die Ernte wird die Scheunen bis zum Bersten füllen.

161 Wir wollen jetzt diese Zeit des Gebetes beenden. Bedenkt – indem ihr im Innern eurer Seele die unendliche Güte Gottes auskostet –, daß Christus durch die Worte der Wandlung mit seinem Leib und mit seinem Blut, mit seiner Seele und mit seiner Gottheit in der Hostie wirklich gegenwärtig sein wird. Betet Ihn in Ehrfurcht und Andacht an; erneuert in seiner Gegenwart aufrichtig die Hingabe eurer Liebe; sagt Ihm ohne Furcht, daß ihr Ihn liebt; dankt Ihm für diesen täglichen Beweis seiner Barmherzigkeit, voller Zärtlichkeit, und weckt in euch den Wunsch, mit tiefem Vertrauen zur Kommunion zu gehen. Ich kann über dieses Geheimnis der Liebe nur staunen: Der Herr sucht mein armes Herz auf als seinen Thron, und Er wird mich nicht lassen, wenn ich mich nicht von Ihm trenne.
Gestärkt durch die Gegenwart Christi und genährt durch seinen Leib werden wir in diesem irdischen Leben Gott treu bleiben, und dann, im Himmel, bei Jesus und seiner Mutter, werden wir uns Sieger nennen können. Wo ist dein Sieg, o Tod? Wo ist dein Stachel, o Tod? Doch Gott sei Dank! Er verleiht uns durch unseren Herrn Jesus Christus den Sieg [1 Kor 15,55 und 57].

 «    CHRISTI HERZ, FRIEDEN DES CHRISTEN    » 

(Homilie, gehalten am 17. Juni 1966. Fest des Allerheiligsten Herzen Jesu.)

162 Im Herzen seines Sohnes hat uns Gott Vater unendliche Schätze der Liebe, infinitos dilectionis thesauros [Oratio des Festes vom Allerheiligsten Herzen Jesu], des Erbarmens und der Zuneigung geschenkt. Wollen wir die Gewißheit haben, daß Gott uns liebt und nicht nur unser Beten erhört, sondern uns noch zuvorkommt, genügt es, dem Gedankengang des heiligen Paulus zu folgen: Er, der des eigenen Sohnes nicht geschont, sondern Ihn für uns alle dahingegeben hat, wie sollte Er uns nicht mit Ihm alles schenken? [Röm 8,32] Die Gnade erneuert den Menschen von innen her und macht aus ihm, einem Sünder und Rebellen, einen guten und treuen Knecht [VgI. Mt 25,21]. Und alle Gnade entspringt aus der Liebe, die Gott uns erweist und uns geoffenbart hat: nicht allein mit Worten, auch mit Taten. Die göttliche Liebe läßt die zweite Person der Allerheiligsten Dreifaltigkeit, das Wort, den Sohn Gottes des Vaters unser Fleisch annehmen, das heißt unser Menschsein, die Sünde ausgenommen. Und dieses Wort Gottes est verbum spirans amorem, ist das Wort, aus dem die Liebe hervorgeht [Thomas von Aquin, S. Th., I, q. 43, a. 5 (Zitat aus Augustinus, De Trinitate, IX, 10)].
Die Liebe offenbart sich uns in der Menschwerdung, in jenem erlösenden Wandel Christi auf Erden, der Ihn bis zum letzten Opfer am Kreuz führt. Und diese Liebe äußert sich am Kreuz mit einem neuen Zeichen: Einer der Soldaten öffnete Jesus das Herz mit einer Lanze, und sogleich flossen Blut und Wasser heraus [Jo 19,34]. Wasser und Blut Jesu zeugen von einer Hingabe bis zum äußersten, bis zum consummatum est [Jo 19,30], es ist vollbracht, aus Liebe.
Wenn wir am heutigen Fest wieder einmal die zentralen Geheimnisse unseres Glaubens betrachten, bewegt es uns zu sehen, wie die tiefsten Wirklichkeiten – die Liebe Gottes des Vaters, der seinen Sohn hingibt, und die Liebe des Sohnes, der dem Golgotha gelassen entgegengeht – in so menschennahen Gesten Gestalt gewinnen. Gott spricht uns nicht als der Mächtige und Herrscher an, Er nähert sich uns in Knechtsgestalt, den Menschen gleichgemacht [Phil 2,7]. Jesus erscheint niemals fremd oder fern. Wohl erscheint Er manchmal in der Zeit seines öffentlichen Wirkens wie befremdet und schmerzlich betroffen von der menschlichen Bosheit; sehen wir aber etwas näher hin, so bemerken wir sogleich, daß sein Ärger und sein Zorn aus der Liebe kommen: Sie sind eine weitere Aufforderung dazu, der Untreue und der Sünde zu entsagen. Will ich denn den Tod des Sünders – spricht der Herr Jahwe – und nicht vielmehr, daß er sich von seinem bösen Wege bekehrt und lebt? [Ez 18,23]Diese Worte erklären uns das ganze Leben Christi und lassen uns begreifen, warum Er uns entgegengeht mit einem Herzen aus Fleisch, mit einem Herzen wie unser Herz – ein nachhaltiger Beweis und ein ständiges Zeugnis des unsagbaren Geheimnisses der göttlichen Liebe.

Das Herz Jesu Christi kennenlernen

163 Laßt mich euch etwas anvertrauen, das mich schmerzt und zugleich anspornt: Es ist der Gedanke an die vielen Menschen, die Christus noch nicht kennen, noch nichts von der Größe des Glückes ahnen, das uns im Himmel erwartet, und die auf der Erde wie Blinde einer Freude nachjagen, deren wirklicher Name ihnen fremd ist, Menschen, die wie Verirrte auf Abwege geraten, die sie immer weiter vom echten Glück wegführen. Wie gut läßt sich jenes nächtliche Erlebnis des Apostels Paulus in Troas nachfühlen, als er im Traum ein Gesicht wahrnahm: Ein Mann aus Mazedonien stand da und bat ihn: Komm herüber nach Mazedonien und hilf uns. Nach dieser Erscheinung suchten sie – Paulus und Timotheus – sogleich nach Mazedonien zu fahren, überzeugt, daß Gott sie gerufen hatte, den Menschen dort das Evangelium zu verkünden [Apg 16,9-10].
Merkt ihr nicht auch, daß Gott uns ruft daß Er uns durch alles, was um uns geschieht, auffordert, die frohe Botschaft des Kommens Jesu zu verkünden? Doch manchmal verharmlosen wir Christen unsere Berufung, bleiben an der Oberfläche und vergeuden unsere Zeit mit Streitigkeiten und Nörgeleien; ja noch schlimmer: einige nehmen ohne Grund Anstoß an der Art, wie andere Christen bestimmte Aspekte des Glaubens in konkreten Äußerungen der Frömmigkeit verwirklichen; anstatt selbst Wege zu bahnen für die Form der Frömmigkeit, die sie für richtig halten, kritisieren und zerstören sie nur.
Selbstverständlich kann es Unzulänglichkeiten im Leben der Christen geben, und es gibt sie wirklich, Aber nicht wir und unsere Armseligkeit sind das Wichtige: wichtig ist allein Er, Jesus. Um Christus muß es uns zu tun sein, nicht um uns.
Solche Gedanken kommen mir, wenn ich von einer angeblichen Krise der Verehrung des Heiligsten Herzen Jesu höre. Diese Krise gibt es nicht. Wirkliche Frömmigkeit war immer und ist auch heute eine lebendige Haltung, menschlich und übernatürlich zugleich.
Ihre Früchte waren immer und sind auch heute Früchte der Bekehrung, der Hingabe, der Erfüllung des göttlichen Willens, der liebenden Vertiefung in die Geheimnisse der Erlösung.
Etwas ganz anderes sind die Äußerungen eines unwirksamen Sentimentalismus, überladen mit frommem Schein, aber hohl in der Lehre. Auch mir gefallen die kitschigen Bilder nicht, Darstellungen des Heiligsten Herzens, die niemanden, der einen gesunden Menschenverstand und den übernatürlichen Geist eines Christen hat, zur Frömmigkeit bewegen können. Nun zeugt es aber nicht gerade von Logik, aus tatsächlichen Mißständen, die von selbst verschwinden, ein theologisches Problem zu machen, Wenn es eine Krise gibt, dann ist es die Krise im Herzen der Menschen, denen es aus Kurzsichtigkeit, Egoismus oder Engstirnigkeit nicht gelingt, die unerschöpfliche Liebe Christi unseres Herrn zu erahnen. Die Kirche hat es seit Bestehen dieses Festes verstanden, durch ihre Liturgie die Nahrung für eine echte Frömmigkeit zu geben; die Stelle beim Apostel Paulus, die sie uns als Lesung der heiligen Messe vorlegt, bietet einen vollständigen Leitfaden beschaulichen Lebens, der bei der Verehrung des Herzens Jesu ansetzt: Erkennen und Lieben, Gebet und Leben. Gott selbst lädt uns durch den Mund des Apostels ein, diesen Weg zu gehen: Daß Christus durch den Glauben in euren Herzen wohne, und daß ihr in der Liebe festgewurzelt und festgegründet seid. Dann vermögt ihr mit allen Heiligen die Breite und Länge, die Höhe und Tiefe zu erfassen und die Liebe Christi zu verstehen, die alles Erkennen übersteigt, um mit der ganzen Fülle Gottes erfüllt zu werden [Eph 3,17-19].
Die Fülle Gottes offenbart und schenkt sich uns in Christus, in der Liebe Christi, im Herzen Christi: denn es ist das Herz dessen, in dem die ganze Fülle der Gottheit wesenhaft wohnt [Kol 2,9]. Wenn man die großen Vorhaben Gottes aus den Augen verliert – jenen Strom der Liebe, der sich durch die Menschwerdung, die Erlösung und das Pfingstfest in die Welt ergießt –, dann kann man die Zeichen der Zuneigung des Herzens Christi gar nicht wahrnehmen.

Wahre Andacht zum Herzen Christi

164 Wieviel Reichtum liegt in diesen Worten: Heiligstes Herz Jesu. Wenn wir vom menschlichen Herzen sprechen, meinen wir nicht allein die Gefühle, sondern die ganze Person, die liebt und sich anderen zuwendet. Im Sprachgebrauch der Menschen, den die Heilige Schrift übernimmt, um uns die Dinge Gottes verständlich zu machen, ist das Herz Mitte und Ursprung, Ausdruck und Urgrund der Gedanken, Worte und Handlungen. Man kann es so ausdrücken: Ein Mensch ist wert, was sein Herz wert ist.
Sache des Herzens ist die Freude: Mein Herz soll jubeln ob Deiner Hilfe [Ps 13,6]; die Reue: Mein Herz ist wie Wachs geworden, zerschmolzen in meiner Brust [Ps 22,15]; das Lob Gottes: Aus meinem Herzen dringt ein schönes Lied zum König [Ps 45,2]; das Verlangen, auf den Herrn zu hören: Bereit ist mein Herz [Ps 57,8]; das liebevolle Wachen: Ich schlafe, aber mein Herz ist wach [Hl 5,2]; ja, auch der Zweifel und die Furcht: Euer Herz verzage nicht, glaubt an mich [Jo 14,1].
Das Herz fühlt nicht nur, es weiß und versteht auch. Das Gesetz Gottes wird im Herzen empfangen [Vgl. Ps 40,9], und im Herzen bleibt es eingeschrieben [Vgl. Spr 7,3]. In der Heiligen Schrift heißt es auch: Wovon das Herz voll ist, davon redet der Mund [Mt 12,34]. Der Herr warf den Schriftgelehrten vor: Warum denkt ihr Böses in euren Herzen? [Mt 9,4] Und Er meint alle Sünden, deren der Mensch fähig ist, wenn Er sagt: Aus dem Herzen kommen böse Gedanken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Diebstahl, falsches Zeugnis, Gotteslästerung [Mt 15,19].
Mit dem Herzen meint die Heilige Schrift nicht das vorübergehende Gefühl von Heiterkeit oder Trübsinn; gemeint ist vielmehr die Person, die, wie Christus selbst uns sagt, sich in ihrer Ganzheit – mit Leib und Seele – dem zuwendet, was sie als ihr Wohl erfaßt: Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz [Mt 6,21].
Wenn wir also jetzt vom Herzen Jesu sprechen, sehen wir darin die Gewißheit der Liebe Gottes und die Wirklichkeit seiner Hingabe für uns; und wenn wir die Verehrung des Heiligsten Herzens empfehlen, so empfehlen wir, daß wir uns mit allem, was wir sind – mit Seele und Gefühl, Gedanken, Worten und Taten, Mühen und Freuden –, dem ganzen Jesus zuwenden.
So gewinnt die wahre Andacht zum Herzen Jesu Gestalt: Gott erkennen und uns erkennen, auf Jesus blicken und zu Ihm gehen, zu Ihm, der uns ermutigt, uns lehrt, uns leitet. Oberflächlich kann diese Form der Frömmigkeit nur für denjenigen sein, der so wenig Mensch ist, daß er die Wirklichkeit des fleischgewordenen Gottes nicht zu erfassen vermag.

165 Jesus am Kreuz, sein Herz durchbohrt aus Liebe zu den Menschen: das ist die deutliche Antwort – Worte sind hier überflüssig auf die Frage nach dem Wert der Dinge und der Menschen. Soviel sind die Menschen, ihr Leben und ihr Glück wert, daß der Sohn Gottes sich selbst hingibt, um sie zu erlösen, sie zu läutern, sie aufzurichten: Wer wird dieses sein durchbohrtes Herz nicht lieben? fragte ein Mensch des Gebetes: Wer möchte nicht Liebe mit Liebe erwidern? Wer wird nicht ein solch reines Herz umarmen? Wir, die wir aus Fleisch sind, wir werden Liebe mit Liebe vergelten, wir werden unseren Verwundeten umarmen, dem die Gottlosen Hände, Füße, Brust und Herz durchbohrten.
Bitten wir darum, daß Er unser Herz mit der Fessel seiner Liebe binden, es mit einer Lanze durchstoßen möge, da es immer noch hart und unbußfertig ist
[Bonaventura, Vitis mystica, 3 ,11 (PL 184, 643)].
Liebende Menschen haben sich immer mit solchen Gedanken, Regungen und Rufen an Jesus gewandt. Um aber diese Sprache zu verstehen und um wirklich zu begreifen, was des Menschen Herz ist und was Christi Herz und Gottes Liebe sind, müssen wir glauben und demütig sein. In Glauben und Demut hinterließ uns Augustinus jenes berühmte Wort: Du hast uns geschaffen, Herr, damit wir Dein seien, und unser Herz ist unruhig, bis es ruht in Dir [Augustinus, Confessiones, 1, 1, 1 (PL 32, 661)].
Wenn der Mensch nicht demütig ist, maßt er sich an, über Gott zu verfügen, aber nicht in jener Weise, die Christus selbst ermöglichte, als Er sagte: Nehmet hin und esset: das ist mein Leib [1 Kor 11,24]; vielmehr versucht er die Größe Gottes mit menschlichen Maßstäben zu messen. Die Vernunft meldet sich zu Wort: aber eine frostige und blinde Vernunft, nicht das Verstehen aus dem Glauben und auch nicht das einfache Verstehen des Geschöpfes, das die Dinge zu kosten und zu lieben vermag; sie verkehrt sich in die Unvernunft dessen, der seine armseligen, durchschnittlichen Erfahrungen zum Maßstab aller Dinge macht, die die übermenschliche Wahrheit beschneiden, das menschliche Herz verkrusten und es unempfänglich machen für die Eingebungen des Heiligen Geistes. Unsere arme Vernunft wäre verloren, wenn die Macht des barmherzigen Gottes sie nicht aus ihrem Elend befreite: Ich werde euch ein neues Herz geben und einen neuen Geist in euer Inneres geben, euer steinernes Herz wegnehmen und euch ein Herz von Fleisch geben [Ez 36,26]. Die Seele sieht sich wieder mit Licht erfüllt, und sie jubelt bei diesen Verheißungen der Heiligen Schrift.
Ich hege Gedanken des Friedens und nicht der Bedrängnis [Jer 29,11], spricht Gott durch den Propheten Jeremias. Die Liturgie bezieht diese Worte auf Jesus, denn in Ihm zeigt sich uns deutlich, wie Gott uns liebt. Er kommt nicht, um uns zu verdammen und uns unsere Bedürftigkeit und Bosheit vorzuhalten: Er kommt, um uns zu erretten, zu vergeben und zu entschuldigen, um uns den Frieden und die Freude zu schenken. Wenn wir einmal dieses tröstliche Verhältnis des Herrn zu seinen Kindern erkannt haben, verwandelt sich wie von selbst unser Herz. Und wir werden sehen, wie sich vor unseren Augen eine vollkommen neue Landschaft auftut, weit und tief und voller Licht.

Den anderen Menschen die Liebe Christi bringen

166 Gott sagt nicht: Statt eures Herzens gebe ich euch den Willen eines reinen Geistes. Nein, Er gibt uns ein Herz: ein Herz aus Fleisch, wie das Herz Christi. Ich habe nicht zwei Herzen, eines, um Gott zu lieben, und ein anderes, um die Menschen zu lieben. Mit demselben Herzen, mit dem ich meine Eltern geliebt habe und meine Freunde liebe, liebe ich Christus und den Vater und den Heiligen Geist und die Jungfrau Maria. Man kann es gar nicht oft genug bedenken: Wir müssen sehr menschlich sein, denn sonst können wir nicht göttlich werden.
Die menschliche Liebe, die Liebe hier auf Erden gibt uns, wenn sie echt ist, sozusagen einen Vorgeschmack der göttlichen Liebe: Durch sie ahnen wir etwas von dieser Liebe. Wir ahnen die Liebe, mit der wir Gott genießen werden und die unter uns herrschen wird im Himmel, wenn der Herr alles in allem [1Kor 15,28] sein wird. Dieses beginnende Begreifen der göttlichen Liebe wird uns drängen, mit Beharrlichkeit mitfühlender, großherziger und selbstloser zu sein.
Wir müssen weitergeben, was wir empfangen, und weiterlehren, was wir gelernt haben: Schlicht und ohne Überheblichkeit müssen wir die anderen an der Erkenntnis der Liebe Christi teilhaben lassen. Eure Arbeit und euer Beruf können und müssen zu einem Dienst werden: Eine gut verrichtete Arbeit, die selbst voranschreitet und zum Fortschritt beiträgt, die sich die Errungenschaften von Kultur und Technik zunutze macht, erfüllt eine große Aufgabe, nützt der ganzen Menschheit, sofern wir uns nur von Großzügigkeit leiten lassen und nicht von Egoismus, das Wohl aller, nicht den eigenen Vorteil, im Auge haben, kurz, sofern wir unsere Arbeit aus einer christlichen Lebenssicht verrichten.
Diese Arbeit in der Gesellschaft muß für euch der Anlaß sein, die Liebe Christi in eurer Freundschaft, im Verständnis, in der Aufmerksamkeit füreinander und im Frieden greifbar werden zu lassen. Wie Christus in Palästina umherzog und Wohltaten spendete [Apg 10,38], so müßt ihr auf allen Wegen der Menschen – in der Familie, in der Gesellschaft, in eurem Beruf, im Bereich der Kultur, in eurer Freizeit – eure Saat des Friedens breit ausstreuen. Dies wird der beste Beweis dafür sein, daß das Reich Gottes in euren Herzen ist: Daran erkennen wir, daß wir aus dem Tode zum Leben gekommen sind, weil wir die Brüder lieben, schreibt der Apostel Johannes [1 Jo 3,14].
Aber niemand vermag diese Liebe zu leben, der nicht durch die Schule des Herzens Jesu geht. Nur wenn wir Christi Herz anschauen, wird es uns gelingen, unser Herz von Haß und Gleichgültigkeit frei zu machen, nur so werden wir angesichts des Leidens und des Schmerzes anderer christlich reagieren.
Erinnert euch an die Schilderung im Lukasevangelium, die uns Christus vor den Toren Naims zeigt [Lk 7,11-17]. Jesus sieht die Not jener Menschen, denen Er auf seinem Weg begegnet. Er hätte vorübergehen oder auch erst auf einen Ruf oder eine Bitte hin reagieren können. Aber Er geht weder vorbei, noch wartet Er ab. Er ergreift die Initiative, bewegt vom Leid einer Witwe, die das letzte, was sie besaß, verloren hatte: ihren Sohn.
Der Evangelist Lukas berichtet, daß Jesus Mitleid fühlte. Vielleicht war Er auch äußerlich bewegt, wie damals beim Tode des Lazarus. Christus blieb und bleibt nicht teilnahmslos angesichts des Leidens, das aus der Liebe kommt, Er möchte nicht, daß Kinder von ihren Eltern getrennt werden. Er überwindet den Tod, um Leben zu spenden, damit jene, die einander lieben, sich nahe seien, aber vorher und gleichzeitig verlangt Er von den Menschen, daß sie den Vorrang der göttlichen Liebe anerkennen, der ein echt christliches Dasein prägen muß.
Christus weiß sich umgeben von einer Menschenmenge, die staunend die Kunde von diesem Wunder in der ganzen Gegend verbreiten wird. Aber sein Tun ist keine Pose für die Zuschauer. Er ist einfach ergriffen vom Schmerz jener Frau und kann nicht umhin, sie zu trösten. Er geht auf sie zu mit den Worten: Weine nicht [Lk 7,13], als ob Er ihr zu verstehen geben möchte: Ich will dich nicht in Tränen sehen, denn ich bin gekommen, Freude und Frieden auf die Erde zu bringen. Dann geschieht das Wunder, ein Zeichen der Macht des Gottes Jesus Christus. Aber ihm ging die Ergriffenheit seiner Seele voraus, ein klares Zeichen der Sanftmut des Herzens des Menschen Jesus Christus.

167 Wenn wir es nicht von Jesus lernen, werden wir nie lieben. Wenn wir dächten wie manch einer, Reinheit und Gottesnähe des Herzens seien gleichbedeutend mit einem Sichfernhalten und Sich-nicht-anstecken-lassen von menschlichen Regungen, dann wäre das Ergebnis nur Stumpfheit gegenüber dem Schmerz anderer. Wir wären dann nur einer offiziellen, trockenen und herzlosen Liebe fähig, nicht aber der wahren Liebe Christi, die echte Zuneigung und menschliche Wärme bedeutet. Dabei rede ich nicht jenen falschen Theorien das Wort, die nichts weiter sind als traurige Ausreden, um die Herzen auf Irrwege zu leiten – sie von Gott zu entfremden –, um sie dem Anlaß zur Sünde und dem Verderben preiszugeben.
Am heutigen Fest sollen wir den Herrn bitten, daß Er uns ein gutes Herz gebe, fähig, auf das Leid anderer mit Mitleid zu antworten und zu verstehen, daß die Qual, die das Menschenleben auf Erden begleitet und oft viele Seelen ängstigt, nur durch die Liebe gelindert werden kann. Alles andere bringt höchstens eine kurze Ablenkung, die dann nur wieder der Bitterkeit und der Verzweiflung weicht.
Wenn wir den anderen helfen wollen, müssen wir sie mit einer Liebe lieben, die – ich sage es noch einmal – Verständnis und Hingabe, Zuneigung und bewußte Demut ist. So begreifen wir, warum der Herr das ganze Gesetz in einem doppelten Gebot, ja eigentlich in einem einzigen Gebot zusammenfassen wollte: aus ganzem Herzen Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten [Vgl. Mt 22,40].
Vielleicht denkt ihr jetzt, daß die Christen – nicht die anderen, sondern wir: du und ich – manchmal die elementaren Anwendungsfälle dieser Pflicht vergessen. Vielleicht denkt ihr an all die Ungerechtigkeit, die nicht wiedergutgemacht wird, an all die Mißstände, die nicht behoben werden, an die Diskriminierung, die sich von Generation zu Generation fortpflanzt, ohne daß man nach Lösungen sucht, die an die Wurzel des Übels gehen.
Ich kann euch keine konkrete Lösung für diese Probleme anbieten, denn das steht mir nicht zu. Aber als Priester Christi ist es meine Pflicht, euch daran zu erinnern, was die Heilige Schrift sagt. Betrachtet das Bild des Gerichtes, das Jesus selbst schildert: Hinweg von mir, Verfluchte, in das ewige Feuer, das dem Teufel und seinen Engeln bereitet ist.
Denn ich war hungrig, und ihr gabt mir nicht zu essen, ich war durstig, und ihr gabt mir nicht zu trinken. Ich war fremd, und ihr nahmt mich nicht auf, nackt, und ihr habt mich nicht bekleidet, krank und im Gefängnis, und ihr habt mich nicht besucht
[Mt 25, 41-43].
Ein Mensch oder eine Gesellschaft, die auf die Not und die Ungerechtigkeit nicht reagieren und sich nicht bemühen, sie zu lindern, sind nicht Mensch und nicht Gesellschaft nach dem Maße des liebenden Herzens Christi. Unter ständiger Bewahrung eines weiten Freiheitsraumes bei der Ausarbeitung und Anwendung konkreter Lösungen und folglich innerhalb eines selbstverständlichen Pluralismus müssen die Christen in ihrem Eifer übereinstimmen, der Menschheit zu dienen. Sonst wäre ihr Christentum nicht das Wort und das Leben Jesu, sondern eine Maske und ein Betrug.

Der Frieden Christi

168 Noch etwas möchte ich euch zu bedenken geben: daß wir unverzagt kämpfen müssen, um das Gute zu tun, gerade weil wir wissen, wie schwer es uns Menschen fällt, mit allem Ernst Gerechtigkeit zu üben. Wir sind sehr weit entfernt von einem menschlichen Zusammenleben, das von der Liebe bestimmt ist und nicht von Haß oder Gleichgültigkeit.
Aber auch wenn es uns gelingen sollte, eine gerechtere Verteilung der Güter und eine bessere Gesellschaft zu erreichen, würde das Leiden nicht aufgehoben sein, das der Schmerz und die Krankheit, das Unverständnis und die Einsamkeit, der Tod geliebter Menschen und die Erfahrung der eigenen Begrenztheit erzeugen.
Vor diesem bedrückenden Bild findet der Christ nur eine einzige, aber entscheidende Antwort: Christus am Kreuz, Gott, der leidet und stirbt; Gott, der sein Herz hingibt für uns, aus Liebe zu allen Menschen von der Lanze durchbohrt. Der Herr verabscheut die Ungerechtigkeit und verurteilt den, der sie tut; aber Er läßt sie zu, weil Er die Freiheit jedes einzelnen achtet. Gott verursacht nicht das Leid der Geschöpfe, aber Er duldet es, weil es nach der Erbsünde zum menschlichen Dasein gehört. Ihm hat es aber gefallen, auf Antrieb seines liebenden Herzens mit dem Kreuz auch unsere Leiden, unsere Trübsal und Angst, unseren Hunger und Durst nach Gerechtigkeit auf sich zu nehmen.
Die christliche Lehre über den Schmerz ist kein billiger Trost. Zuallererst fordert sie die Annahme des Leidens, das tatsächlich vom menschlichen Leben nicht zu trennen ist.
Aber dort, wo das Kreuz ist, da ist auch Christus, die Liebe; da ich mich bemüht habe, danach zu leben, sage ich euch jetzt nicht ohne Freude, daß der Schmerz auch in meinem Leben nicht gefehlt hat, und daß ich mehr als einmal nahe daran war zu weinen.
Manchmal habe auch ich die wachsende Abscheu vor der Ungerechtigkeit und dem Bösen auskosten müssen sowie das Unbehagen, trotz allen guten Wollens und aller Anstrengungen machtlos dazustehen und nicht helfen zu können.
Wenn ich vom Schmerz spreche, so rede ich nicht von einer Theorie. Ich gebe nicht eine fremde Erfahrung weiter, wenn ich euch jetzt einschärfen möchte, daß ihr, wenn ihr die Härte des Leidens und die Erschütterung der Seele spürt, auf Christus schauen sollt.
Das ist das Heilmittel, denn das Bild des GoIgotha verkündet allen Menschen, daß Sorgen und Kummer geheiligt werden müssen, wenn wir eins mit dem Kreuz leben wollen.
Unsere Bedrängnis wird, christlich gelebt, zur Sühne und Wiedergutmachung, zur Teilnahme am Schicksal und am Leben Jesu, denn Er hat freiwillig und aus Liebe zu den Menschen alle nur denkbaren Schmerzen, alle Art von Qualen erfahren wollen. Er wurde arm geboren, Er lebte und starb arm; Er wurde angefeindet, verhöhnt, verschmäht, verleumdet und ungerecht verurteilt; Er wurde verraten und von seinen Jüngern im Stich gelassen; Er bekam die Einsamkeit, die Bitternis der Strafe und des Todes zu spüren.
Jetzt noch leidet Christus immerfort in seinen Gliedern, in der ganzen Menschheit, die die Erde bevölkert, und deren Haupt, Erstgeborener und Erlöser Er ist.
Der Schmerz hat einen Platz in den Plänen Gottes: auch wenn es uns schwerfällt, dies zu begreifen, so wie es Christus als Mensch schwerfiel: Vater, wenn du willst, laß diesen Kelch an mir vorübergehen. Doch nicht mein Wille geschehe, sondern der deine [Lk 22, 42].
In dieser Spannung zwischen Pein und Hinnahme des Willens des Vaters geht Jesus dem Tod entgegen, gelassen und denen verzeihend, die Ihn kreuzigen.
Gerade diese übernatürliche Annahme des Leidens ist wahrhaft eine Eroberung.
Christus besiegt den Tod, indem Er am Kreuze stirbt, Gott läßt aus dem Tod Leben erstehen. Die Haltung eines Kindes Gottes ist nicht die des Sichabfindens mit einem tragischen Geschick, sondern die Freude eines Menschen, der sich des Sieges gewiß ist.
Im Namen der siegreichen Liebe Christi müssen wir Christen überall auf der Erde mit unserem Wort und unserem Tun Frieden und Freude säen. Wir müssen kämpfen – den Kampf des Friedens – gegen das Böse, gegen die Ungerechtigkeit, gegen die Sünde, und auf diese Weise verkünden, daß der gegenwärtige Stand des Menschen nicht der endgültige ist, daß die Liebe Gottes, die sich im Herzen Christi zeigt, auch unter den Menschen einen herrlichen geistigen Triumph davontragen wird.

169 Wir haben uns jene Begegnung in Naim vergegenwärtigt. Wir hätten uns auch viele ähnliche Szenen ins Gedächtnis rufen können, denn das Evangelium bietet sie in Fülle. Diese Berichte haben schon immer die Herzen der Menschen bewegt, früher wie heute, denn hier zeigt sich nicht nur die aufrichtige Geste eines Menschen, der mit seinesgleichen Mitleid empfindet, sondern vor allem die Offenbarung der unauslotbaren Liebe Gottes. Das Herz Jesu ist das Herz des menschgewordenen Gottes, das Herz des Emmanuel, Gott mit uns.
Die Kirche, mit Christus vereint, wird aus einem durchbohrten Herzen geboren [Aus dem Hymnus der Vesper vom Fest]. Aus diesem weit geöffneten Herzen empfangen wir das Leben. Wie sollten wir nicht hier, wenn auch nur kurz, die Sakramente erwähnen, durch welche Gott in uns wirkt und uns der erlösenden Kraft Christi teilhaftig macht? Wie sollten wir nicht mit besonderer Dankbarkeit das allerheiligste Sakrament der Eucharistie, das heilige Opfer auf GoIgotha und seine ständige unblutige Erneuerung in der heiligen Messe erwähnen ? Es ist Jesus, der sich uns zur Speise gibt. Weil Christus zu uns kommt, wird alles anders: Eine Kraft – der Beistand des Heiligen Geistes – wirkt in uns, erfüllt die Seele und prägt Handeln, Denken und Fühlen. Christi Herz ist Frieden für den Christen.
Der tragende Grund der Hingabe, die der Herr von uns erwartet, ist nicht der eigene Wunsch oder die eigene Kraft, die oft hilf- und machtlos sind; diese Hingabe stützt sich vielmehr zuerst auf die Gnade, welche die Liebe aus dem Herzen des menschgewordenen Gottes für uns erlangt hat. Daher können und müssen wir in unserem inneren Leben als Kinder unseres Vaters im Himmel ausharren, ohne mutlos zu werden oder zu ermüden.
Ich verweise gern darauf, daß der Christ gerade in seinem Alltagsleben, in den einfachen Dingen, in den ganz gewöhnlichen Situationen Glaube, Hoffnung und Liebe lebt, denn darin äußert sich wesenhaft das Verhalten eines auf die göttliche Hilfe vertrauenden Menschen; und es ist hier, in der Ausübung dieser göttlichen Tugenden, wo er Freude, Kraft und Ruhe findet.
Das sind die Früchte des Friedens Christi, des Friedens, den uns sein allerheiligstes Herz bringt. Denn die Liebe Jesu zu den Menschen – es ist gut, wieder einmal daran zu erinnern – ist ein unergründlicher Teil des göttlichen Geheimnisses, der Liebe des Sohnes zum Vater und zum Heiligen Geist. Der Heilige Geist, das Band der Liebe zwischen Vater und Sohn, findet im göttlichen Wort ein menschliches Herz.
Es ist nicht möglich, über diese zentralen Geheimnisse unseres Glaubens zu sprechen, ohne die Begrenztheit unseres Verstandes und den Reichtum der Offenbarung gewahr zu werden. Aber fest und demütig glauben wir diese Wahrheiten, auch wenn sie für die staunende Vernunft unfaßbar sind: Gestützt auf das Zeugnis Christi wissen wir, daß es so ist; daß die Liebe im Schoß der Dreifaltigkeit sich ausgießt über alle Menschen durch die Liebe des Herzens Jesu.

170 Im Herzen Christi leben und sich mit Ihm eng verbinden heißt daher, zu einer Wohnstatt Gottes werden. Wer mich liebt, wird von meinem Vater geliebt werden [Jo 14,21], hat der Herr gesagt. Christus und der Vater nehmen im Heiligen Geiste Wohnung in der Seele [Vgl. Jo 14,23].
Wenn wir dies begreifen – und sei es auch nur ein wenig –, dann ändert sich unsere Seinsweise. Wir hungern nach Gott und machen uns die Worte des Psalms zu eigen: Mein Gott, ich suche Dich, meine Seele dürstet nach Dir, nach Dir schmachtet mein Leib wie dürres Land ohne Wasser [Vgl. Ps 63,2 (entnommen den Laudes vom Fest)]. Und Jesus, der diese Sehnsucht in uns entfacht hat, kommt uns entgegen und sagt: Wen dürstet, der komme zu mir und trinke [Jo 7, 37]. Er bietet uns sein Herz an, damit wir dort unsere Ruhe und unsere Stärke finden. Bejahen wir seinen Anruf, so wird sich die Wahrheit seiner Worte bestätigen, wir werden mehr nach Ihm hungern und dürsten und den Wunsch verspüren, daß Gott in unserem Herzen seine Wohnung nehme und uns seine Wärme und sein Licht nie mehr entziehe.
Ignem veni mittere in terram, et quid volo nisi ut accendatur? Feuer auf die Erde zu bringen, bin ich gekommen, und was will ich anderes, als daß es brenne? [Lk 12,49 (entnommen der Antiphon Ad Magnificat der 1. Vesper)] Wir haben uns ein wenig dem Feuer der Liebe Gottes ausgesetzt, lassen wir jetzt unser Leben von seiner Kraft lenken, lassen wir uns von der Begeisterung ergreifen, dieses göttliche Feuer bis an die Grenzen der Erde zu tragen, lassen wir es jene spüren, die um uns sind, damit auch sie den Frieden Christi erfahren und darin ihr Glück finden. Ein Christ, der mit dem Herzen Christi vereint lebt, kennt nur ein einziges Ziel: den Frieden in der Gesellschaft, den Frieden in der Kirche, den Frieden in der eigenen Seele: den Frieden Gottes, der vollendet wird, wenn sein Reich kommt.
Maria, Regina pacis, Königin des Friedens, die du geglaubt hast, daß die Verheißung des Engels in Erfüllung gehen werde: hilf uns, im Glauben zu wachsen, in der Hoffnung stark zu sein, tiefer in die Liebe einzudringen; denn dies erwartet heute dein Sohn von uns, wenn Er uns sein allerheiligstes Herz zeigt.

 «    MARIA, URSACHE UNSERER FREUDE    » 

(Homilie, gehalten am 15. August 1961, Mariä Himmelfahrt.)

171 Assumpta est Maria in coelum, gaudent angeli Assumpta est Maria in coelum, gaudent angeli [Antiphon der Vesper von Mariä Himmelfahrt]. Maria mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen. Freude herrscht bei den Engeln und bei den Menschen.
Woher mag sie kommen, diese innere Freude, daß es scheint, als weite sich uns das Herz und erfülle sich die Seele mit Frieden ? Wir freuen uns, weil wir die Verherrlichung unserer Mutter feiern, und es ist nur natürlich, daß wir, ihre Kinder, uns besonders freuen, wenn wir sehen, wie die Allerheiligste Dreifaltigkeit sie ehrt.
Christus, ihr göttlicher Sohn, unser Bruder, hat sie uns auf GoIgotha zur Mutter gegeben, als Er zu Johannes sagte: Siehe da, deine Mutter [Jo 19,27]. Und zusammen mit dem geliebten Jünger haben auch wir sie in jenem Augenblick äußerster Trostlosigkeit zur Mutter erhalten. Maria nahm uns in ihren Schmerz auf, als sich die Prophezeiung erfüllte: Deine Seele wird ein Schwert durchdringen [Lk 2,35]. Wir alle sind ihre Kinder; sie ist Mutter der gesamten Menschheit. Und jetzt gedenkt die Menschheit des einzigartigen Ereignisses ihrer Aufnahme: Maria fährt in den Himmel auf, Tochter Gottes des Vaters, Mutter Gottes des Sohnes, Braut Gottes des Heiligen Geistes. Nur Gott ist größer als sie.

Geheimnis der Liebe

Es ist ein Geheimnis der Liebe. Die menschliche Vernunft muß hier versagen. Allein der Glaube ist imstande zu verdeutlichen, wie ein Geschöpf zu einer so großen Würde erhoben wurde: Zentrum der Liebe zu sein, in der alles Wohlgefallen der Dreieinigkeit zusammenfließt. Wir wissen, daß wir vor einem göttlichen Geheimnis stehen. Aber da es um unsere Mutter geht, möchten wir gerade hier mehr begreifen – wenn man so sagen darf – als bei anderen Wahrheiten unseres Glaubens.
Was hätten wir getan, wenn wir uns unsere Mutter hätten auswählen können? Ich denke, wir hätten die Mutter gewählt, die wir haben, und wir hätten sie mit allen erdenklichen Vorzügen ausgestattet. Genau das tat Christus: Er ist der Allmächtige, der Allweise und die Güte selbst [Deus caritas est (Gott ist die Liebe, 1 Jo 4, 8)], und so hat seine Macht all sein Wollen Wirklichkeit werden lassen.
Hören wir, wie schon die frühen Christen so dachten: Es war angemessen – schreibt der heilige Johannes Damaszenus – daß diejenige, die bei der Geburt ihre Jungfräulichkeit unversehrt bewahrt hatte, ihren Leib auch nach dem Tode vor jeglicher Verderbnis bewahren würde. Es war angemessen, daß diejenige, die in ihrem Schoß den Kind gewordenen Schöpfer getragen hatte, in den göttlichen Wohnungen ihren Aufenthalt nehmen sollte. Es war angemessen, daß die Braut Gottes in das Haus des Himmels eintreten sollte. Es war angemessen, daß jene, die ihren Sohn am Kreuz gesehen und in ihrem Herzen den Schmerz empfangen hatte, von dem sie bei der Geburt frei geblieben war, Ihn auch zur Rechten des Vaters sitzend schauen sollte. Es war angemessen, daß die Mutter Gottes alles das besitzen sollte, was ihres Sohnes ist, und daß sie von allen Geschöpfen als Mutter und Magd Gottes geehrt werden sollte [Johannes Damaszenus, Homilia II in dormitionem B. V. Mariae, 14 (PG 96, 742)].
Die Theologen haben sich häufig ähnlich ausgedrückt, um irgendwie diese Gnadenfülle zu erfassen, mit der wir Maria bekleidet sehen, und die sich mit der Aufnahme in den Himmel vollendet. Sie sagen: Es war angemessen, Gott konnte es tun, also tat Er es [Vgl. Johannes Duns Scotus, In III Sententiarum, dist. III, q. 1]. Das ist die beste Erklärung dafür, daß der Herr seiner Mutter vom ersten Augenblick ihrer unbefleckten Empfängnis an alle nur erdenklichen Vorzüge gewährte. Sie war frei von der Macht Satans; sie ist schön – tota pulchra! – rein und lauter an Seele und Leib.

Das Geheimnis des stillen Opfers

172 Aber bedenkt: wohl hat Gott seine Mutter hoch erheben wollen, doch es ist gleichermaßen wahr, daß Maria in ihrem irdischen Leben weder die Erfahrung des Schmerzes noch die Mühsal der Arbeit, noch das Helldunkel des Glaubens erspart geblieben sind. Jene Frau aus dem Volke, die eines Tages in einen Lobruf auf Jesus ausbricht und ruft: Selig der Leib, der dich getragen, und die Brust, die dich genährt hat, erhält vom Herrn zur Antwort: Ja selig, die das Wort Gottes hören und es befolgen [Lk 11,27-28]. Es war das Lob seiner Mutter, ihres aufrichtigen, hingebungsvollen und bis zum Letzten gelebten fiat, es geschehe [Lk 1,38], daß sich nicht in auffälliger Weise kundtat, sondern im verborgenen und stillen Opfer des Alltags.
Wenn wir diese Wahrheiten betrachten, verstehen wir die Logik Gottes ein wenig besser; es wird uns klar, daß der übernatürliche Wert unseres Lebens nicht davon abhängt, ob die großen Taten, die unsere Phantasie sich manchmal ausmalt, Wirklichkeit werden, sondern davon, daß wir den göttlichen Willen treu annehmen und mit ganzer Bereitschaft die kleinen Opfer jeden Tages tragen.
Um göttlich zu sein, um vergöttlicht zu werden, müssen wir zunächst ganz menschlich sein, müssen wir mit dem Blick auf Gott unser gewöhnliches menschliches Dasein leben und das scheinbar Geringe heiligen. So lebte Maria. Sie, die, voll der Gnade, Ziel des göttlichen Wohlgefallens ist, erhaben über die Engel und Heiligen, führte ein normales Leben. Maria ist ein Geschöpf wie wir, mit einem Herzen wie das unsere, fähig zu Jubel und Freude, zu Leid und Tränen. Bevor der Engel Gabriel ihr den Willen Gottes mitteilt, weiß Unsere Liebe Frau nicht, daß sie von aller Ewigkeit her auserwählt worden ist, die Mutter des Messias zu werden. Sie sieht sich selbst voll Niedrigkeit [Vgl. Lk 1, 48]: Deshalb erkennt sie später in tiefer Demut, daß an ihr Großes tat der Mächtige [Lk 1, 49].
Die Reinheit, die Demut und die Großherzigkeit Mariens stehen im Gegensatz zu unserer Erbärmlichkeit, zu unserem Egoismus. Wozu sonst sollten wir uns dies vor Augen halten, wenn nicht, um uns angespornt zu fühlen, sie nachzuahmen. Wir sind Geschöpfe Gottes wie sie, und wenn wir uns nur bemühen, treu zu sein, wird der Herr auch in uns Großes vollbringen. Daß wir nur wenig bedeuten, ist kein Hindernis: denn Gott wählt das Geringe aus, damit die Kraft seiner Liebe um so mächtiger aufstrahlt [Vgl. 1 Kor 1,27-29].

Unsere Liebe Frau nachahmen

173 Unsere Mutter ist darin Vorbild, wie sie der Gnade entspricht. Wenn wir ihr Leben betrachten, wird uns der Herr Klarheit schenken, damit wir unser gewöhnliches Dasein vergöttlichen können. Wir Christen denken oft an die Mutter Gottes: im Laufe des Jahres, wenn wir die Marienfeste feiern, wie auch oft mitten im gewöhnlichen Alltag. Wenn wir diese Gelegenheiten nutzen und uns dabei vorstellen, wie Maria den Aufgaben, die uns beschäftigen, nachgehen würde, so werden wir ständig hinzulernen: und schließlich werden wir ihr ähnlich sein wie Kinder ihrer Mutter.
An erster Stelle ist ihre Liebe nachahmenswert. Die Liebe darf es nicht bei Gefühlen bewenden lassen: Sie soll in Worten bestehen, vor allem aber in Werken. Die Mutter Gottes sagte ihr fiat nicht nur, sondern sie verwirklichte diesen festen, unwiderruflichen Entschluß in jedem Augenblick ihres Lebens. So auch wir: wenn die Gottesliebe unser Herz unruhig macht und wir den göttlichen Willen erkannt haben, dann müssen wir uns auch entschließen, treu und loyal zu sein, und diesen Entschluß wirksam werden lassen.
Denn nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr! wird in das Himmelreich eingehen, sondern nur, wer den Willen meines Vaters tut, der im Himmel ist [Mt 7,21].
Auch ihre vollendete Art im Natürlichen und Übernatürlichen sollen wir nachahmen.
Maria ist in der Heilsgeschichte ein bevorzugtes Geschöpf, denn in ihr ist das Wort Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt [Jo 1,14]. Sie war feinfühlender Zeuge und blieb unauffällig; es mißfiel ihr, Lob zu empfangen, denn ihr Trachten ging nicht auf eigene Ehre. Maria ist zugegen in den Geheimnissen der Kindheit ihres Sohnes –vielleicht dürfen wir sie normale Geheimnisse nennen –, aber zur Stunde der großen Wunder und der begeisterten Menge ist sie nicht da. Maria ist nicht da, als Christus in Jerusalem – auf einem Esel reitend – als König umjubelt wird. Aber sie erscheint wieder unter dem Kreuz, als alle fliehen. Ihr unauffälliges Verhalten zeigt die Größe, Tiefe und Heiligkeit ihrer Seele.
Versuchen wir von ihr zu lernen, folgen wir ihrem Beispiel im Gehorsam gegenüber Gott, in dieser unauffälligen Verbindung von Dienen und Herrschen. In Maria ist nichts von jener Haltung der törichten Jungfrauen, die zwar gehorchen, aber ohne zu überlegen.
Unsere Liebe Frau hört aufmerksam auf das, was Gott will, erwägt, was sie nicht versteht, fragt, was sie nicht weiß. Dann liefert sie sich ganz dem göttlichen Willen aus: Siehe, ich bin die Magd des Herrn,' mir geschehe nach deinem Wort [Lk 1,38]. Seht ihr das Wunderbare?
Maria, die Lehrmeisterin unseres Lebens, zeigt uns hier, daß der Gehorsam gegenüber Gott nicht Unterwürfigkeit ist und das Gewissen nicht unterjocht, sondern er bringt uns in unserem Inneren dazu. die Freiheit der Kinder Gottes [Vgl. Röm 8,21] zu entdecken.

Die Schule des Gebetes

174 Ihr werdet mit der Hilfe Gottes noch viele andere Aspekte entdeckt haben in der Art, wie Maria der Gnade entspricht, und jede Beobachtung für sich ist schon eine Aufforderung, sie zum Vorbild zu nehmen: ihre Reinheit, ihre Demut, ihre Stärke, ihre Großherzigkeit, ihre Treue… Ich möchte jetzt von einem Zug im Leben Mariens sprechen, der alles andere einschließt, denn er ist der Nährboden des geistlichen Fortschritts: das Gebetsleben.
Wenn die Gnade wirksam werden soll, die uns unsere Mutter am heutigen Tage bringt, und wenn wir in jedem Augenblick den Eingebungen des Heiligen Geistes, des Hirten unserer Seele, folgen wollen, dann müssen wir uns ernsthaft aufgefordert fühlen, von uns aus den Umgang mit Gott zu suchen. Wir dürfen uns nicht in der Anonymität verbergen; entweder ist das innere Leben eine persönliche Begegnung mit Gott, oder es gibt kein inneres Leben. Oberflächlichkeit ist nicht Sache des Christen. In unserem asketischen Leben der Routine Einlaß gewähren, würde soviel bedeuten, wie der kontemplativen Seele den Totenschein ausstellen. Gott sucht uns einzeln; und jeder muß Ihm einzeln antworten: Hier bin ich, Herr, denn Du hast mich gerufen [1 Sm 3,5].
Beten, wie wir alle wissen, ist Sprechen mit Gott; aber vielleicht mag jemand fragen: Sprechen wovon? – Wovon sonst als von den Dingen Gottes und den Dingen, die uns jeden Tag beschäftigen. Von der Geburt Jesu, von seinem Wandern durch diese Welt, von seinem Leben im verborgenen und seiner Predigt, von seinen Wundern, von seinem erlösenden Leiden, seinem Kreuz und seiner Auferstehung. Und in der Gegenwart des einen und dreifaltigen Gottes wenden wir uns an Maria als unsere Mittlerin, und an jenen Heiligen als unseren Fürsprecher, den ich so sehr verehre, Josef, unseren Vater und Herrn, und so sprechen wir von unserer täglichen Arbeit, von der Familie, den Freunden und Bekannten, von großen Plänen und kleinen Engherzigkeiten.
Der Stoff meines Gebetes ist der Stoff meines Lebens. Ich jedenfalls halte es so. Und wenn ich mich sehe, wie ich bin, entsteht ganz von selbst der feste Vorsatz, mich zu ändern, mich zu bessern, der Liebe Gottes gegenüber fügsamer zu sein. Und neben diesem aufrichtigen, konkreten Vorsatz darf nicht die drängende, vertrauensvolle Bitte fehlen, der Heilige Geist möge uns nicht verlassen, denn Du, Herr, bist meine Stärke [Ps 43,2].
Wir sind normale Christen; wir sind in sehr verschiedenen Berufen tätig, unsere ganze Arbeit verläuft in normalen, alltäglichen Bahnen, in einem vorhersehbaren Rhythmus. Die Tage scheinen alle gleich, vielleicht sogar gleich eintönig… Und doch, dieses scheinbare Einerlei des Alltags hat einen göttlichen Wert; Gott interessiert es, denn Christus will Fleisch werden in unserem Tun, Er will selbst das unscheinbarste Tun von innen heraus beleben.
Dies ist eine Wirklichkeit des Glaubens, klar und eindeutig; nicht ein billiger Trost für jene, deren Name nicht in das goldene Buch der Geschichte eingehen wird. Christus interessiert diese Arbeit, die wir zu verrichten haben und wenn es tausendmal dieselbe ist – im Büro, in der Fabrik, in der Werkstatt, in der Schule, auf dem Felde, sei sie geistig oder körperlich: Ebenso interessiert Ihn das verborgene Opfer, welches darin besteht, die Galle der eigenen Verbitterung nicht über die anderen auszugießen.
Denkt in eurem Gebet noch einmal über diese Anregungen nach und nehmt sie zum Anlaß, Jesus zu sagen, daß ihr Ihn anbetet. So werdet ihr kontemplativ leben mitten in der Welt, im Lärm der Straße, überall. Dies ist das erste Kapitel in der Schule des Umgangs mit Jesus Christus. In dieser Schule ist Maria die beste Lehrmeisterin, denn immer hat die Mutter Gottes diese gläubige Haltung, diese übernatürliche Sicht der Dinge, bei allem, was um sie herum geschah, bewahrt: Sie bewahrte alle diese Dinge und erwog sie in ihrem Herzen [Lk 2,51].
Flehen wir heute zu Maria, sie möge uns beschaulich machen, sie möge uns lehren, den beständigen Ruf des Herrn vor der Tür unseres Herzens zu verstehen. Bitten wir sie: Du, unsere Mutter , du hast Jesus in die Welt gebracht, der uns die Liebe Gottes, unseres Vaters, offenbart ; hilf uns, Ihn zu erkennen mitten in den Dingen und Aufgaben des Alltags; rüttle unseren Verstand und unseren Willen auf, damit wir die Stimme Gottes hören und dem Antrieb der Gnade folgen können.

Lehrmeisterin der Apostel

175 Aber denkt nicht nur an euch selbst: weitet euer Herz, bis es die ganze Menschheit umfaßt. Denkt zuallererst an diejenigen, die in eurer Nähe sind – Verwandte, Freunde, Kollegen – und fragt euch, wie ihr in ihnen ein tieferes Gespür für die Freundschaft mit unserem Herrn wachrufen könnt. Wenn sie aufrechte, gute Menschen sind, fähig, dem Herrn besonders nahe zu folgen, so empfehlt sie ganz besonders Unserer Lieben Frau. Und betet auch für die vielen Menschen, die ihr nicht kennt, denn wir sind alle an Bord desselben Schiffes.
Seid loyal, seid großherzig. Wir sind alle Teil eines einzigen Leibes, des mystischen Leibes Christi, der heiligen Kirche, zu der viele berufen sind, die mit reinem Herzen nach der Wahrheit suchen. Aus diesem Grunde haben wir die ernste Pflicht, den anderen die Wärme und Tiefe der Liebe Christi kundzutun. Der Christ kann nicht egoistisch sein; wenn er es wäre, würde er seine ureigenste Berufung verraten. Es ist nicht im Sinne Christi, sich damit zu begnügen, die eigene Seele in Frieden zu wiegen – ein falscher Frieden wäre das – und sich nicht um das Wohl der anderen zu kümmern. Wenn wir uns dem eigentlichen Sinn des menschlichen Lebens geöffnet haben – und er ist uns ja durch den Glauben geoffenbart worden –, dann kann uns unser eigenes Bemühen, gut und christlich zu leben, nicht genügen, sondern wir werden alles tun – praktisch und konkret –, damit andere Menschen durch uns Gott näherkommen.
Es gibt ein wirkliches Hindernis für das Apostolat: eine falsche Rücksichtnahme und die Furcht, über Themen des Glaubens zu sprechen, in der Annahme, ein solches Gespräch könnte in bestimmten Kreisen schlecht ankommen, weil die Gefahr besteht, persönliche Empfindlichkeiten zu treffen. Wie oft ist dieser Einwand nur die Maske des Egoismus: Es geht nicht darum, jemanden zu verletzen, im Gegenteil, es geht darum zu dienen. Auch wenn wir persönlich nicht würdig sind, hat uns die Gnade Gottes zu Werkzeugen gemacht, die den andern helfen können, indem wir ihnen die frohe Botschaft bringen von Gott, unserem Retter, dessen Wille es ist, daß alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen [1Tim 2,4].
Aber darf man sich auf diese Weise in das Leben der anderen einmischen? Ja, man muß es. Christus hat sich in unser Leben eingemischt, ohne uns um Erlaubnis zu bitten.
Genauso tat Er es mit den ersten Jüngern: Als Er am Ufer des Sees von Galiläa entlangging, sah Er, wie Simon und Andreas, der Bruder Simons, ihre Netze in den See auswarfen. Sie waren Fischer. Jesus sprach zu ihnen: "Folget mir! Ich will euch zu Menschenfischern machen!" [Mk 1,16-17] Jeder behält die Freiheit' – eine falsch verstandene Freiheit –, Gott mit einem Nein zu antworten, wie jener reiche junge Mann im Evangelium des heiligen Lukas [Vgl, Lk 18,23]. Aber der Herr und wir – indem wir seinem Gehet hin und lehret [Vgl. Mk 16,15] gehorchen – haben das Recht und die Pflicht, von Gott zu reden, von diesem großen Thema der Menschen; denn die Sehnsucht nach Gott ist das Tiefste, was aus einem menschlichen Herzen hervorgeht.
Heilige Maria, Regina apostolorum, Königin aller, die sich danach sehnen, die Liebe deines Sohnes bekannt zu machen: bitte du, die so gut unsere Erbärmlichkeit versteht, um Vergebung für unser Leben: für das, was in uns hätte Glut sein können und nur Asche war; für das Licht, das nicht mehr leuchtet; für das Salz, das schal geworden ist. Mutter Gottes, du allmächtige Fürsprecherin: gib uns mit der Vergebung die Kraft eines Lebens ganz aus dem Glauben und aus der Liebe, damit wir den anderen den Glauben an Christus bringen können.

Nur ein Weg: persönliche Heiligkeit

176 Der beste Weg, um die apostolische Kühnheit und den Drang, allen Menschen zu dienen, niemals zu verlieren, ist die Fülle eines Lebens aus dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe; mit einem Wort: die Heiligkeit. Ich finde kein anderes Rezept als dieses: persönliche Heiligkeit.
Heute feiern wir in Gemeinschaft mit der ganzen Kirche den Triumph der Mutter, Tochter und Braut Gottes. Und so wie wir uns am dritten Tage nach dem Tod des Herrn über seine Auferstehung freuten, so freuen wir uns jetzt darüber, daß Maria, nachdem sie Jesus von Bethlehem bis unter das Kreuz begleitet hat, ganz bei Ihm ist, mit Leib und Seele, und die Freude der ewigen Herrlichkeit genießt. Dies ist der geheimnisvolle Heilsplan Gottes: Unsere Liebe Frau, die zur vollen Teilhabe am Werk unserer Erlösung bestimmt wurde, sollte ihrem Sohn immer ganz nahe folgen: in der Armut von Bethlehem, im verborgenen Leben gewöhnlicher Arbeit in Nazareth, im Offenbarwerden der Göttlichkeit zu Kana in Galiläa, in der Schmach des Leidens und im göttlichen Opfer am Kreuz, in der ewigen Seligkeit des Himmels.
Dies alles geht uns unmittelbar an, denn dieser übernatürliche Weg muß auch unser Weg sein. Maria zeigt uns, daß dies ein gangbarer, ein sicherer Pfad ist. Sie ist uns vorausgegangen auf den Spuren der Nachfolge Christi, und die Verherrlichung unserer Mutter ist die feste Hoffnung auf unser eigenes Heil; darum nennen wir sie spes nostra und causa nostrae laetitiae, unsere Hoffnung und Ursache unserer Freude.
Wir dürfen niemals die Zuversicht verlieren, daß wir einmal heilig werden, daß wir der Einladung Gottes folgen und beharrlich sind bis ans Ende. Gott, der in uns das Werk der Heiligung begonnen hat, wird es auch vollenden [Vgl. Phil 1,6]. Denn wenn der Herr für uns ist, wer ist gegen uns? Der seines eigenen Sohnes nicht schonte, sondern für uns alle Ihn hingab, wie sollte Er mit Ihm uns nicht auch alles schenken? [Röm 8,31-32]
An diesem Fest lädt alles zur Freude ein. Die sichere Hoffnung auf unsere persönliche Heiligung ist eine Gabe Gottes; aber der Mensch darf nicht untätig bleiben. Erinnert euch an die Worte Christi: Wer mir nachfolgen will, verleugne sich selbst, nehme täglich sein Kreuz auf sich, und so folge er mir [Lk 9,23]. Seht ihr? Täglich das Kreuz. Nulla dies sine cruce! Kein Tag ohne Kreuz; kein Tag, an dem wir nicht das Kreuz des Herrn tragen, an dem wir nicht sein Joch auf uns nehmen. Aus diesem Grunde möchte ich es nicht unterlassen, euch daran zu erinnern, daß die Freude der Auferstehung dem Leid des Kreuzes entspringt.
Habt nun aber keine Furcht, denn der Herr selbst hat uns gesagt: Kommt zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken. Nehmt mein Joch auf euch und lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig. Und ihr werdet Ruhe finden für eure Seelen. Denn mein Joch ist sanft und meine Bürde leicht [Mt 11,28-30]. Kommt, – so schreibt der heilige Johannes Chrysostomus – nicht um Rechenschaft abzulegen, sondern um von euren Sünden befreit zu werden; kommt, denn ich habe eure Ehre, die ihr mir erweisen könnt, nicht nötig: eure Rettung habe ich nötig. ..Fürchtet euch nicht, wenn ihr von Joch hört, denn es ist sanft; fürchtet euch nicht, wenn ich von Bürde spreche, denn sie ist leicht [Johannes Chrysostomus, In Matthaeum homiliae, 37,2 (PG 57,414)].
Der Weg unserer persönlichen Heiligung führt Tag für Tag über das Kreuz. Doch trostlos ist dieser Weg nicht, denn Christus selbst hilft uns, und bei Ihm kann es keine Traurigkeit geben. In laetitia, nulla dies sine cruce! Pflege ich oft zu sagen: die Seele von Freude durchdrungen, keinen Tag ohne Kreuz.

Die christliche Freude

177 Greifen wir noch einmal das Thema auf, das uns heute die Kirche vor Augen führt: Maria ist mit Leib und Seele in den Himmel aufgefahren, die Engel jubeln! Ich denke auch an den Jubel des heiligen Josef, ihres keuschen Gemahls, der sie im Paradies erwartet hat. Aber kehren wir auf die Erde zurück. Der Glaube versichert uns, daß unser Leben auf der Erde eine Zeit der Pilgerschaft ist, eine Reise, auf der Opfer, Leid und Entbehrungen nicht fehlen werden. Immer aber soll die Freude ihr Kontrapunkt sein.
Dienet dem Herrn in Freuden [Ps 100,2]. Es gibt keine andere Weise, Ihm zu dienen. Den fröhlichen Geber liebt Gott [2 Kor 9,7], den, der sich in einem freudigen Opfer ganz hingibt, denn es gibt keinen Grund zur Trauer.
Vielleicht werdet ihr dies für einen übertriebenen Optimismus halten, denn jeder Mensch kennt seine Unzulänglichkeiten und sein Versagen, jeder erfährt Leid, Müdigkeit, Undankbarkeit, vielleicht auch Haß. Wieso sollten wir Christen, die wir den anderen gleich sind, von diesen Gegebenheiten des Menschseins ausgenommen sein?
Es wäre naiv, wollte man die immer wiederkehrende Gegenwart des Leidens und der Entmutigung, der Trauer und der Einsamkeit während unserer Pilgerschaft auf der Erde leugnen. Durch den Glauben haben wir mit Sicherheit erkannt, daß dies alles kein Werk des Zufalls ist, und daß die Bestimmung des Geschöpfes kein Zuschreiten auf die Vernichtung seines Strebens nach Glück ist. Der Glaube lehrt uns, daß alles einen gottgewollten Sinn hat, denn alles gehört zum innersten Kern der Berufung, die uns ins Haus des Vaters führt. Dieses übernatürliche Verständnis des irdischen Daseins eines Christen will nicht die vielfältigen Zusammenhänge im Leben des Menschen verharmlosen, sie gibt vielmehr dem Menschen die Sicherheit, daß diese Vielfalt vom Nerv der Liebe Gottes durchzogen wird, von einem starken und unzerstörbaren Band, welches das Leben auf der Erde mit dem Leben in der endgültigen Heimat verbindet.
Das Fest der Aufnahme Mariens in den Himmel führt uns die Wirklichkeit dieser freudigen Hoffnung vor Augen. Noch sind wir unterwegs, aber unsere Mutter ist uns vorausgegangen und weist uns das Ziel des Weges. Sie sagt uns immer wieder, daß es möglich ist, dorthin zu gelangen, und daß wir auch wirklich ankommen werden, wenn wir treu sind. Denn die Mutter Gottes ist nicht nur unser Vorbild: sie ist die Hilfe der Christen.
Und sie kann und will es uns nicht abschlagen, sich mit mütterlicher Fürsorge um ihre Kinder zu kümmern, wenn wir nur darum bitten: Monstra te esse Matrem [Hymnus Ave maris stella].

178 Die Freude ist ein christliches Gut. Einzig bei der Beleidigung Gottes schwindet sie: denn die Sünde ist die Folge des Egoismus, und der Egoismus ist die Ursache der Traurigkeit. Aber selbst dann bleibt die Freude noch in einem Winkel der Seele, denn es steht fest, daß Gott und seine Mutter niemals die Menschen vergessen. Wenn wir umkehren, wenn aus unserem Herzen ein Reueakt aufsteigt, wenn wir uns im heiligen Sakrament der Buße reinigen, dann kommt Gott uns entgegen und verzeiht uns; und es gibt keine Traurigkeit mehr: da ist es angebracht, fröhlich zu sein; denn dieser dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden [Lk 15,32].
Mit diesen Worten schließt das Gleichnis vom verlorenen Sohn, das wir immer wieder betrachten sollten: Siehe, der Vater kommt dir entgegen; er wird sich zu dir herabbeugen, er wird dir einen Kuß geben, als Unterpfand seiner Liebe und Zärtlichkeit; er wird befehlen, daß man dir ein Kleid, einen Ring und Schuhe reicht. Noch fürchtest du einen Tadel, er aber gibt dir einen Kuß; du hast Angst vor einem zornigen Wort, und er bereitet dir ein Gastmahl [Ambrosius, Expositio Evangelii secundum Lucam, 7 (PL 15, 1540)].
Die Liebe Gottes ist unauslotbar. Wenn Er so mit dem verfährt, der Ihn beleidigt hat, was wird Er dann tun, um seine Mutter zu ehren, die Unbefleckte, Virgo fidelis, die allerheiligste Jungfrau, die allzeit Getreue?
Wenn die Liebe Gottes sich da schon als so groß erweist, wo das Fassungsvermögen des – oft verräterischen – menschlichen Herzens so gering ist, wie wird diese Liebe im Herzen Mariens sein, die dem Willen Gottes niemals auch nur das geringste Hindernis entgegengestellt hat?
Seht, wie das Unvermögen, die unendliche Barmherzigkeit des Herrn mit dem menschlichen Denken zu erfassen, einen Widerhall in der Liturgie des heutigen Tages findet; sie erklärt nicht, sie singt; sie weckt die Phantasie, damit jeder seine Begeisterung in den Lobgesang miteinfließen läßt. Denn keiner von uns vermag in seinen kühnsten Vorstellungen an die Wirklichkeit heranzureichen: Am Himmel erschien ein großes Zeichen! Eine Frau, mit der Sonne umkleidet, den Mond unter ihren Füßen und eine Krone von zwölf Sternen auf ihrem Haupte [Offb 12,1]. Nach deiner Schönheit verlanget den König.
Gekleidet in farbige Pracht, wird die Königstochter zum König geführt
[Ps 45,12-14].
Die Liturgie wird mit Worten Mariens schließen, in denen sich die größte Demut mit der größten Verherrlichung verbindet: Von nun an werden mich seligpreisen alle Geschlechter. Großes hat an mir getan der Mächtige [Lk 1,48-49].
Cor Mariae dulcissimum, iter para tutum; liebenswertestes Herz Mariens, gib uns Kraft und Sicherheit auf unserem Erdenweg; sei du selbst unser Weg, denn du kennst ja den Pfad und die sichere Abkürzung, die über deine Liebe zur Liebe Jesu Christi hinführt.

 «    CHRISTKÖNIG    » 

(Homilie, gehalten am 22. November 1970, Christkönigsfest.)

179 Das liturgische Jahr geht zu Ende. In dieser heiligen Messe bringen wir von neuem Gott Vater das Opfer dar, das Christus selbst ist, Er, der König der Heiligkeit und der Gnade, der König der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens, wie wir in der Präfation beten werden […regnum sanctitatis et gratiae, regnum iustitiae. amoris et pacis (Präfation der heiligen Messe)]. Ihr alle spürt in eurer Seele eine große Freude, wenn ihr die heilige Menschheit unseres Herrn betrachtet, eines Königs, mit einem Herzen aus Fleisch wie unser Herz, der das All geschaffen hat und jedes Geschöpf. Er zwingt sich nicht als Herrscher auf, Er zeigt uns schweigend seine durchbohrten Hände und bittet um etwas Liebe.
Warum also kennen Ihn so viele Menschen nicht? Warum immer noch jenes rohe Aufbegehren? Nolumus hunc regnare super nos [Lk 19,14], wir wollen nicht, daß dieser als König über uns herrsche. Millionen Menschen auf der Erde stellen sich so Christus entgegen, besser gesagt: seinem Schattenbild, denn sie kennen Christus nicht, sie haben die Schönheit seines Antlitzes nie gesehen, die Größe seiner Lehre nie kennengelernt.
Angesichts dieses traurigen Schauspiels fühle ich mich gedrängt, dem Herrn Genugtuung zu leisten. Und wenn ich jenen unaufhörlichen Schrei der Auflehnung höre, der weniger in Worten als in schlechten Taten besteht, fühle ich mich gedrängt, laut zu rufen: Oportet illum regnare! [1 Kor 15,25] Er soll als König herrschen.

Widerstand gegen Christus

Viele ertragen es nicht, daß Christus herrscht; sie widersetzen sich Ihm auf tausenderlei Weise in ihrer Auffassung von der Welt und vom menschlichen Zusammenleben, in ihrem sittlichen Verhalten, in Wissenschaft und Kunst, ja selbst im Leben der Kirche. Ich spreche nicht von den Übeltätern, schreibt der heilige Augustinus, die Gott beleidigen, denn es sind in der Tat wenige, welche Ihn mit ihrer Zunge beleidigen, aber es sind viele, die Ihn durch ihren Lebenswandel beleidigen [Augustinus, In Ioannis Evangelium tractatus, 27,11 (PL 35, 1621)].
Manche stoßen sich sogar an der Bezeichnung Christkönig, weil sie allzu oberflächlich bei Worten stehenbleiben, als könnte man das Königtum Christi mit politischen Vorstellungen verwechseln; oder sie stören sich daran, weil das Bekenntnis zum Königtum Christi sie auch zur Anerkennung eines Gesetzes führen könnte. Und sie dulden kein Gesetz, nicht einmal das liebenswürdige Gebot der Liebe; sie wollen sich nicht der Liebe Gottes nähern, sondern nur dem eigenen Egoismus dienen.
Schon seit langem wiederhole ich in meinem Innern den Ruf: Serviam! Ich will dienen! Möge Er in uns diesen Wunsch nach Hingabe und Treue gegenüber seinem göttlichen Ruf mitten in der Welt, sozusagen auf der Straße, in aller Natürlichkeit und ohne Aufsehen, stärken. Sagen wir Ihm aus der Tiefe unseres Herzens Dank. Wenden wir uns an Ihn, beten wir zu Ihm als seine Diener, als seine Kinder! Dies wird für unsere Zunge wie Milch sein und wie Honig; süß wie Wabe wird es uns schmecken, vom Gottesreich zu sprechen, das ein Reich der Freiheit ist, jener Freiheit, die Er uns erworben hat [Vgl. Gal 4,31].

Christus, der Herr der Welt

180 Laßt uns jetzt betrachten, wie derselbe Christus, den wir in Bethlehem als neugeborenes, liebenswertes Kind gesehen haben, zugleich der Herr der Welt ist. Denn durch Ihn wurde alles im Himmel und auf Erden erschaffen; Er hat alles mit dem Vater versöhnt und den Frieden zwischen Himmel und Erde wiederhergestellt durch das Blut, das Er am Kreuz vergossen hat [Vgl. Kol 1,11-16]. Jetzt herrscht Christus zur Rechten des Vaters. Zwei Engel in weißen Gewändern offenbaren es den Jüngern, die nach der Himmelfahrt des Herrn verwundert zu den Wolken aufblicken: Ihr Männer von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel hinauf? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen ist, wird ebenso wiederkommen, wie ihr Ihn habt zum Himmel auffahren sehen [Apg 1,11].
Durch Ihn herrschen die Könige [Spr 8,15], nur daß Könige und menschliche Autoritäten vergehen, während das Reich Christi auf immer und ewig [Ex 15,18]bleibt. Sein Reich ist ewig und währt von Geschlecht zu Geschlecht [Dn 3,100].
Das Reich Christi: das ist mehr als eine Redewendung oder Floskel. Christus lebt, auch als Mensch, mit demselben Leib, den Er bei der Menschwerdung angenommen hat, der nach dem Tod am Kreuz auferstand, und der nun, mit der menschlichen Seele vereint, in der Person des göttlichen Wortes verherrlicht ist. Christus, wahrer Gott und wahrer Mensch, lebt und herrscht und ist der Herr der Welt. Nur durch Ihn wird alles Lebendige am Leben erhalten.
Warum aber erscheint Er jetzt nicht in seiner Herrlichkeit? Sein Reich ist nicht von dieser Welt [Jo 18,36], obwohl es in dieser Welt ist. Jesus hatte Pilatus erwidert: Ich bin ein König.
Ich bin dazu geboren, für die Wahrheit Zeugnis abzulegen. Jeder, der aus der Wahrheit kommt, hört auf meine Stimme
[Jo 18,37]. Alle, die vom Messias eine sichtbare, zeitliche Macht erwarteten, haben sich geirrt: Das Reich Gottes besteht ja nicht in Speise und Trank, sondern in Gerechtigkeit, Frieden und Freude im Heiligen Geist [Röm 14,17].
Wahrheit und Gerechtigkeit, Frieden und Freude im Heiligen Geist, das ist das Reich Christi: das göttliche Handeln, das die Menschen erlöst und das sich vollenden wird am Ende der Zeiten. Dann wird der Herr, der im Paradies herrscht, wiederkommen, um endgültig die Menschen zu richten.
Christus beginnt seine Predigt auf Erden nicht mit einem politischen Programm, sondern mit der Aufforderung: Kehret um! Denn das Himmelreich ist nahe [Mt 3,2; 4,17]. Er beauftragt seine Jünger, diese frohe Botschaft zu verkünden [Vgl. Lk 10,9], und Er lehrt uns, im Gebet die Ankunft des Reiches zu erbitten [Vgl. Mt 6,10]. Ein heiliges Leben, das ist das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit; das ist es, was wir zuerst suchen sollen [Vgl.Mt 6,33], das ist das einzig wirklich Notwendige [Vgl. Lk 10,42].
Die Erlösung, die Christus verkündet, ist eine Einladung, die Er an alle richtet: Mit dem Himmelreich ist es wie mit einem König, der seinem Sohn die Hochzeit bereitete. Und er sandte seine Knechte aus, die Eingeladenen zur Hochzeit zu rufen [Mt 22,2-3]. Deswegen offenbart uns der Herr: Das Reich Gottes ist mitten unter euch [Lk 17,21].
Keiner bleibt von der Erlösung ausgeschlossen, wenn er sich frei den liebevollen Forderungen Christi fügt: von neuem geboren zu werden [Vgl. Jo 3,5], wie die Kinder einfach im Geiste zu werden [Vgl. Mk 10,15; Mt 18,3; 5,3], aus dem Herzen alles zu verbannen, was uns von Gott trennt [Wahrlich, ich sage euch, ein Reicher wird schwer in das Himmelreich hineingelangen (Mt 19,23)].
Jesus erwartet Taten, nicht nur Worte [Vgl Mt 7,21]. Er verlangt einen entschlossenen Einsatz, denn nur jene, die kämpfen, werden das ewige Erbe erlangen [Das Himmelreich leidet Gewalt, und Gewalttätige reißen es an sich (Mt 11, 12)].
Die Vollendung des Reiches, das endgültige Urteil über Rettung oder Verdammnis, geschieht nicht auf dieser Erde. Jetzt ist das Reich wie ein Samen [Vgl. Mt 13,24], wie das Wachsen eines Senfkornes [Vgl. Mt 13,31-32]; seine Vollendung wird wie ein Fischfang sein: das Netz wird ans Land gezogen, und die Guten wie die Bösen werden ihrer Bestimmung übergeben [Vgl. Mt 13,47-48].
Solange wir aber auf Erden leben, gleicht das Reich dem Sauerteig, den eine Frau nahm und unter drei Maß Mehl mengte, bis das Ganze durchsäuert war [Vgl. Mt 13,33].
Wer begreift, was das für ein Reich ist, von dem Christus spricht, der versteht auch, daß es sich lohnt, alles aufs Spiel zu setzen, um es zu erlangen; es ist die Perle, die der Kaufmann erwirbt, nachdem er seinen ganzen Besitz verkauft hat, der Schatz, der im Acker entdeckt wird [Vgl. Mt 13,44-46]. Das Himmelreich ist schwer zu erobern; und keiner kann sich seiner sicher sein [Vgl Mt 21,43; 8,12]; aber das demütige Rufen eines reumütigen Menschen öffnet weit seine Tore. Einer der Schächer, die mit Christus gekreuzigt wurden, fleht Ihn an: Herr, gedenke meiner, wenn Du in Dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: „Wahrlich, ich sage dir: Heute noch wirst du mit mir im Paradiese sein." [Lk 23,42-43].

Das Reich Gottes in der Seele

181 Groß bist Du, mein Herr und Gott! Du verleihst unserem Leben einen übernatürlichen Sinn und eine göttliche Wirksamkeit. Du läßt uns mit ganzer Kraft, mit Leib und Seele, aus Liebe zu Deinem Sohn ausrufen: Oportet illum regnare, Er soll als König herrschen! – auch wenn wir uns immer unserer Schwäche bewußt bleiben; Du weißt, daß wir Geschöpfe sind – und was für Geschöpfe! Nicht nur unsere Füße sind aus Lehm [Vgl Dn 2,33], sondern auch Herz und Haupt. Aber mit Deiner Gnade werden wir uns ausschließlich für Dich einsetzen.
Christus soll herrschen, vor allem in unserer Seele. Was würden wir antworten, wenn Er uns fragte: Willst du, daß ich in dir herrsche? Ich würde Ihm antworten, daß ich dazu die Fülle seiner Gnade brauche. Denn nur so wird sich alles verwandeln in ein Hosanna, einen Freudenruf zu Christus, meinem König: jeder Herzschlag, jeder Atemzug, selbst jeder flüchtigste Blick, jedes einfachste Wort, jede Empfindung.
Wenn wir wollen, daß Christus herrscht, dann seien wir konsequent ; beginnen wir damit, daß wir Ihm unser Herz schenken. Wenn nicht, ist das Reden vom Königtum Christi ein Schlagwort ohne christlichen Inhalt, eine Äußerlichkeit ohne Glauben, ein trügerischer Gebrauch des Namens Gottes für menschliche Dinge.
Wäre die Voraussetzung für die Herrschaft Jesu in deiner und meiner Seele, daß wir Ihm eine würdige Wohnstätte in uns anbieten könnten, dann müßten wir verzweifeln. Aber fürchte dich nicht, Tochter Zion, siehe, dein König kommt, sitzend auf einem Eselsfüllen [Jo 12,15].
Seht ihr? Jesus ist zufrieden mit einem armen Tier als Thron. Ich weiß nicht, wie es bei euch ist; für mich ist es nicht erniedrigend, mich vor Gott als ein armer Esel zu fühlen: Wie ein Esel, so war ich vor Dir. Nun aber bleibe ich immer vor Dir, Du hast mich ergriffen mit Deiner Rechten [Ps 73,23-24], Du führst mich am Halfterstrick.
Heute sieht man dieses Lasttier nicht mehr so oft wie früher, aber denkt einmal an seine Eigenschaften. Nicht den alten, starrköpfigen, nachtragenden Esel meine ich, der sich hinterhältig mit einem Tritt rächt, sondern ein junges Tier: die Ohren steil wie Antennen, genügsam im Futter, hart in der Arbeit, entschieden und freudig im Trott. Viele Tiere sind schöner, tüchtiger – und urwüchsiger. Christus aber hat sich einen Esel ausgesucht, um als König vor dem jubelnden Volk zu erscheinen. Denn Jesus weiß nichts anzufangen mit berechnender Schläue, mit der Grausamkeit eines kalten Herzens, mit augenfälliger, aber leerer Schönheit. Unser Herr schätzt die Freude eines jungen Herzens, den einfachen Schritt, eine Stimme ohne Falsch, klare Augen, ein Ohr, das sein liebevolles Wort sucht. So herrscht Er in der Seele.

Dienend herrschen

182 Wenn wir Christus in unserer Seele herrschen lassen, werden wir uns nie als Herren aufspielen, sondern Diener aller Menschen sein. Dienen. Wie sehr gefällt mir dieses Wort; meinem König dienen und durch Ihn allen, die durch sein Blut erlöst sind.
Verstünden wir Christen es doch zu dienen! Vertrauen wir jetzt dem Herrn unseren Entschluß an, lernen zu wollen, wie man dient, denn nur dienend werden wir fähig sein, Christus zu kennen und zu lieben; nur dann werden wir andere Menschen zu Ihm führen und erreichen, daß auch sie Ihn lieben.
Wie können wir die Menschen zu Christus führen? Durch unser Beispiel: seien wir seine Zeugen, indem wir Ihm freiwillig dienen in all unserem Tun; denn Er ist der Herr unseres Lebens, Er der letzte und einzige Grund unseres Daseins. Und wenn wir Zeugnis gegeben haben durch unser Beispiel, werden wir auch fähig sein, mit unserem Wort die Lehre Christi weiterzugeben. So handelte Christus: Coepit facere et docere [Apg 1,1], erst lehrte Er mit Werken, dann mit seiner göttlichen Predigt.
Um Christi willen den anderen dienen, erfordert von uns sehr menschlich zu sein.
Wenn unser Leben unmenschlich ist, wird Gott nicht darauf aufbauen können, denn für gewöhnlich baut Er nicht auf Chaos, Egoismus und Anmaßung. Wir müssen Verständnis für alle haben, mit allen zusammenleben, alle entschuldigen, allen verzeihen können. Wir werden uns nicht dazu hergeben, das Ungerechte gerecht oder das Schlechte gut zu nennen, die Beleidigungen Gottes zu beschönigen. Aber wir werden das Böse nicht mit Bösem erwidern, sondern mit der klaren Lehre und der guten Tat: indem wir es im Überfluß des Guten ersticken [Vgl. Röm 12,21]. So wird Christus in unserer Seele herrschen und in der Seele derer, mit denen wir zusammenleben.
Manche wollen den Frieden in die Welt bringen, ohne die Liebe Gottes in ihren eigenen Herzen zu haben, ohne den Geschöpfen aus Liebe zu Gott zu dienen. Wie kann man auf diese Weise Frieden stiften? Der Frieden Christi ist der Frieden des Reiches Christi, und das Reich unseres Herrn muß verankert sein im Wunsch nach Heiligkeit, im demütigen Offensein für die Gnade, in einem mutigen Einsatz für die Gerechtigkeit, in einem Überströmen der göttlichen Liebe in uns.

Christus, Gipfel und Ziel allen menschlichen Tuns

183 Es ist zu schaffen, es ist nicht nur ein schöner Traum. Wenn wir Menschen uns nur dazu entschließen wollten, die Liebe Gottes in uns wohnen zu lassen! Christus unser Herr wurde gekreuzigt, und Er erlöste, am Kreuze erhöht, die Welt, Er stellte den Frieden zwischen Gott und den Menschen wieder her. Uns alle erinnert Jesus Christus daran: Et ego, si exaltatus fuero a terra, omnia traham ad meipsum [Jo 12,32], wenn ihr mich an die Spitze aller menschlichen Tätigkeiten stellt, wenn ihr in jedem Augenblick eure Pflicht erfüllt, wenn ihr meine Zeugen im Großen wie im Kleinen seid, omnia traham ad meipsum, dann werde ich alles an mich ziehen. Mein Reich wird unter euch Wirklichkeit sein!
Christus unser Herr will auch heute die Saat des Heils unter allen Menschen und in der ganzen Schöpfung aussäen, in dieser unserer Welt, die gut ist – denn sie ging aus den Händen Gottes hervor; erst die Beleidigung Adams, die Sünde des menschlichen Stolzes, zerstörte die göttliche Harmonie des Geschaffenen.
Als aber die Fülle der Zeit gekommen war, sandte Gott Vater seinen eingeborenen Sohn. Dieser nahm durch den Heiligen Geist Fleisch an aus Maria der Jungfrau, um so den Frieden wiederherzustellen und den Menschen von der Sünde zu erlösen, ut adoptionem filiorum reciperemus [Gal 4,5], damit wir zu Kindern Gottes würden, fähig, am göttlichen Leben teilzuhaben. So wurde dieser neue Mensch, dieser neue Stamm der Kinder Gottes [Vgl. Röm 6,4-5] dazu befähigt, die ganze Welt vom Chaos zu befreien und alles wiederherzustellen in Christus [Vgl. Eph 1,9-10], der alles mit Gott versöhnt hat [Vgl. Kol 1,20].
Dazu sind wir Christen berufen, das ist unsere apostolische Aufgabe, das ist der Eifer, der uns verzehren soll: das Reich Christi zu verwirklichen, Haß und Grausamkeit auszutilgen, den heilsamen und friedbringenden Balsam der Liebe auf der Erde auszubreiten. Bitten wir heute unseren König, Er möge uns den demütigen und entschlossenen Willen geben, an diesem göttlichen Plan mitzuarbeiten: zusammenzufügen, was zerbrochen ist; zu retten, was verloren ist; zu ordnen, was der Mensch in Unordnung gebracht hat; wieder auf den rechten Weg zu bringen, was in die Irre gegangen ist, die Eintracht unter allen Geschöpfen wiederherzustellen.
Den christlichen Glauben annehmen heißt, sich verpflichten, die Sendung Christi unter den Menschen weiterzuführen. Jeder von uns soll alter Christus, ipse Christus sein, einanderer Christus, Christus selbst. Nur so werden wir diese großartige, gewaltige, nie endende Aufgabe übernehmen können: von innen her alle zeitlichen Strukturen zu heiligen und sie mit dem Sauerteig der Erlösung zu durchdringen.
Ich rede nie von Politik. Die Aufgabe der Christen auf der Erde sehe ich nicht darin, eine politisch-religiöse Strömung zu bilden; das wäre eine Torheit, selbst wenn man sich dabei von dem lobenswerten Wunsch leiten ließe, alle menschlichen Tätigkeiten mit dem Geist Christi zu durchdringen. Es ist das Herz des Menschen, ganz gleich, um wen es sich handelt, in das man den Geist Christi hineintragen muß. Bemühen wir uns, jeden Christen so anzusprechen, daß er es versteht, seinen Glauben durch Wort und Beispiel zu bezeugen, wo immer er ist: in der konkreten Situation, die sich nicht allein aus seiner Stellung in Kirche und Gesellschaft, sondern auch aus den wechselnden historischen Umständen ergibt.
Der Christ lebt mit vollem Recht in der Welt, da er Mensch ist. Wenn er zuläßt, daß Christus in seinem Herzen wohnt, daß Christus darin herrscht, dann wird sein ganzes menschliches Tun von der erlösenden Wirksamkeit des Herrn geprägt sein. Ob dann dieses Tun als hoch oder niedrig eingestuft wird, ist dabei unerheblich, denn was in den Augen der Menschen als hoch gilt, kann vor Gott sehr niedrig sein, und was wir gering oder bescheiden nennen, kann aus christlicher Sicht einen hohen Rang haben, den Rang von Heiligkeit und Dienst.

Persönliche Freiheit

184 Der Christ darf in seiner Arbeit – die seine Pflicht ist – die Eigengesetzlichkeit des Irdischen weder umgehen noch verachten. Verstünde man unter dem Ausdruck die menschlichen Tätigkeiten segnen, die ihnen eigene Dynamik außer Kraft zu setzen oder zu übersehen, würde ich den Ausdruck meiden. Mir hat es nie gefallen, daß die gewöhnlichen menschlichen Tätigkeiten einen konfessionellen Anstrich, ein Etikett tragen.
Ich respektiere die gegenteilige Meinung; aber mir scheint, daß man dabei Gefahr läuft, den heiligen Namen unseres Glaubens zu mißbrauchen. Gelegentlich ist außerdem das katholische Etikett gebraucht worden, um Haltungen und Tätigkeiten zu rechtfertigen, die, menschlich gesehen, nicht ganz ehrenhaft waren.
Da die Welt und alles, was es in ihr gibt – außer der Sünde –, gut ist, denn die Welt ist aus den Händen Gottes hervorgegangen, hat der Christ die Aufgabe, Seite an Seite mit seinen Mitbürgern alles Irdische als seinen Aufgabenbereich zu betrachten, im beharrlichen Kampf, Gott nicht zu beleidigen in einem Kampf aus Liebe. Er hat alle Güter zu verteidigen, die sich aus der Würde der Person herleiten.
Ganz besonders darf er das Gut der persönlichen Freiheit nicht aus dem Auge verlieren. Nur wenn er die individuelle Freiheit der anderen, die immer zugleich auch persönliche Verantwortung bedeutet, mit menschlicher und christlicher Redlichkeit zu verteidigen weiß, wird er ebenso auch die eigene verteidigen können. Ich kann nicht umhin, immer wieder darauf hinzuweisen, daß der Herr uns unverdient ein großes übernatürliches Geschenk gegeben hat: seine göttliche Gnade, und eine weitere herrliche menschliche Gabe: die persönliche Freiheit. Sie verlangt von uns Redlichkeit, das wirksame Bemühen, unser Leben dem Gesetz Gottes zu unterstellen, denn wo der Geist des Herrn ist, da ist Freiheit [2 Kor 3,17]. Ohne dies entartet sie zu Willkür und Verantwortungslosigkeit.
Das Reich Christi ist ein Reich der Freiheit, und in diesem Reich gibt es keine anderen Knechte als die, die sich, aus Liebe zu Gott, in Freiheit binden. Gesegnete Knechtschaft der Liebe, die uns frei macht! Ohne Freiheit können wir nicht der Gnade entsprechen; ohne Freiheit können wir uns nicht dem Herrn frei hingeben, in einer Hingabe, die einen sehr übernatürlichen Grund hat: weil wir es so wollen.
Einige von euch, die mir jetzt zuhören, kennen mich schon seit vielen Jahren. Ihr könnt bestätigen, daß ich mein Leben lang die persönliche Freiheit und die persönliche Verantwortung gepredigt habe. Ich habe sie überall gesucht und suche sie immer noch, wie Diogenes den Menschen suchte. lch liebe sie jeden Tag mehr, ich liebe sie über alles; sie ist ein Schatz, unschätzbar groß.
Wenn ich von der persönlichen Freiheit rede, dann keineswegs als Vorwand, um über Fragen zu sprechen, die – mögen sie noch so berechtigt sein – mich als Priester nichts angehen. Es steht mir nun einmal nicht zu, weltliche, zeitgebundene Themen zu behandeln. Sie gehören in den zeitlichen und staatsbürgerlichen Bereich, den der Herr der freien, sachlichen Diskussion überlassen hat. Ich weiß auch, daß der Priester einen engstirnigen Gruppengeist zu vermeiden hat und seinen Mund nur auftun soll, um die Seelen zu Gott, zu seiner geistlichen Heilslehre, zu den von Christus eingesetzten Sakramenten und zum inneren Leben zu führen, das uns dem Herrn näherbringt und uns erfahren läßt, daß wir seine Kinder sind und deswegen Brüder aller Menschen.
Wir feiern heute das Christkönigsfest. Ich mißbrauche nicht mein Amt als Priester, wenn ich sage, daß jemand, der das Reich Christi als politisches Programm deuten möchte, die übernatürliche Ausrichtung des Glaubens nicht verstanden hat. Er wäre im Begriff, das Gewissen anderer mit einer Last zu beladen, die nicht die Last Christi ist, denn sein Joch ist sanft und seine Bürde ist leicht [Mt 11,30]. Bemühen wir uns, alle Menschen wirklich zu lieben; lieben wir Christus über alles, und dann werden wir nicht anders können, als im friedlichen und vernünftigen Zusammenleben mit den anderen Menschen deren rechtmäßige Freiheit zu lieben.

Kinder Gottes

185 Vielleicht möchtet ihr mir jetzt sagen: Wenige wollen das hören, und noch weniger sind bereit, dies zu tun! Ja, die Freiheit ist eine kräftige, gesunde Pflanze, die schlecht heimisch wird auf felsigem Boden, unter Dornen oder auf vielbenutzten Wegen [Vgl. Lk 8,5-7]. Das war uns schon verkündet worden, noch bevor Christus auf die Erde kam.
Denkt nur an die Worte des Psalms: Warum toben die Heiden und sinnen die Völker auf Eitles? Es stehen auf die Könige der Erde und kommen zusammen die Fürsten wider den Herrn und wider seinen Gesalbten [Ps 2,1-2], Seht ihr? Nichts Neues: Widerstand gegen Christus schon vor seiner Geburt; Widerstand gegen Ihn, während Er Palästina friedfertig durchwanderte; Verfolgungen damals und Verfolgungen heute, mit Angriffen gegen die Glieder seines mystischen Leibes. Warum soviel Haß, warum dieses Sich-weiden an der reinen Arglosigkeit, warum überall dieses Niedertreten der Freiheit der Gewissen?
Laßt uns zerreißen ihre Bande und von uns werfen ihr Joch! [Ps 2,3] Sie durchbrechen das sanfte Joch, sie werfen von sich seine liebenswerte Bürde der Heiligkeit und der Gerechtigkeit, der Gnade, der Liebe und des Friedens. Sie wüten gegen die Liebe, sie verspotten die wehrlose Güte eines Gottes, der auf Legionen von Engeln, die Ihn verteidigen könnten, verzichtet [Vgl. Jo 18,36; Mt 26,52-54]. Vielleicht würden sie versuchen, sich mit diesem Gott zu verständigen, wenn Er sich auf einen Kompromiß einließe und, um der Großzahl der Schuldigen zu willfahren, einige wenige Unschuldige opferte. Doch das ist nicht die Logik Gottes. Unser Vater Gott ist wirklich ein Vater, bereit, Tausenden, die Böses tun, zu verzeihen, wenn es nur zehn Gerechte gibt [Vgl. Gn 18,32]. Jene, die sich von Haß leiten lassen, können dieses Erbarmen nicht begreifen, und die scheinbare Straflosigkeit auf Erden bestärkt sie noch in ihrem Tun, das von der Ungerechtigkeit lebt.
Der im Himmel wohnet, lachet ihrer, und der Herr spottet ihrer. Dann redet Er zu ihnen in seinem Zorne und verwirret sie in seinem Grimme [Ps 2,4-5]. Wie gerechtfertigt ist der Zorn Gottes! Wie berechtigt sein Grimm und wie groß sein Erbarmen!
Ich aber bin als König von Ihm über Sion gesetzt, seinen heiligen Berg, und verkündige sein Gesetz. Der Herr hat zu mir gesagt: Du bist mein Sohn, heute habe ich dich gezeugt [Ps 2,6-7], Gott, unser Vater, hat uns in seinem Erbarmen seinen Sohn zum König gegeben, Er droht und ist zugleich mild; Er kündigt uns seinen Zorn an und schenkt uns seine Liebe. Mein Sohn bist Du: Er wendet sich an Christus, und wendet sich an dich und an mich, wenn wir uns dazu entschließen, alter Christus, ipse Christus zu sein.
Die Sprache vermag nicht mehr auszudrücken, was das Herz angesichts der Güte Gottes empfindet. Er sagt zu uns: Du bist mein Sohn; nicht ein Fremder, nicht ein Knecht, den man gütig behandelt, nicht ein Freund – das wäre schon viel –, ein Sohn! Er ebnet uns den Weg, Ihm mit der liebenden Ehrfurcht eines Sohnes zu begegnen – ja, ich wage zu sagen – auch mit der Unbekümmertheit eines Sohnes gegenüber seinem Vater, der es nicht übers Herz bringt, ihm eine Bitte abzuschlagen.

186 Aber die vielen, die im Unrecht verharren, möchtest du einwenden. Ja, doch der Herr ermuntert uns ausdrücklich: Begehre von mir, so will ich dir geben die Heiden zu deinem Erbe, und zu deinem Eigentume die Enden der Erde. Du wirst sie beherrschen mit eisernem Zepter und wie Töpfergefäß sie zertrümmern [Ps 2,8-9]. Es sind harte Verheißungen, und sie kommen von Gott: Wir können sie nicht überhören. Nicht umsonst ist Christus der Erlöser der Welt, und Er herrscht erhaben zur Rechten des Vaters. Diese Worte sind eine furchtbare Ankündigung dessen, was einen jeden erwartet, wenn sein Leben vorüber ist – und es geht vorüber –, was uns alle am Ende der Geschichte erwartet, falls das Herz sich im Bösen und in der Verzweiflung verhärtet.
Gott, der immer Sieger sein könnte, zieht es vor zu überzeugen: Und nun, ihr Könige, versteht; laßt euch weisen, die ihr Richter seid auf Erden! Dienet dem Herrn in Furcht und frohlocket Ihm mit Zittern! Ergreifet die Zucht, daß nicht etwa zürne der Herr, und ihr zum Untergange gehet vom rechten Wege [Ps 2,10-13]. Christus ist der Herr, der König: Und so bringen wir euch die frohe Botschaft: Die Verheißung, die an die Väter erging, diese hat Gott uns, ihren Kindern, erfüllt, indem Er Jesus auferweckte. So heißt es im zweiten Psalm: Mein Sohn bist du, ich habe dich heute gezeugt…
Darum sei euch, Brüder, kundgetan, daß durch Jesus euch Vergebung der Sünden verkündet wird. Durch Ihn wird jeder, der glaubt, von allem gerechtfertigt, wovon ihr im Gesetze Moses nicht gerechtfertigt werden konntet. Gebt darum acht, daß auf euch das Prophetenwort nicht zutreffe: Seht, ihr Verächter, staunt und vergeht! Ich vollbringe in euren Tagen ein Werk, das ihr nicht glaubt, wenn man es euch erzählt
[Apg 13,32-33; 38-41].
Das ist das Werk der Erlösung, das Reich Christi in den Seelen, der Ausdruck des göttlichen Erbarmens. Selig alle, die vertrauen auf Ihn! [Ps 2,13] Wir Christen haben das Recht, die Königswürde Christi zu lobpreisen; denn obwohl gewaltige Ungerechtigkeit herrscht und viele dieses Reich der Liebe nicht wollen, schreitet das Werk der göttlichen Erlösung in der menschlichen Geschichte, dem Schauplatz des Bösen, voran.

Die Engel Gottes

187 Ego cogito cogitationes pacis et non afflictionis [Jer 29,11], ich denke Gedanken des Friedens und nicht des Unheils, sagt der Herr. Seien wir Menschen des Friedens, Menschen der Gerechtigkeit, verwirklichen wir das Gute! Dann wird der Herr für uns nicht Richter sein, sondern Freund, Bruder, die Liebe.
Mögen uns die Engel Gottes auf diesem irdischen Weg – der ein Weg der Freude ist – begleiten. Vor der Geburt unseres Erlösers, schreibt der heilige Gregor der Große, hatten wir die Freundschaft der Engel verloren. Die Erbsünde und unsere täglichen Sünden hatten uns von der leuchtenden Reinheit entfernt… Doch seit dem Augenblick, da wir unseren König wieder anerkannt haben, haben uns auch die Engel wieder als Mitbürger anerkannt.
Und da der König des Himmels unser irdisches Fleisch annehmen wollte, fühlen sich die Engel von unserer Erbärmlichkeit nicht länger abgestoßen. Sie wagen es nicht, diese Natur, die sie anbeten und in der Person des Königs des Himmels gepriesen sehen, geringer als ihre eigene zu schätzen. Und sie halten es für durchaus angemessen, im Menschen einen Gefährten zu sehen
[Gregor der Große, In Evangelia homiliae, 8, 2 (PL 76, 1104)].
Maria, die heilige Mutter unseres Königs, die Königin unseres Herzens, umsorgt uns, wie nur sie es zu tun weiß. Erbarmungsvolle Mutter, Sitz der Gnade, wir bitten dich, hilf uns, unser Leben und das unserer Mitmenschen Vers um Vers wie ein schlichtes Lied der Liebe zu verfassen, quasi fluvium pacis [Is 66,12], wie einen Strom des Friedens. Denn du bist ein Meer unendlichen Erbarmens: Alle Ströme laufen ins Meer, doch das Meer füllt sich nie [Prd 1,7].